· 

Erwachsenen-, wirtschafts- und immer noch zu virusfreundlich

Wie der Bund die Corona-Eindämmung vereinheitlichen will – und warum so erneut die Kinder die größten Einschränkungen hinnehmen müssten.


Verzeihung! Hier ist im Newsletter ein Fehler bei der Verlinkung unterlaufen. Über den grauen Button gelangen Sie mit einem Klick zum richtigen Artikel. 


Foto: StockSnap / Pixabay.

ANSTATT IMMER NEUER MPK-KRISENRUNDEN nun also die Änderung des Infektionsschutzgesetzes: Das Mittel, mit dem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre Mitstreiter die Länder auf Corona-Linie bringen wollen, ist neu. Die Inhalte, die vor dem Wochenende in der 14-seitigen "Formulierungshilfe der Bundesregierung" für die Regierungsfraktionen standen, waren dagegen altbekannt. Genauso wie die Schieflage in der Pandemiebekämpfung, die sie noch verstärken würden.

 

Was gut ist an dem 

Reform-Entwurf

 

Um mit dem Positiven anzufangen: Das reformierte Infektionsschutzgesetz würde endlich den überfälligen bundesweit gleichen, transparenten und verlässlichen Rahmen schaffen in Abhängigkeit von den regionalen Inzidenzen. Zuletzt wusste doch kaum noch jemand, was in welchem Bundesland zu welchem Zeitpunkt galt. Zumal verschiedene Ministerpräsidenten durch ihre Relativierung oder gar die offene Missachtung der vereinbarten Notbremse den doppelten Vertrauensverlust verstärkten: gegenüber den Regeln, die hier galten und dort nicht – trotz mitunter vergleichbarem Pandemiegeschehen. Und gegenüber Spitzenpolitikern, die inmitten der dritten Welle offensichtliche Machtspielchen verfolgen. 

 

Positiv ist auch, dass der Infektionsschutzgesetz-Reformentwurf schon ab einer Inzidenz von 100 nächtliche Ausgangssperren für alle vorsieht – ein umstrittenes Instrument, keine Frage. Aber vor allem auch eines, dass die Erwachsenen in die Pflicht nimmt und einmal nicht die Kinder. In der zweiten Welle galt noch die 200 als Untergrenze – viel zu hoch und dadurch weitgehend unwirksam. Andere Länder in Europa haben weitgehende Ausgangssperren schon viel früher praktiziert – und vor allem lange vor oder sogar anstelle der Schließungen von Kitas und Schulen. 

 

Die einseitige Linie 

der Bundesregierung

 

Das war es dann aber mit dem Positiven. Denn ansonsten steht der von der Bundesregierung ausgearbeitete Maßnahmenkatalog für eine Linie, die bisher bei fast jeder Krisenrunde mit den Ministerpräsidenten die Verhandlungsposition der Bundesregierung war – und dort lange und zu Recht auf erbitterten Widerstand stieß. Das Problem war allerdings, dass die Länder nicht in der Lage waren, tragfähige und konsequente Alternativen zu entwickeln – weshalb sie sich überhaupt erst in die jetzige Lage hineinmanövriert haben.

 

Die Linie der Bundesregierung lässt sich so beschreiben: Familien und Kinder einseitig belasten, viele Unternehmen, die Industrie und Religionsgemeinschaften dagegen schonen. 

 

Familien und Kinder einseitig belasten: NRW-Ministerpräsident Laschet hat es gerade erst vorgemacht. Die Schulen müssen im größten Bundesland mindestens diese Woche fast komplett geschlossen bleiben (bis auf Abschlussklassen), weil Laschets Landesregierung nicht in der Lage war, rechtzeitig genügend Tests zu besorgen. Die dieselbe Landesregierung aber von den Schülern als Voraussetzung für den Schulbesuch verlangt. 

 

Geht es nach dem Infektionsschutzgesetz-Entwurf, würde das demnächst bundesweit so laufen: Ab einer Inzidenz von 100 aufwärts sind Kitas, Schulen und Hochschulen dicht. Es sei denn: Mindestens zweimal die Woche wird verpflichtend getestet. Dann kann es Präsenz bis zu einer Inzidenz von 200 geben.

 

Exakt diese Regelung stand übrigens im Beschlussentwurf für die letzte Bund-Länder-Runde – und flog dann zu Recht raus. Denn solange Bund und Länder sich nicht gleichzeitig verpflichten, genügend Tests zur Verfügung zu stellen, hängt es in der Coronakrise künftig von Glück und dem Wohnort ab, ob Kinder zumindest in den Wechselunterricht gehen können. Noch absehbarer würde eine solche Bestimmung übrigens die flächendeckende Schließung von Kitas bedeuten. Denn dass alle 0- bis 6-Jährigen in absehbarer Zeit zweimal die Woche getestet werden, erscheint komplett ausgeschlossen. 

 

Das Notbetreuungs-Schlupfloch 

wird geschlossen

 

Und weil die Bundesregierung das weiß, will sie durch das Gesetz auch gleich noch ein von den Ländern gern genutztes Schlupfloch schließen: Die alternative Notbetreuung in Kitas und Schulen darf maximal 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen umfassen – was das Aus für großzügige Regelungen wie in Bremen und anderswo bedeuten würde.

 

Unternehmen, Industrie und Religionsgemeinschaften schonen: Gottesdienste dürfen weiter stattfinden, wenn Religionsgemeinschaften das wollen – obwohl religiöse Versammlungen und Kontakte in der Vergangenheit immer wieder zu Infektionsclustern führten. Doch wird die Religionsfreiheit höher eingestuft als das Bildungs- und Teilhaberecht von Kindern und Jugendlichen. 

 

Und nicht nur die Religionsfreiheit, denn das ist das eigentlich Krasse an dem Gesetzentwurf: Während die meisten Schüler seit Monaten maximal Wechselunterricht haben oder ganz zu Hause bleiben müssen, soll es für Unternehmen auch weiter keinerlei Verpflichtung geben, eine bestimmte Homeoffice-Quote einzuhalten. Und während Kinder sich zweimal die Woche testen lassen müssten, um in ihre Kitas und Schulen zu dürfen, müssten Arbeitgeber ihren Mitarbeitern noch nicht einmal verpflichtend Tests anbieten (Update vom 13. April siehe unten). Von einer Testpflicht vor dem Gang zur Arbeit ganz zu schweigen. All das brauche es nicht, meint Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Es sei "erstaunlich", wie viel bereits auf freiwilliger Basis in den Firmen erreicht worden sei, da werde freiwillig noch mehr gehen. 

 

Zum Glück ist an der Stelle noch Bewegung. Denn im Gegensatz zu Altmaier will Finanzminister Olaf Scholz (SPD) sehr wohl eine bundesweite Corona-Testpflicht in Unternehmen. Dass gegenwärtig sechs von zehn Beschäftigten ein Angebot erhielten, sich regelmäßig testen zu lassen, sei deutlich zu wenig, sagte Scholz der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. "Unsere Vereinbarung zielte auf eine Testquote von 90 Prozent." Eine Pflicht für Unternehmen müsse Bestandteil der Corona-Beschlüsse nächste Woche sein – allerdings nur für Unternehmen. Von einer Homeoffice-Quote oder einer Testpflicht für Beschäftigte als Voraussetzung für den Arbeitsplatzbesuch sagt auch Scholz nichts. 

 

Erwachsene machen 

80 Prozent der Kontakte aus

 

Gut ist, dass die Formulierungshilfe den Ländern die Gelegenheit lässt, jeweils für sich stärkere Regeln zu beschließen. Doch an dem Eindruck der drohenden Schieflage auf Bundesebene ändert das nichts: Das reformierte Infektionsschutzgesetz wird, wenn es in dieser Form durchgehen sollte, so einseitig wie epidemiologisch unzureichend sein. Denn Erwachsene sind mindestens so ansteckend wie Kinder, sie machen noch dazu 80 Prozent der Bevölkerung und der Kontakte aus, und in Unternehmen wurden seit Beginn der Pandemie deutlich mehr Ausbrüche festgestellt als in Schulen und Kitas. 

 

Wobei zur Fairness dazugehört, hier deutlich zu differenzieren: Kleinunternehmer, Gastronomen, Ladenbesitzer und Kulturschaffende leiden seit vielen Monaten unter einem Dauer-Shutdown und damit ebenso stark wie viele Familien. Doch leiden auch sie umso länger, wie ein Großteil der Wirtschaft eben nicht genauso in die Verantwortung genommen wird.

 

Geschlossen sein und bleiben sollen nach Vorstellung der Bundesregierung auch Zoos, Indoorspielplätze, Schwimmbäder, Sportvereine (natürlich im Gegensatz zu Profi-Sport!) oder Jugendclubs: kommerzielle wie öffentlich finanzierte Kultur- und Freizeiteinrichtungen, die für die geistige Anregung und als soziale Treffpunkte gerade für die Kinder besonders wichtig sind. 

 

Betrachtet werden vor allem 

die "wirtschaftlichen Belastungen"

 

Doch auch hier findet die Formulierungshilfe des Bundes in den dazu gehörenden Erläuterungen keinerlei einfühlsame Worte. "Die durch die zeitweise Schließung von Freizeiteinrichtungen entstehenden Einnahmeeinbußen und die wirtschaftlichen Belastungen werden durch wirtschaftliche Kompensationsprograme erheblich abgemildert, so dass sich die Beeinträchtigungen in Abwägung mit dem Ziel einer Reduzierung von Infektionszahlen in einer volatilen Pandemielage als angemessen darstellen", heißt es lediglich. 

 

Und was ist mit den nichtwirtschaftlichen Belastungen für Kinder und ihre Familien? Sie werden nicht erwähnt. Was ebenso erschütternd ist, wie wenn die Formulierungshilfe mit Hinweis auf Notbetreuung und Digitalunterricht "die nachteiligen Folgen für die Betroffenen" für "abgefedert" erklärt und die "verbleibenden Einschränkungen", die sich durch die Notwendigkeit der Betreuung eigener Kinder ergäben, als "im Rahmen der gebotenen Abwägung hinzunehmen" bezeichnet. 

 

Wo ist, will man fragen, die gebotene Abwägung, wenn es um Arbeitgeber- und Arbeitnehmerpflichten geht? 

 

Fragen, die sich die Abgeordneten 

jetzt stellen müssen

 

Die Testpflicht in den Schulen ist, wenn sie als Voraussetzung die Pflicht zur Bereitstellung genügender Tests durch Bund und Länder hat, richtig. Wechsel- oder Distanzunterricht kann unter bestimmten, eng gefassten Umständen nötig und vertretbar sein. Aber genauso und umso mehr müssen drastische Regeln, wenn sie Kindern und Jugendlichen aufgezwungen werden, doch auch für die Erwachsenen gelten. Übrigens nicht nur in den Büros und Fabriken, sondern auch beim Gang zum Friseur. Doch Haareschneiden würde laut Infektionsschutzgesetz weiter ohne Test gehen.

 

Wenn die Politik drastische Einschränkungen beschließt, seien es Kinder, Familien oder Kulturschaffende, muss sie es für alle tun. Sonst verstößt sie gegen den Grundsatz, die Einschränkungen von Grundrechten so kurz wie möglich zu halten. In ihrer jetzigen Form allerdings stellen sich, wenn man die Vorschläge der Bundesregierung liest, zwei Fragen überdeutlich: Wie kann es in einem Sozialstaat akzeptabel sein, so offensichtlich mit zweierlei Maß zu messen? Und was sagt eine solche Einseitigkeit und Inkonsequenz eigentlich über die Verfasstheit einer Gesellschaft aus? 

 

Es sind genau diese Fragen, mit denen sich die Abgeordneten der Regierungsfraktionen im Bundestag und die Landesregierungen im Bundesrat in den nächsten Tagen konfrontieren sollten.  

 

Update am 13. April:

Die Bundesregierung hat heute die Änderung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen und dabei nach heftigen Debatten auch eine "Testangebotspflicht" für Unternehmen eingefügt, die im ersten Entwurf noch nicht enthalten war. Allerdings: Nur im Ausnahmefall sind zwei Tests pro Woche und Beschäftigten als Angebot vorgesehen, ansonsten reicht einer. Und Arbeitnehmer müssen das Angebot zum Test nicht annehmen, auch eine Dokumentationspflicht soll es nicht geben. Es bleibt also eine Minimallösung: keine verpflichtende Homeoffice-Quote, keine Testpflicht für Mitarbeiter in Präsenz.

 

Jetzt sind Bundestag und Bundesrat dran. Die Fragen, mit denen sich beide vor einer Entscheidung konfrontieren sollten, bleiben dieselben.




Kommentar schreiben

Kommentare: 4
  • #1

    Gerald Brunken (Sonntag, 11 April 2021 13:36)

    Klare und schonungslose Einschätzung! Die Linie der Wirtschaft gegenüber wird sich nur dann ändern, wenn
    der unsägliche Lobbyismus für die Wirtschaft endlich
    beim Wirtschaftsminister ausgebremst wird.

  • #2

    Anonyme Mutter (Sonntag, 11 April 2021 19:32)

    Meine persönliche Sichtweise auf diese Politik: Alleinerziehend, arbeitssuchend, in meinem Bundesland bei geschlossenen Kitas ohne Recht auf Notbetreuung - diese Politik lässt mir seit Monaten keine Chance, mich aus unserer prekären Situation zu befreien. Mein Kind und ich sind offenbar nicht nur nicht systemrelevant, wir sind in dieser Gesellschaft gar nicht relevant.
    Die Lasten zur Bekämpfung der Pandemie werden extrem ungleich verteilt und es ist nicht absehbar, dass sich das ändern wird. Ich bin eigentlich nicht mehr bereit, die Last der anderen zu tragen. Aber eine Verordnung nach der anderen zwingt mich dazu.

    Ich habe keine Ahnung mehr, wen ich im September wählen soll.

  • #3

    Django (Montag, 12 April 2021 10:22)

    Ich stimme dem Beitrag #2 zu. Gehöre zwar zu den "DINKies" (double income, no kids). sitze im Home Office (öffentlicher Dienst - geht doch!), und leide "nur" darunter, dass Kino Konzert Theater Sportverein geschlossen sind. Aber wen ich wählen soll im Herbst? Da habe ich weder im Bund noch in Berlin eine Ahnung. Da Nicht-Wählen nicht in Frage kommt, muss ich mich wohl mal mit den "Kleinen" befassen, auch wenn das Risiko besteht, dass die Stimme dann doch im Müll landet.

  • #4

    Working Mum (Dienstag, 13 April 2021 07:28)

    Übrigens ist es längst nicht so, dass alle Arbeitgeber im öffentlichen Dienst die Testung ihrer Mitarbeitenden umgesetzt hätte, die der Staat jetzt von den Unternehmen fordern will.