Das Vertrauen in den Staat geht bei vielen Menschen gerade gegen Null. Selbst wenn sie das mit dem Impfen und Testen irgendwann hinbekommen: Bund und Länder müssen jetzt beweisen, dass sie noch in der Lage sind, die Zukunft zu gestalten. Eine bessere Gelegenheit als die Reform des Bildungsföderalismus werden sie dafür nicht bekommen.
Fast alle Fraktionen im Bundestag sind für mehr Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Bildung. Auch wenn sich in den Ländern manche noch zieren: Die Zeit für den großen Bildungswurf ist jetzt. Foto: Times, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.
BUND UND LÄNDER wollen Deutschlands Schülern eine "Lernmilliarde" gönnen. Vielleicht werden es auch zwei, die Verhandlungen laufen noch. Allen Schülerinnen und Schülern, bei denen durch die Corona-Schulschließungen besonders große Lernlücken entstanden sind, sollen "Lernangebote" gemacht werden. Dafür wollen Bund und Länder Lehramtsstudierende engagieren, Freiwilligendienstleistende, sie wollen bestehende Mentoring-Initiativen unterstützen und vieles mehr. SPD-Chefin Saskia Esken spricht von einer "Kraftanstrengung" für die junge Generation.
Rechnen wir mal kurz und nehmen dabei optimistisch den höheren Betrag. Zwei Lernmilliarden würden etwa 2,5 Prozent der Gesamtausgaben von Bund und Ländern pro Jahr für alle öffentlichen Schulen entsprechen. Nach einem Schuljahr, an dessen Ende die meisten Schüler 50 Prozent und mehr ihrer Unterrichtszeit zu Hause verbracht haben werden.
Sicher, viele Länder haben noch eigene Nachhilfeprogramme aufgelegt, doch selbst ein paar hundert Millionen zusätzlich lassen nur folgende Frage zu: Hat die junge Generation wirklich ein so schlechtes Standing, dass Politiker:innen, die angesichts einer Bildungskrise ungeahnten Ausmaßes einmalig zwei, drei Prozent mehr herausholen wollen, bereits nationale Kraftanstrengungen beschwören müssen?
Was diese Bezeichnung wirklich verdienen würde: Wenn Bund und Länder, wenn Regierung und Opposition unter dem Eindruck der bildungs- und sozialpolitischen Verwerfungen der vergangenen zwölf Monate das routinierte wie folgenlose Gerede von der überfälligen Reform des Bildungsföderalismus beenden würden. Und sie stattdessen noch vor der Bundestagswahl angehen würden. Die Zwei-Drittel-Mehrheit für die Grundgesetzänderung dürfte, wenn die Beteiligten es ernst meinen, eigentlich kein Problem sein. Zumal viel Wichtiges auch ohne ginge. Nur müssten sich Kanzlerin und Regierungschefs dafür auch einmal über so viele Stunden einschließen, wie sie es auch heute wieder für ihre neuen Corona-Beschlüsse tun werden.
Schluss mit dem Stückwerk immer
neuer Not- und Hilfsprogramme
Was die Reform des Bildungsföderalismus beinhalten müsste: dass Bund und Länder endlich Schluss machen mit dem Stückwerk immer neuer Not- und Hilfsprogramme. Dass sie stattdessen dauerhaft die Finanzierung des Schulbaus untereinander aufteilen, denn derzeit sind das Äußere und Innere vieler Bildungseinrichtungen allzu deutliche Belege für ihren politischen Stellenwert.
Zur Reform des Bildungsföderalismus würde auch die Entfristung des Digitalpakts auf dem jetzigen Niveau gehören, inklusive der dauerhaften Finanzierung von Systemadministratoren in den Schulen. Nicht weniger wichtig: die vollständige Absicherung der Lernmittelfreiheit für alle Kinder aus einkommensschwachen Familien durch den Bund, wobei wir von Schulbüchern genauso reden wie von Schülerlaptops und der Finanzierung von Datenflatrates. Ob die Länder die Lernmittelfreiheit auf alle Einkommensgruppen ausdehnen wollen, bliebe ihre Entscheidung. Und schließlich die dauerhafte und gemeinsame Finanzierung der digitalen Lehrer(fort)bildung, wie sie durch die versprochenen "Digitalen Kompetenzzentren" angelegt ist.
Ja, das wird den Bund so viel kosten, dass Saskia Esken ihrer Formulierung mit Recht beliebig oft wiederholen dürfte.
Und was ist mit den Ländern? Sie müssen mit dem durchschaubaren Gefeilsche um Umsatzsteuerpunkte aufhören, um an mehr Steuermittel zu kommen. Wenn es ihnen mit dem Vorrang für Bildung ernst ist, müsste ihnen der oben skizzierte Weg tatsächlich sogar sehr recht sein. Den Kultusministern sowieso. Die müssten sich im Gegenzug für das Bundesgeld allerdings dazu verpflichten, den in ihrem neuen Bildungsabkommen versprochenen Fahrplan zu transparenten Schulleistungsvergleichen und mehr Vergleichbarkeit der Schulabschlüsse deutlich schneller und weiter zu gehen. Keiner braucht ein Bundeszentralabitur, aber genauso wenig braucht Deutschland immer neue föderale Sondernummern.
Das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Staates geht gerade bei vielen Menschen gegen Null. Selbst wenn sie das mit dem Impfen und Testen irgendwann dann doch mal hinbekommen: Bund und Länder müssen jetzt beweisen, dass sie noch in der Lage sind, die Zukunft zu gestalten. Eine bessere Gelegenheit als die Reform des Bildungsföderalismus werden sie dafür nicht bekommen.
Der Kommentar erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
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Jörg Abke (Montag, 22 März 2021 10:16)
Lieber Herr Wiarda,
ich stimme Ihnen in nahezu allen Punkten, nur den Beweis, dass es Bund und Länder mit der zukunftsweisenden Bildung ernst meinen, hätten diese bereits schon lange erbringen können. Auch ohne Pandemie und auch ohne Vertrauensverlusten bis nahe Null.
Seit Jahren (oder gar Jahrzehnten?) werden unterdurchschnittliche Ausgaben lt. OECD in Deutschland gemessen am BIP getätigt.
Es bleibt weiter spannend. Ach ja, Danke für Ihren wieder einmal guten Kommentar.
Udo Michallik (Dienstag, 30 März 2021 10:34)
Es hilft auch nicht weiter, die alten Stereotypen zu bemühen und die ewig strapazierten gegensätzlichen Wortpaare wie bspw. Zentralismus vs. Föderalismus zu bemühen. Sie sind die Gewähr dafür, dass alles so bleibt, wie es ist. Denn, sie lösen Pawlowsche Reflexe aus. Bestätigen oder widerlegen uns in die eine wie in die andere Richtung.
Wir hinterfragen nicht uns selbst. D.h. was ist uns in der gesellschaftlichen Debatte wichtig? Wohin fließen unsere Steuergelder? Wie wichtig ist das höhere Kindergeld oder wie wichtig ist gute Bildung? Solange, wie wir nicht verstehen, dass gute Bildungspolitik die beste Sozialpolitik ist, solange bauen wir das Sozialsystem aus und lassen in der Bildungspolitik alles so wie es ist. Das ist nur ein Widerspruch. Dieser zieht sich aber durch alle Politikbereiche.
Wir hinterfragen nicht das System! Damit meine ich nun nicht Zentralismus vs. Föderalismus. Das ist eine völlig nebensächliche Frage und Nebelkerze. Aber: wie bürokratisch ist Bildungsverwaltung? Was muss sie regeln, was können die Schulen besser? Wieviel Freiheit und Unterstützung in welcher Form braucht eine gute Schule? Solche Fragen zu klären braucht mehr Mut, Anstrengungsbereitschaft, Kreativität und Verzichts- und Verantwortungsbereitschaft von (aktiven) Beamten, Eltern und Lehrkräften als im ewig Gestrigen herumzurühren und immer die gleichen Tasten zu drücken.