Das Bundesverwaltungsgericht hält die Berechnung des Fördersatzes zumindest im Jahr 2015 für einen Verstoß gegen das Recht auf gleiche Bildungschancen. Jetzt soll das Bundesverfassungsgericht entscheiden.
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ES IST EINE JURISTISCHE ENTSCHEIDUNG mit politischer Tragweite. Das Bundesverwaltungsgericht hält die Berechnung der BAföG-Sätze zumindest im Zeitraum Oktober 2014 bis Februar 2015 für nicht vereinbar mit dem Grundgesetz. Weil es aber nicht berechtigt ist, die Verfassungswidrigkeit eines Parlamentsgesetzes festzustellen, hat es die Sache dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.
Konkret geht es um den Fall einer damals bei ihren Eltern lebenden Psychologiestudentin aus Osnabrück, die gegen ihre BAföG-Förderbescheide geklagt hatte, weil sie den 2015 geltenden Bedarfssatz von 373 Euro für zu niedrig bemessen hielt. Würde sie Hartz IV beziehen, argumentierte sie, wäre ihre Unterstützung zum Lebensunterhalt deutlich höher gewesen. Und sie zog ihre Klage durch zwei Instanzen durch, bis sie jetzt zur Revision vorm Bundesverwaltungsgericht landete.
Nicht transparente Berechnung und
veraltete Datengrundlagen
Die Leipziger Richter kamen in ihrem am Donnerstag bekannt gewordenen Beschluss zu dem Ergebnis, dass die Bundesregierung mit ihrer 2015 geltenden BAföG-Ausgestaltung gegen das im Grundgesetz garantierte Teilhaberecht verstoßen habe. Dieses verpflichte den Gesetzgeber, für die Wahrung gleicher Bildungschancen Sorge zu tragen – unabhängig von den "Besitzverhältnissen der Eltern" und so gestaltet, dass soziale Gegensätze hinreichend ausgeglichen würden und die soziale Durchlässigkeit gewährleistet werde.
Dabei ging es dem Bundesverwaltungsgericht explizit nicht darum, die 2015 geltende BAföG-Förderung an sich in ihrer Höhe zu bewerten – ob sie also für die Osnabrücker Studentin zum Leben und zur Wahrnehmung ihrer Bildungschancen reiche. Denn schon die Art, wie der "strittige Bedarfssatz" ermittelt worden sei, halte der verfassungsrechtlichen Prüfung "nicht stand", sei also nicht mit dem Recht auf gleiche Bildungschancen vereinbar.
Dafür müsse nämlich das Berechnungsverfahren transparent und in allen Berechnungsschritten nachvollziehbar sein, meinten die Richter. Doch lasse das angewendete Verfahren im Unklaren, "zu welchen Anteilen der Pauschalbetrag auf den Lebensunterhalt einerseits und die Ausbildungskosten andererseits entfällt und diese abdecken soll". Auch fehle es an der gebotenen zeitnahen Ermittlung des studentischen Bedarfs. So sei der BAföG-Satz noch im Wintersemester 2014/15 anhand einer Erhebung von 2006 berechnet worden.
Und was bedeutet
die Entscheidung für heute?
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts platzt mitten in die aktuelle BAföG-Reformdebatte hinein. Erst Ende April hatte die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) einen weitgehenden Umbau der Studienförderung gefordert. Systematik und Inhalte des BAföG würden der Lebensrealität der Studierenden nicht mehr ausreichend gerecht, eine grundlegende Reform sei unabdingbar. Prompt erhielt die HRK Unterstützung von der GEW, der Bundestagsopposition und dem Deutschen Studentenwerk. Eine BAföG-Reform gehöre" zuoberst auf die bildungs- und hochschulpolitische To-do-Liste einer neuen Bundesregierung nach der Wahl im Herbst", sagte DSW-Präsident Rolf-Dieter Postlep.
Die Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch den Bundesverwaltungsgerichtshof kommentierte DSW-Generalsekretär Achim Meyer auf der Heyde als "Bestätigung unserer langjährigen Forderungen. Nach unseren eigenen Berechnungen auf Basis der Sozialerhebung 2016 ist der BAföG-Grundbedarf nicht existenzsichernd." Nun räche sich, dass die Bundesregierungen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur empirischen Ermittlung von Grundsicherungs- und Asylbewerberleistungen bislang weder umgesetzt noch auf eine empirische Ermittlung der BAföG-Bedarfssätze ausgeweitet habe.
Das Bundesbildungsministerium hatte hingegen in Reaktion auf den HRK-Vorstoß Ende April betont: Dass noch nie so viele Menschen in Deutschland studiert hätte wie heute, zeige, dass ein Studium in Deutschland erschwinglich und zugleich lohnend sei. "Das BMBF hat in den letzten Jahren sehr viel für die Verbesserung der Lehre und die Finanzierung der Hochschulen investiert und damit einen erheblichen Beitrag zu dieser positiven Entwicklung geleistet", sagte ein Sprecher von Anja Karliczek (CDU).
Bereits in der laufenden Legislaturperiode sei das BAföG mit der 26. Gesetzesänderung deutlich und spürbar weiterentwickelt worden. Die dreistufige Anhebung der Freibeträge und zweistufige Anhebung der Bedarfssätze (inklusive Wohnkostenzuschlag) sei sogar "die weitreichendste Reform der letzten Jahrzehnte". Zum kommenden Wintersemester trete die letzte Anhebungsstufe in Kraft, die Freibeträge im BAföG würden nochmals um sechs Prozent angehoben.
Hochschulrektoren und BMBF streiten
über das Ausmaß der Probleme
Derzeit beträgt der Bedarfssatz für Studierende, die noch bei ihren Eltern wohnen, inzwischen 427 Euro im Monat. Leben sie in einer eigenen Wohnung und müssen ihre Krankenversicherung selbst zahlen, können sie bis zu 861 Euro Studienfinanzierung erhalten. Derweil bleiben die BAföG-Ausgaben des Bundes zuletzt deutlich hinter den Haushaltsplanungen zurück.
Der hochschulpolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Kai Gehring, erklärte per Twitter, Anja Karliczek und ihre CDU-Vorgängerinnen hätten das BAföG "so heruntergewirtschaftet, dass nun das Bundesverfassungsgericht eine Ansage machen muss". Ein Neustart der Förderung sei nötig, damit wieder mehr Bildungsaufstiege möglich würden.
Derzeit erhalten laut HRK nur noch 12 Prozent der Studierenden BAföG. Das BMBF konterte jedoch, diese Angabe sei "nicht aussagekräftig", da die HRK auch Studierende als potenzielle Empfänger eingerechnet habe, die gar nicht bezugsberechtigt seien, etwa ausländische Austauschstudierende. Die offizielle Förderquote habe laut dem letzten BAföG-Bericht von 2017 bei 22,1 Prozent gelegen.
DSW-Generalsekretär Meyer auf der Heyde kommentierte, leider sei der regelhaft für 2019 fällige Bericht "bekanntlich ausgesetzt" worden von der Bundesregierung, "so dass erst Ende des Jahres die wahrscheinlich weiter gesunkenen Daten vorliegen werden."
Die Osnabrücker Studentin muss derweil weiter warten. Ihr Revisionsverfahren haben die Bundesverwaltungsrichter ausgesetzt, bis das Bundesverfassungsgericht entschieden hat.
Nachtrag am 21. Mai, 18 Uhr
Was BMBF und Studierende zu dem Beschluss sagen
Der Studierendenverband fzs kommentierte, der Gerichtsbeschluss "bestätigt unsere Einschätzung, dass diese sogenannte Ausbildungsförderung – verfassungswidrig – nicht einmal das absolute Existenzminimum deckt." Das BMBF habe nicht nur jahrelang regelmäßige Berichte und Anpassungen versäumt, es ignoriere auch den grundlegenden Reformbedarf des BAföGs. "Wir benötigen eine Studienfinanzierung, die mehr als nur das Existenzminimum abdeckt - und das so schnell wie möglich", sagte fzs-Vorstandsmitglied Jonathan Dreusch. "Für Vorschläge und Gespräche stehen wir Studierendenvertretungen der Bundesbildungsministerin gerne zur Verfügung."
Das Ministerium von Anja Karliczek verwies in seiner Stellungnahme am Nachmittag darauf, das die vom Bundesverwaltungsgericht beanstandete Regelung aus dem Jahr 2014 stamme. Die Bedarfssätze seien seitdem deutlich angehoben worden. "Es handelt sich also zunächst um ein Urteil zu gesetzlichen Regelungen, die in der vorletzten Legislaturperiode galten und getroffen worden waren."
Die ausführliche Begründung, warum das Bundesverwaltungsgericht sich zur Vorlage ans Bundesverfassungsgericht entschieden habe, liege noch nicht vor, weshalb eine ausführliche Bewertung zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich sei. Nach dem, was bisher bekannt sei, gehe es im Kern jedoch nicht um die konkrete Höhe der Bedarfssätze, sondern um das Verfahren der Ermittlung der Bedarfsbemessung. "Die Ermittlung des angemessenen Bedarfs durch den BAföG-Gesetzgeber erfolgt aus Sicht des BMBF durch eine verfassungskonforme Gesamtbetrachtung, in die verschiedene Parameter Eingang finden." Dazu gehörten die regelmäßigen Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks, die Höhe der Inflation und die allgemeine Einkommensentwicklung.
Doch reicht die vom BMBF angeführte mehrfache Anhebung seit 2014 wirklich, um die gegenwärtigen Bedarfssätze (wieder) verfassungskonform zu machen? DSW-Generalsekretär Meyer auf der Heyde betonte auf Anfrage, dass bereits in der Sozialerhebung von 2016 ein Bedarf zwischen 500 und 550 Euro pro Monat ermittelt worden sei. "Heute dürfte er noch höher liegen." Aktuell betrage der BAföG-Bedarfssatz jedoch nur 427 Euro.
Die Linken-Hochschulpolitikerin Nicole Gohlke sprach von "Watschen für die Bundesregierung" und von einem "Durchbruch im Kampf um Bildungsgerechtigkeit." Nun sei nun schwarz auf weiß bestätigt, dass die BAföG-Politik der Bundesregierung verfassungswidrig und unsozial sei. "Ein Grundbedarf unterhalb der ALG 2-Grundsicherung ist vollkommen inakzeptabel." Weil die Bundesregierung alle Vorschläge für ein sicheres BAföG in den Wind geschlagen habe, sei es umso wichtiger, dass die Leipziger Richter nun den Grundstein für eine Kurskorrektur gelegt hätten. "Ich hoffe, dass sich das Bundesverfassungsgericht dem Urteil schnell anschließt."
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Christin Liebermann (Sonntag, 23 Mai 2021 19:34)
Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) begrüßt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die Berechnungsgrundlage des BAföG dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Quelle: https://verbandsbuero.de/ver-di-draengt-auf-rasche-verbesserungen-beim-bafoeg-karliczek-duerfe-nicht-auf-verfassungsgerichtsurteil-warten/