Die Milliarden für Aufholprogramm, Ganztag und Bildungsplattform sind gut und überfällig, doch sollte sich keiner täuschen lassen: Die Politik zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen setzt sich fort.
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DIE BUNDESREGIERUNG IST gerade mächtig stolz auf sich. 5,5 Milliarden Euro für Kinder und Jugendliche hat sie vergangene Woche angekündigt. "Jedes Kind soll trotz und nach der Corona-Pandemie die bestmöglichen Chancen auf gute Bildung und persönliche Entwicklung erhalten", sagte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU). Ihre Kollegin, Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD), sah "ein klares Bekenntnis von uns als Bundesregierung: Wir unterstützen Kinder, Jugendliche und ihre Familien nach den harten Lockdown-Zeiten auf dem Weg zurück in einen geregelten Alltag und ein unbeschwerteres Aufwachsen."
Zwei Milliarden Euro – Giffey sprach pathetisch von "2000 Millionen" – fließen in das "Aktionsprogramm Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche" (siehe Kasten). Weitere 3,5 Milliarden gibt der Bund den Ländern, damit sie Schulen überall in der Bundesrepublik zu Ganztagseinrichtungen ausbauen können. Denn von August 2026 an sollen alle Erstklässler einen Anspruch auf ganztägige Betreuung haben, ab August 2029 dann jedes Grundschulkind bis einschließlich Klasse vier. Karliczek nannte den Rechtsanspruch einen "Meilenstein in der weiteren Modernisierung Deutschlands", Giffey einen möglichen "Gamechanger" für mehr Vereinbarkeit von Kindern und Karriere und für mehr Bildungsgerechtigkeit.
Nein, kleiner hatten es die beiden vergangene Woche nicht im Angebot. Und tatsächlich wird es sogar noch mehr Milliarden für die Bildung vom Bund geben, und zwar – was etwas ganz Neues ist – auf Dauer. Denn der Bund beteiligt sich auch an den laufenden Kosten für die Ganztagsbetreuung, von jetzt an jedes Jahr ein bisschen mehr – bis er 2030 bei 960 Millionen Euro angekommen ist. Pro Jahr. Jedes Jahr.
Und damit immer noch nicht genug: Ebenfalls erst vor einigen Tagen hat Anja Karliczek den, wie es in der BMBF-Pressemitteilung hieß, "Startschuss" für den Aufbau einer Nationalen Bildungsplattform gegeben. 150 Millionen Euro investiert das Ministerium allein in die Entwicklung von vier Prototypen. Wenn es nach Karliczek geht, wird die Plattform das ganz große Ding, das "Kernstück eines neuen digitalen Bildungsraums für Deutschland und einer Modernisierung der Bildung insgesamt" (siehe auch hierzu den Kasten unten).
Die Realität hinter
den Jubelmeldungen
Versucht die Bundesregierung, hier gerade etwas wiedergutzumachen nach all dem, was die Politik besonders Kindern und Familien in 15 Corona-Monaten zugemutet hat?
Zeit, all die Jubelmeldungen ein wenig abzuschichten. Erstens: Die zwei Milliarden Euro für das Aufholprogramm gibt es einmalig für zwei Jahre. Doch die Schäden, entstanden durch Kontaktverbote und die monatelange Schließung von Schulen, Vereinen und Jugendhilfeangeboten, werden danach nicht einfach weg sein. Keiner weiß, welche Kinder am meisten gelitten haben, wo die Lernrückstände am größten sind, und wie viele Kinder und Jugendliche deshalb dauerhaft auf zusätzliche Unterstützung angewiesen sind. Weshalb der Rahmen von zwei Milliarden beliebig angesetzt ist. Und vermutlich viel zu niedrig: Denn was nach viel Geld klingt, läuft heruntergerechnet pro allgemeinbildende Schule und Jahr gerade mal auf 15.000 Euro für Lernhilfen hinaus. Ganz davon zu schweigen, dass mit dem Geld kein einziger Euro des 30- oder 40-Milliarden-Sanierungsstaus im seit Jahrzehnten unterfinanzierten Schulsystem abgebaut ist. Trotz aller Sonntagsreden über die angebliche Bildungsrepublik.
Zweitens: So erfreulich – und überfällig – das Recht auf Ganztag ist samt den Milliarden, die der Bund dafür locker machen will: Dieses Versprechen hat, wie die Bundesregierung auch selbst betont, rein gar nichts mit Corona zu tun. Es stand bereits im GroKo-Koalitionsvertrag und sollte demzufolge schon bis 2025 verwirklicht werden, also sogar ein Jahr früher. Auch davon, dass die meisten Grundschüler bis 2029 warten sollen, stand im Koalitionsvertrag nichts. Zur Ehrenrettung ist zu sagen, dass darin allerdings auch nur zwei statt 3,5 Bundesmilliarden für Investitionen vorgesehen waren. Und die vom Bund versprochene Dauerfinanzierung ist für die Länder und Kommunen sehr, sehr wertvoll.
Drittens: Die Nationale Bildungsplattform, von der Heise Online schrieb, sie könne ein "großer Wurf" werden oder der "digitale BER-Flughafen der Bildungspolitik", kommt großartig daher, bleibt in ihrer Umsetzung aber komplett vage. Und auch die Frage, wer auf sie eigentlich gewartet hat, lässt sie unbeantwortet. Das alles muss nicht gegen das Vorhaben sprechen. Doch wird man den Verdacht nicht los, hier sammle die Bundesregierung, die die Digitalisierung wie der Rest der Gesellschaft über Jahre verschlafen hat, ein weiteres vermeintlich cooles Projekt, um sich noch kurz vor der Wahl einen modernen Anstrich zu geben.
Mindestens drei Pathos-
Nummern zu groß
Immerhin: Wie bei den Schüler- und Lehrerlaptops, den digitalen Kompetenzzentren für die Lehrerbildung und weiteren seit Beginn der Coronakrise verkündeten Digital-Initiativen und Programmen gilt auch bei der Bildungsplattform: Die Bildungspolitiker in Bund und Ländern haben die Gelegenheit der Pandemie geschickt genutzt, um den Finanzpolitikern zusätzliches Geld aus den Rippen zu leiern. Geld, das diese schon viel früher hätten geben müssen, es aber in normalen Zeiten – was der eigentliche Skandal ist – nie getan haben. Umso ironischer ist, dass fast alle der mit Verweis auf die Coronakrise in Angriff genommenen Digitalprojekte ihre Wirkung erst entfalten werden, wenn die Bildungseinrichtungen wieder im Normalmodus sein werden.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Alle drei Bildungsinitiativen sind lobenswert und gute Nachrichten. Doch von "Gamechangern" zu sprechen, von Wegen zurück in "ein unbeschwerteres Aufwachsen" oder gar von der Gewährung "bestmögliche(r) Chancen auf gute Bildung und persönliche Entwicklung" für jedes Kind, ist nicht nur mindestens drei Pathos-Nummern zu groß, sondern hat einen fast schon lächerlich-gönnerhaften Touch – wenn man weiß, dass der Bund allein der Deutschen Bahn fünf Milliarden Euro als Corona-Ausgleich zuschießen wollte – und auf Widerstand der EU-Kommission stieß. Oder auch, dass die 5,5-Bildungsmilliarden-Ankündigung genau ein Jahr nachdem kommt, nachdem der Bund allein der Lufthansa ein Rettungspaket von neun Milliarden Euro geschnürt hatte.
Das eigentliche Aufholprogramm
wäre ein ganz anderes
Doch selbst das verblasst vor einer einfachen wie ernüchternden Feststellung: Das eigentliche, das beste Aufholprogramm für Kinder und Jugendliche wäre ein ganz anderes. Es bestünde darin, den Schulen endlich jene Priorität beim Ausstieg aus dem Lockdown zu geben, die ihnen einst versprochen wurden. In immer mehr Landkreisen haben die 7-Tages-Inzidenzen bereits die 100 unterschritten, in den meisten übrigen werden sie es in den nächsten ein, zwei Wochen tun. Womit die Bundesnotbremse nicht mehr gilt, die oberhalb der 100 nur Wechselunterricht erlaubt.
Mit anderen Worten: Fast überall in Deutschland könnten, wenn die Länder es nur wollten, demnächst wieder alle Schüler aller Klassenstufen jeden Tag in den Präsenzunterricht gehen. Das und nur das wäre die Priorität, die sie jetzt verdienen würden.
Die Realität ist jedoch zu oft eine andere: Auch dort, wo die Inzidenzen bereits auf 60, 70 oder 80 gesunken sind, dürfen selbst Grundschüler in vielen Bundesländern weiter nur tageweise zum Wechselunterricht in die Schule. Für viele Mittelstufenschüler in Bayern, Hamburg und anderswo sind die Schultore bei über 100 sogar immer noch komplett dicht – obwohl die Notbremse bis 165 Wechselunterricht mit Testpflicht für alle Klassenstufen zuließe. Und in Mecklenburg-Vorpommern, dessen landesweite Inzidenz am Wochenende bei 88 lag, sind die Kitas und Schulen immer noch fast komplett zu. Ausnahmen für die Kinder vom "harten Lockdown" (Ministerpräsidentin Schwesig)? Fehlanzeige.
Reicht der Ausnahmezustand
noch bis ins nächste Schuljahr?
Wie das sein kann? Weil der öffentliche Druck, die öffentliche Aufmerksamkeit nicht da ist. Wie anders ist es zu erklären, dass Bayern, Berlin und andere Länder mit Verweis auf das Unterschreiten der 100 in fast schon fieberhafter Eile die Öffnung von Biergärten, Cafés, Kinos oder Geschäften vorbereiten bzw. schon vollziehen – parallel aber darauf bestehen, dass fast alle Schüler weiter im Wechselunterricht bleiben (falls sie, siehe Bayern, da überhaupt schon wieder hin dürfen)? Mit der Rolle der Schulen als besondere Virusverteiler jedenfalls nicht, denn dafür gibt es gegenwärtig keine Belege (siehe Kasten).
Doch von einem gesamtgesellschaftlichen Sturm der Empörung, dass den Kindern und Jugendlichen nach den monatelangen Schulschließungen die volle Rückkehr in die Klassenzimmer weiter verwehrt wird, obwohl sie in immer mehr Regionen möglich wäre, keine Spur. Womit sich das Leben der meisten Kinder und Jugendlicher weiter im Dauer-Ausnahmezustand befindet.
Der sich, so steht zu befürchten, sich schlimmstenfalls sogar noch ins nächste Schuljahr strecken könnte, falls bis dahin nicht alle Kinder und Jugendlichen, zumindest die ab 12, bereits beide Impfungen erhalten haben werden. Zwar könnten und sollten die Ministerpräsidenten sie auch so wieder in den täglichen Präsenzunterricht zurücklassen, zumal die Inzidenzen auch bei den Unter-15-Jährigen gerade rapide sinken. Doch sieht es derzeit nicht danach aus, als ob sie (übrigens im Gegensatz zu vielen ihrer zur Untätigkeit verurteilten Kultusminister) dazu die Bereitschaft, den Mut oder auch nur das Interesse hätten.
Von einer Priorisierung der Schüler bei der Impfung mag man derweil gar nicht träumen. Es wäre schon etwas, wenn es nicht zum Gegenteil käme. Wenn zum Beispiel nicht, damit die Erwachsenen in den Urlaub fahren können, die Abstände zu ihren Zweitimpfungen (wie vom offenbar wahlkämpfenden Gesundheitsminister Spahn angeregt) verkürzt würden. Was epidemiologisch Unsinn wäre, weil es Experten zufolge die Immunität verringern würde. Was vor allem aber auch zusätzliche Impfdosen kosten würde, die für die Erstimpfung von Kindern und Jugendlichen fehlen könnten.
So wachsen die Lücken und Schäden, die das vom Bund beschlossene Aufholprogramm beseitigen soll, immer noch weiter. Weil das viel wichtigere Aufholprogramm – offene Schulen für alle Schüler jetzt – politisch chancenlos und gesellschaftlich nachrangig zu sein scheint.
Inzidenzen bei Kindern und Jugendlichen sinken so schnell wie in der Gesamtbevölkerung
Die Anteil der Unter-15-Jährigen an allen neuen Corona-Fällen ist in der vergangenen Woche nahezu stabil geblieben. Er lag nach vorläufigen RKI-Zahlen bei 15,6 Prozent – nach 15,3 Prozent in der Vorwoche. Woraus folgt: Der Rückgang der 7-Tages-Inzidenzen verläuft bei den Kindern und Jugendlichen (-19,1 Prozent) fast genauso schnell wie in der Gesamtbevölkerung (-20,8 Prozent), obwohl diese teilweise bereits geimpft ist. In der Vorwoche hatte der Rückgang bei den Unter-15-Jährigen mit 16,0 Prozent sogar über dem Schnitt der Gesamtbevölkerung von 14,0 Prozent gelegen. Was an Schwankungen bei den Testhäufigkeiten gelegen haben könnte.
Klar ist indes auch: Die über viele Wochen überdurchschnittliche Dynamik bei den offiziell gemeldeten Neuinfektionen unter Kindern und Jugendlichen ist nicht mehr nachweisbar. Sie war in der Übergangszeit von März und April vermutlich auf die überdurchschnittlich wachsende Zahl an Schnelltests bei Schülern zurückzuführen, da diese die einzige Altersgruppe sind, die sich verpflichtend zweimal die Woche testen lassen müssen.
Doch scheint dieser Sondereffekt jetzt "eingepreist" zu sein, womit die tatsächlichen Corona-Trends bei den Kindern und Jugendlichen in den nächsten Wochen wieder etwas verlässlicher erkennbar sein sollten.
Im Moment sieht es so aus, als würde sich die Beobachtung des vergangenen Jahres bestätigen, dass die Infektionshäufigkeit unter Kindern und Jugendlichen wie auch das Infektionsgeschehen in den Kitas und Schulen sich abhängig von den Inzidenzen in der Gesamtgesellschaft entwickeln. Besonders deutlich wird dies in Schleswig-Holstein, seit Wochen das Land mit der bundesweit niedrigsten 7-Tages-Inzidenz, wo die Grundschüler in mehreren Kreisen in den täglichen Präsenzunterricht gehen – und die Neuinfektionen bei den 0- bis 14-Jährigen trotzdem genauso schnell wie in der Gesamtbevölkerung sinken.
Münchner Forscher bekräftigten zuletzt sogar, dass offene Schulen die Corona-Inzidenz unter Schülern zusätzlich senken würden, weil durch die verpflichtenden Schnelltests eine bessere Pandemiekontrolle möglich sei. Noch ein Argument dafür, das beste Aufholprogramm für Kinder und Jugendliche – flächendeckend offene Schulen – jetzt zeitnah umzusetzen.
Was die "Aufholprogramm"-Milliarden finanzieren sollen und was Anja Karliczek über die "Nationale Bildungsplattform" sagt
Die zwei Milliarden für das GroKo- "Aufholprogramm" sollen zur Hälfte in Sommercamps, Lernwerkstätten und unterrichtsbegleitende Nachhilfe gehen.
Die andere Hälfte ist vorgesehen für frühkindliche Bildung, Ferienfreizeiten, außerschulische Angebote, einen Kinderfreizeitbonus von einmalig 100 Euro je Kind aus bedürftigen Familien, zusätzliche Schulsozialarbeit und Jugendhilfe und für Freiwilligendienstleistende, die Kinder und Jugendliche unterstützen wollen.
Auf Kritik stieß, dass die Milliarde für den Abbau von Lernrückständen über zusätzliche Umsatzsteueranteile an die Länder gehen sollen. Freuen könnten sich so erst einmal nur die Finanzminister, schrieb etwa der Spiegel, es sei fraglich, wie und wann die Schüler davon profitierten.
Die Landeskultusminister versicherten hingegen, darauf zu achten, dass die Milliarde komplett ankomme. BMBF-Chefin Karliczek betonte, sie erwarte zusätzlich, dass sich die Länder "auch substanziell beteiligen, denn Bildung ist zuallererst Ländersache."
Den Aufbau der Nationalen Bildungsplattform nannte die Bundesbildungsministerin "ein großes Projekt für die Modernisierung der Bildung in den nächsten Jahren". Die Bundesregierung wolle "für alle Menschen – vom Schulkind bis zum Rentner – in unserem Land den Zugang zu digital gestützten Bildungsangeboten erleichtern und damit verbessern".
Was das konkret bedeuten könnte, illustrierte Karliczek mit ein paar mehr oder weniger konkreten Ankündigungen: Jeder werde dann auf der Plattform auf einfache Weise das für ihn passende Angebot finden und sicher nutzen können: Lehrende gutes digitales Unterrichtsmaterial, passende pädagogische Unterstützung und Beispiele guter Praxis, Lernende individuellen Zugang zu passfähigen Lehr-/Lernszenarien sowie breiten Zugriff auf hilfreiche digitale Werkzeuge. Auch die Volkshochschulen werden vertreten sein."
Zudem, sagte Karliczek, sollten alle Nutzer auf der Plattform ihre Bildungszertifikate, Zeugnisse und Diplome, verschlüsselt ablegen können.
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