· 

Ein ratloses Papier, das ratlos macht

Was die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten in der Nacht beschlossen haben, zeigt: Deutschland ist in der dritten Corona-Welle gefangen ohne Plan.

Bild: Gerd Altmann / Pixabay.

NACH EINEM JAHR CORONA-KRISENRUNDEN dachte ich tatsächlich, auch als Journalist so etwas wie Berichtsroutine entwickelt zu haben. Doch das, was Angela Merkel, Markus Söder und Michael Müller heute Nacht um kurz nach halb drei der Öffentlichkeit präsentiert haben, lässt mich ratlos zurück. Womit ich als Berichterstatter den Kern des Papiers dann wohl doch recht zuverlässig erfasst habe. 

 

Ratlos bin ich, weil ich mich frage, wieso es eine Marathonsitzung erfordert, die immer wieder unterbrochen den halben Tag und die halbe Nacht dauert, um dann so wenig Ergebnis zu präsentieren. Fast könnte man meinen, die Regierungschefs seien der Auffassung gewesen, wenn sie schon inhaltlich so wenig abliefern, dann müssten sie zumindest lang dafür brauchen.

 

Jedenfalls enthalten die sieben Seiten Beschlusstext, und da hat der Tagesspiegel-"Checkpoint" heute Morgen Recht, weder den von Söder behaupteten "klaren Kurs" noch den von Müller entdeckten "Paradigmenwechsel in der Pandemiebekämpfung". Stattdessen geht es so weiter wie bisher, nur noch ungefährer und mit noch mehr föderalen Öffnungsklauseln.

 

So könne man nicht vor die Öffentlichkeit treten, hatte Merkel gestern am frühen Abend gesagt, bevor die Runde in eine längere Pause ging. Woraufhin man sich für den Beschluss dann doch ein symbolisches Stück harten Lockdown abrang. Genau fünf Tage soll er dauern und schon am Gründonnerstag beginnen, der zusammen mit dem Ostersamstag einmalig als "Ruhetag" definiert wird. Fünf Tage, an denen das öffentliche Leben weitgehend ruhen soll oder, wie es im Beschlusspapier blumig-digitalsprachig heißt: "Es gilt dann an fünf zusammenhängenden Tagen das Prinzip #WirBleibenZuHause".

 

Das mit dem "harten Lockdown" reicht nur
noch für eine schnelle Online-Schlagzeile

 

Aber schon was genau "Ruhetage" bedeuten, buchstabierte die Runde föderal-flexibel nicht weiter aus. So, wie auch die vermeintlich so "weitgehenden Kontaktbeschränkungen" auch über die Feiertage in Wirklichkeit zulassen, dass sich bis zu fünf Erwachsene aus zwei Haushalten mit beliebig vielen Kindern bis 14 Jahre treffen können. Kann man machen. Aber dann reicht das mit dem "harten Lockdown" über Ostern eben nur noch für eine schnelle Online-Schlagzeile. Aber mittlerweile sehen viele Regierungschefs vermutlich schon eine solche Berichterstattung als Erfolg für ihre Runde. 

 

Ein Erfolg wäre tatsächlich, wenn Bund und Länder es schafften, wie im Papier angekündigt, die Kirchen zu rein virtuellen Gottesdiensten zu überreden. Mehr als einen Appell soll es aber nicht geben. 

 

Und sonst? Beschlossen die Regierungschefs, dass das, was sie vor einigen Wochen beschlossen haben, gelten soll. Sprich: Die "Notbremse" tritt in einem Land oder in einer Region am zweiten Werktag in Kraft, nachdem die dortige 7-Tages-Inzidenz zuvor drei Tage lang über 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern gelegen hat. Sie solle "konsequent" umgesetzt werden. Was genau das bedeutet? Dass dann die bis zum 7. März geltenden Regeln wieder in Kraft treten sollen. Erinnern Sie sich noch daran, welche das waren? Genau.

 

Die Regierungschefs beschlossen, dass in Landkreisen mit einer 7-Tages-Inzidenz von über 100, also demnächst so ziemlich überall, "weitergehende Schritte" umgesetzt werden sollen. Welche? Hier gibt es wieder nur eine föderal-offene Stoffsammlung. Das Tragen medizinischer Masken im Auto zum Beispiel, wenn man mit Menschen aus anderen Haushalten unterwegs ist. Nicht näher definierte Ausgangsbeschränkungen, ebenso wenig eindeutig beschriebene "verschärfte Kontaktbeschränkungen" und so weiter. Anders formuliert: Jeder macht, was er will. Hauptsache, er tut irgendwas.

 

Warum viele Mittelstufenschüler vermutlich
noch viel länger zu Hause hocken werden 

 

Interessanterweise gibt es eine Passage, die auffällig eindeutig klingt. Und das hat meines Erachtens einen Grund. Mit Verweis auf die Anfang März vereinbarten Öffnungsschritte ab einer "stabilen oder sinkenden 7-Tages-Inzidenz" von unter 100 wird betont: "Zusätzliche Öffnungen bei exponentiellem Wachstum der Neuinfektionszahlen scheiden also auch unter dieser Inzidenzschwelle aus."


Weil den Ländern an anderer Stelle aber "im Rahmen von zeitlich befristeten Modellprojekten" in ausgewählten Regionen "mit strengen Schutzmaßnahmen und einem Testkonzept" erlaubt wird, einzelne Bereiche des öffentlichen Lebens zu öffnen (gemeint sind natürlich vor allem die Gastronomie und die Kultur), kann ich die eben zitierte Passage (keine zusätzlichen Öffnungen) nur in Bezug auf die Schulen verstehen. Denn dort befinden sich die meisten Schülerinnen und Schüler noch immer im Wechselunterricht oder, wenn sie die Mittelstufe besuchen, zu einem großen Teil noch immer vollständig im Distanzmodus.

 

Und das wird, wenn es nach dem Papier geht, auch die Wochen nach Ostern so bleiben. Womit viele Siebt-, Acht- oder Neunklässler seit mehr als vier Monaten die Schulen nicht mehr von innen gesehen haben werden. Was, wenn es so kommt, einmal mehr das dramatische Versagen des Staates bei der Umsetzung der Bildungs- und Teilhaberechte der jungen Generation bedeuten würde. Mehrere Umfragen belegten zuletzt, dass keine Altersgruppe so unglücklich ist zurzeit wie die Jugend. Kein Wunder. Und den Regierungschefs ist die Verlängerung dieses Zustandes für die Kinder und Jugendlichen noch nicht einmal einen expliziten Satz wert.

 

An anderer Stelle muss man als Bildungsjournalist dagegen fast erleichtert sein, dass Kanzlerin und Ministerpräsidenten nicht zu explizit geworden sind. Ein Entwurf der Beschlussvorlage hatte Kitas und Schulen bei einer Inzidenz von über 100 noch schließen wollen, wenn nicht alle Kinder und Erwachsenen in den Bildungseinrichtungen zweimal die Woche auf eine Corona-Infektion getestet werden. Warum das zum nächsten Fiasko geführt hätte, hatte ich in einem Artikel gestern beschrieben. Im Beschluss von heute Nacht heißt es jetzt nur noch: "In den Ländern werden derzeit mit der steigenden Verfügbarkeit von Schnell- und Selbsttests flächendeckende Tests in Schulen und Kitas eingeführt". Und: "Es werden baldmöglichst zwei Tests pro Woche angestrebt."

 

Bund und Länder hätten sich zur Testpflicht
in Kitas und Schulen verpflichten müssen

 

Soll heißen: Die Kitas und Schulen können jetzt auch offen bleiben, wo die Tests noch nicht ausreichend verfügbar sind. Allerdings, siehe oben, weiter öffnen dürfen sie wohl nicht. 

 

Wobei bei weiterem Nachdenken dann doch die Enttäuschung die Erleichterung überwiegt, denn die Regierungschefs haben sich auch hier auf die zweitschlechteste Lösung geeignet. Würden sie es ernster damit meinen, mehr Sicherheit und das Recht auf Bildungsteilhabe zeitnah zusammenzubringen, hätten sie eine Selbstverpflichtung in das Dokument geschrieben.

 

Etwa so: "Bund und Länder verpflichten sich, bis Mitte April genügend Tests für die Testung aller Angehörigen von Kitas und Schulen zweimal die Woche zur Verfügung zu stellen." Und: "Bis zu dem Sommerferien übernimmt der Bund dafür die Bereitstellung und die Kosten." Denn die werden, wenn die Tests tatsächlich umgesetzt werden, bei bis zu 100 Millionen Euro pro Woche allein für die Schulen liegen. Und nun die Preisfrage: Haben die meisten Ministerpräsidenten die Bildung in ihren Bundesländern so sehr priorisiert in den vergangenen Corona-Monaten, dass sie jetzt pro Monat allein für Schultests fast so viel zahlen werden, wie der Länderanteil des Digitalpakts für die gesamten fünf Jahre umfasst? Oder werden sie versuchen, bei der Zahl und Frequenz der Tests zu drehen?

 

Die Impfung von Erzieherinnen sowie von Grundschul- und Förderlehrkräften soll weiter forciert werden. Von den Lehrkräften weiterführender Schulen steht da nichts. Von den Hochschulen übrigens zum wiederholten Male auch nichts, kein einziges Wort. 

 

Appelle, Bitten und das
Fehlen von Perspektiven

 

Ansonsten viele Appelle: an die Unternehmen, möglichst viele ihrer Mitarbeiter von zu Hause arbeiten zu lassen und sich bitte an ihre Selbstverpflichtung zu halten, den Präsenzbeschäftigten "regelmäßige Testangebote" zu machen. Mit regulatorischen Handlungsbedarf, falls die Unternehmen nicht selbst genug tun, wird nur sanft gedroht. Währenddessen werden die Bürger gebeten, auf nicht zwingend notwendige Reisen im In- und Ausland zu verzichten. Fluglinien werden aufgefordert, dass sie konsequent vor dem Rückflug nach Deutschland testen und, haha, auf eine weitere Ausweitung der Flüge während der Osterferien verzichten. Eine generelle Testpflicht vor Abflug zur Einreisevoraussetzung bei Flügen nach Deutschland soll zwar gesetzlich kommen, aber wann? 

 

Nein, insgesamt macht das gestern beschlossene Paket weder das eine noch das Andere. Es wird die in der Dritten Welle rasant steigenden Corona-Zahlen nicht senken. Es öffnet aber auch keine wirkliche Perspektive für die Gesellschaft und die Wirtschaft, aus den Beschränkungen herauszukommen. Es schließt offiziell nicht die Schulen und Bildungseinrichtungen, es zeigt aber auch keine belastbare Perspektive auf, wie sie wieder wirklich öffnen können.

 

Den Regierungschefs ist in der Corona-Politik jedes Narrativ abhanden gekommen. Ein ratloses Papier, das ratlos macht. 



Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    Django (Dienstag, 23 März 2021 09:49)

    Sie haben recht, es ist enttäuschend. Ich gehöre zu dem kleinen Kreis von Menschen, die sich innerhalb von drei Minuten Eintrittskarten für das "Testkonzert" in der Berliner Philharmonie sichern konnten. Neben dem künstlerischen Wert (es war ein tolles Konzert!) steht die Erkenntnis, dass es funktionieren kann, sogar in Berlin. Reduzierte Platzzahl, Schnelltest am gleichen Tag, gute Lüftungsanlage - wo ist das Problem? Gleiches gilt für "Einkaufen mit Termin". Man kann einen aktuellen Schnelltest zur Bedingung machen etc. Wo ist das Problem?
    Ich gehöre nicht zu denen, die die Pandemie nicht ernst nehmen. Mir fehlt hier aber ein konkretes Ziel. Gesundheitssystem nicht überlasten? Zero Covid? Das sind sehr verschiedene Ziele, die verschiedenen Maßnahmen erfordern. Und wenn man die Maßnahmen nicht vom Ziel her denkt, wird das nichts.

  • #2

    Working Mum (Dienstag, 23 März 2021 14:10)

    Eine Anmerkung: Bis zu zehn Erwachsene aus zwei Haushalten stimmt m.E. nicht, sondern die Zahl der Erwachsenen ist bei gemeinsamer Betrachtung der beiden Haushalte auf max. fünf beschränkt.

  • #3

    Jan-Martin Wiarda (Dienstag, 23 März 2021 14:30)

    @Working Mum: Vielen Dank für den Hinweis. Sie haben Recht. Ich habe die falsche Zahl geändert.