Noch ist ungewiss, ob und wie das Paket vom Bund mit den zwei Milliarden Euro Corona-Hilfe bei den Kindern ankommt.
MEHR ALS DIE HÄLFTE des Präsenzunterrichts haben die meisten Schüler seit Beginn der Pandemie verpasst, Sportvereine und Jugendzentren waren geschlossen, Kulturangebote fielen flach. Mit einem Corona-Hilfspaket für Kinder und Jugendliche will die Bundesregierung die Schäden begrenzen.
Als es Anfang Mai endlich stand, sah die damalige Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) darin ein klares Bekenntnis der Bundesregierung: "Wir unterstützen Kinder, Jugendliche und ihre Familien nach den harten Lockdown-Zeiten auf dem Weg zurück in einen geregelten Alltag und ein unbeschwerteres Aufwachsen." Und Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) versprach: "Jedes Kind soll trotz und nach der Corona-Pandemie die bestmöglichen Chancen auf gute Bildung und persönliche Entwicklung erhalten." Große Worte für das Programm "Aufholen nach Corona". Können sie halten, was sie versprechen?
Warum zwei Milliarden,
und wohin fließen sie?
Eine Milliarde ist für den "Abbau von Lernrückständen" von Schülern vorgesehen, 320 Millionen für die Schulsozialarbeit, Lernmentoren oder das Engagement Bundesfreiwilligendienstleistender vor allem in den Schulen. Der Rest fließt in einen Kinderfreizeitbonus für bedürftige Familien, in Kitas, zusätzliche Kinder- und Jugendfreizeiten, in die Jugendhilfe und außerschulische Initiativen.
Eine Milliarde für direkte Lernhilfe ergibt bei 10,9 Millionen Schülern pro Kopf 92 Euro – für den gesamten Zeitraum bis Ende 2022. Allerdings argumentieren Bund und Länder, dass nicht jedes Kind eine Aufhol-Förderung brauche. Das lässt den Betrag pro Kopf höher aussehen. Zum Vergleich: Die Niederlande investieren 8,5 Milliarden in ein Corona-Aufholprogramm für Kinder und Jugendliche, haben aber nur gut ein Fünftel der Einwohnerzahl.
Die deutsche Entscheidung zwei Milliarden auszugeben, kam ohnehin nicht über eine Bedarfsermittlung zustande, sondern sie ist Ergebnis eines politischen Pokers zwischen Bund und Ländern, vor allem aber innerhalb der Bundesregierung. Und weil die Union das Bildungsministerium führt und die SPD das Familienministerium, wurde das Geld aufgeteilt: eine Milliarde für Karliczek, eine Milliarde für Giffey.
Wer muss
was "aufholen"?
Jedes vierte oder fünfte Kind brauche eine Corona bedingte Unterstützung, sagt die Bildungsministerin. Sie hätte auch sagen können jedes sechste oder jedes zweite. "Im Moment wissen wir nicht – weder auf nationaler noch auf Länderebene – wie groß nach Jahrgängen getrennt die Anteile der Schülerinnen und Schüler sind, die besondere Förderung benötigen", sagt der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller. Im Idealfall würden alle Bundesländer regelmäßig und systematisch Lernstandserhebungen durchführen und Schülerinnen und Schülern darauf aufbauend passgenau fördern, sagt die Schulpädagogik-Professorin Anne Sliwka von der Universität Heidelberg. "Das ist aber in der Fläche derzeit noch nicht der Fall."
Tatsächlich bestand die erste Reaktion vieler Kultusminister auf die Corona-Krise darin, Tests auszusetzen – zum Unmut vieler Bildungsforscher. Denn wenn die Lücken der Schüler nicht identifiziert werden, wie soll man sie dann schließen? Mit der Unterstützung zu warten, bis Studien dazu vorliegen, fänden die Wissenschaftler jedoch auch falsch. Schon vor Corona haben Untersuchungen regelmäßig gezeigt, dass rund 20 Prozent der Schüler, je nach Region und Bundesland auch deutlich mehr, die Mindeststandardsim Lesen, Schreiben und Rechnen verfehlen, sagt Sliwka. Daher kommt die politische Schätzung, jedes vierte oder fünfte Kind brauche jetzt besondere Unterstützung. Das allerdings wäre verwunderlich, denn dann hätte die Coronakrise die Lage gar nicht verschlimmert.
"Oft können die Lehrkräfte gut einschätzen, welche Schülerinnen und Schüler dringend Bedarf haben", sagt Ludger Wößmann vom ifo Zentrum für Bildungsökonomik. Er schlägt vor, dass Länder, die Bundesmittel in Anspruch nehmen, sich dazu verpflichten sollten, flächendeckende Lernstandserhebungen durchzuführen. "All das hilft Ahmed oder Kevin im Wedding erst einmal überhaupt nicht", sagt Olaf Köller. Er fordert eine Strategie, die Schwerpunkte nach Altersgruppen, Schulformen und Schulfächern setzt.
Wie sollen Gelder
verteilt werden?
Der Bund schickt die Lernmilliarde nämlich nicht direkt dorthin, wo sie gebraucht wird, sondern überlässt den Ländern mehr Geld von den Einnahmen aus der Umsatzsteuer. Insgesamt 1,29 der zwei Milliarden sollen diesen Weg in die Länder fließen. Womit sie erstmal bei den Landesfinanzministern landen. Warum so umständlich? Weil die Länder sich, Stichwort Föderalismus, auf ihre Kultushoheit berufen. Bildung sei "aus guten Gründen Ländersache", sagt etwa die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD), "und alle Leistungen des Bundes im Bildungsbereich dürfen den Föderalismus nicht in Frage stellen." Die Finanzierung über Umsatzsteuerpunkte sei eine Möglichkeit, die den Ländern den notwendigen Handlungsspielraum lasse und schnell umsetzbar sei.
Für den Bereich Jugend und Familie hat der Bund eigene Zuständigkeiten und kann diesen Teil des Pakets über eigene Programme direkt ausgeben.
Zurück zu den Schulen: Wieviel vom Bundes-Bildungsgeld die Finanzminister tatsächlich an die Schulen weitergeben, da sind sich selbst viele Kultusminister unsicher (und haben in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht). Weshalb die meisten nichts dagegen haben, dass die Bundesregierung, bevor die Lernmilliarde fließt, mit den Ländern eine Vereinbarung schließen will: Um Schummeleien zu erschweren, soll jedes Land transparent machen, für welche zusätzlichen Hilfen es das Bundesgeld einplant. Auch fordert der Bund, dass jedes Land den gleichen Betrag aus Eigenmitteln drauflegt.
Was zum Beispiel Baden-Württembergs neue Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) "schwierig" findet. Die Coronakrise stelle stellt die Länderhaushalte in der aktuellen Situation „durchaus vor finanzielle Herausforderungen.“
Doch der Druck auf die Länder ist groß, die Uhr tickt: Erst wenn die Vereinbarung steht, will der Bund das Finanzausgleichsgesetz ändern, das dann durch Bundestag und Bundesrat muss. Damit das vor der Sommerpause klappt, müssen alle Länder eigentlich bis zum 2. Juni, also diesen Mittwoch, unterzeichnet haben. Zur Not könnte der 6. Juni wohl noch reichen. Sonst aber sind die legislativen Schotten bis nach der Bundestagswahl dicht.
Bleibt ein weiterer föderaler Haken: Die zusätzlichen Steueranteile werden nach der Einwohnerzahl auf die Länder verteilt. Bayern bekommt pro Kopf genauso viel wie Bremen – obwohl dort der Anteil der Risikoschüler bis zu viermal so hoch ist. Das ist das Prinzip Gießkanne. Das ist das Prinzip Gießkanne.
Was haben die Länder
damit vor?
Jedes Land hat andere Pläne, wie es seinen Anteil der Lernmilliarde einsetzen will und einige Kultusministerien sind weiter als andere. Hamburg hat schon 2020 für 13 Millionen Euro pro Jahr ein eigenes Fördersystem in der Regie der Schulen aufgebaut, dazu gehören etwa bis zu vier kostenlose Förderstunden pro Woche und Schüler, sowie freiwillige Lernferien. Mit dem Bundesgeld könne das Programm jetzt sehr schnell "allen Schülern zugänglich gemacht werden", sagt der dortige Bildungssenator Ties Rabe (SPD).
Rheinland-Pfalz bietet neben Förderung im Unterricht erneut die sogenannte "Ferienschule" an – in Zusammenarbeit mit den Kommunen. Außerdem gebe es unter anderem Feriensprachkurse, Lernangebote in Kooperation mit den Volkshochschulen "sowie die Zusammenarbeit bei digitalen Nachhilfeangeboten gemeinnütziger Initiativen wie der Corona School. Die Bundesmittel ermöglichen es, diese Maßnahmen weiterzu entwickeln und neue Maßnahmen - wo erforderlich - zu ergreifen", teilt das Bildungsministerium von Stefanie Hubig mit.
Hessen wiederum hat gerade das Programm "Löwenstark – der BildungsKICK" gestartet: 60 Millionen Euro allein dieses Jahr für Förderkurse an den Schulen, Hausaufgabenbetreuung, Lerncampus, Online-Nachhilfe, Schwimmkurse, Angebote der kulturellen Bildung und vieles mehr. Hessen warte nicht, bis die "zähen" Verhandlungen mit dem Bund abgeschlossen sein, sagt ein Sprecher von Kultusminister Alexander Lorz (CDU) und fügt, Stichwort Transparenz der Mittelverwendung, hinzu: "Ob und in welcher Form bzw. Höhe die Bundesmittel dann in Hessen mit unserem landeseigenen Programm verflochten oder ergänzt werden, wird sich noch zeigen."
Fast alle Länder setzen auf freiwillige Helfer, auf Lehramtsstudierende, pensionierte Lehrer, Organisationen wie "Teach First", Volkshochschulen, Hochschulen, Stiftungen und Vereine. Und werden zugleich absehbar stark von kommerziellen Nachhilfe-Anbietern wie "Sofatutor" oder "Simpleclub" abhängen. Umso mehr, je weniger an den Schulen bereits eingespielte Partnerschaften und Initiativen bestehen. Ein Riesengeschäft für die Branche.
Und fast immer ist es ein bunter Strauß, den die Länder an Aufholangeboten flechten. Bunt, und wenn es nach Meinung vieler Bildungsforscher geht, in vielen Fällen zu wenig zielgenau. Nicht nur, weil Bedarfsstudien fehlen, sondern auch weil noch gar nicht bis zuletzt erforscht ist, wie Schulen Kinder mit Lerndefiziten am besten unterstützen können. International gebe es da eine längere Forschungstradition zu Schulen und Schüler*innen in sozial benachteiligten Lagen, sagt die Isabel van Ackeren, Professorin für Bildungssystem- und Schulentwicklungsforschung an der Universität Duisburg-Essen. "Die müssen wir meines Erachtens viel stärker in den Blick rücken." Es gehe um die Ausweitung von Lerngelegenheiten, die "anspruchsvoll, kognitiv aktivierend und verständnisorientiert" seien – aber auch um sozioemotionale Komponenten des Lernens.
Genau an der Stelle soll die vor der Krise geplante, aber gerade erst angelaufene Bund-Länder-Initiative "Schule macht stark" (Schumas) an, in der Wissenschaft und Schulpraxis gemeinsam herausfinden wollen, wie genau das mit der zielgenaueren Förderung klappten kann. Es gehe darum, die Bildungsmöglichkeiten von Schülerinnen und Schülern in schwierigen Lagen zu verbessern, sagt Konsortialleiter Kai Maaz, Direktor des DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. "Schumas" läuft über zehn Jahre, doch die die Bildungsmilliarde muss bis Ende 2022 ausgegeben sein.
Dieser Artikel erschien in kürzerer Fassung zuerst in der ZEIT.
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