Berlin will als Reaktion auf einen Gerichtsbeschluss doch schon vor den Ferien zum vollen Präsenzunterricht zurückkehren. Doch wer auf einsichtige Worte der Bildungssenatorin wartete, wurde zunächst enttäuscht. Eine Analyse.
JETZT ALSO DOCH. Der Berliner Senat macht eine Kehrtwende und will die Rückkehr aller Schüler in den vollen Präsenzunterricht vom 9. Juni an beschließen. Ohne Anwesenheitspflicht, aber noch vor den Sommerferien. Damit reagiert die Bildungsverwaltung von Sandra Scheeres (SPD) auf einen Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts, das gestern den Eilanträgen zweier Grundschüler gegen das Wechselmodell stattgegeben hatte.
Die extrem schnelle Reaktion auf den Gerichtsbeschluss deutet fast auf so etwas wie Erleichterung hin. Erleichterung, dass nun ein Gericht die innere Blockade der rot-rot-grünen Koalition (SPD und Linke gegen Präsenzunterricht, Grüne dafür) auflöst. Schon in den vergangenen Tagen waren Scheeres und der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) immer stärker ins Trudeln geraten. Ihr demonstratives Festhalten am Wechselmodell wirkte angesichts der immer niedrigeren 7-Tages-Inzidenz in Berlin zunehmend aus der Zeit gefallen. Daran änderte sogar der Umstand wenig, dass überraschenderweise der Landesschulbeirat Berlin, in dem Schüler, Schulleitungen und Eltern vertreten sind, den SPD-Kurs als "schmerzhaften, aber richtigen Mittelweg" stützte. Denn währenddessen hatten nach und nach sämtliche andere Bundesländer eine Rückkehr zur vollen Präsenz für alle Schüler angekündigt oder bereits umgesetzt. So verstärkten sich die Anzeichen, dass Müller und Scheeres ihren Kurs auch ohne Gerichtsbeschluss politisch nicht mehr lange hätten durchhalten können. Insofern mag der Beschluss für die beiden nun wie eine Form der Gesichtswahrung wirken.
Kein Wort des Bedauerns fand Scheeres in ihrer ersten Stellungnahme gestern Abend gegenüber dem Tagesspiegel. Durch die deutliche Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts sei eine neue Situation entstanden, nach Ansicht der Richter sei der Wechselunterricht nicht mehr verhältnismäßig. "Von daher werden wir bereits vor den Sommerferien an den Schulen wieder zum Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen zurückkehren müssen." Man beachte das Wort: "müssen". Dass Scheeres für die gerichtlich bescheinigte Verschleppung kindlicher Teilhabe- und Bildungsrechte um Entschuldigung bittet, wäre wohl zu viel verlangt gewesen – hatte sie dafür doch auch Unterstützung erhalten. Dass sie aber jetzt zumindest nicht so tut, als handle sich die Rückkehr zur Präsenz um eine Zumutung, dass sie stattdessen einräumt, dass Müller und ihr die senatsinterne Schul-Debatte der vergangenen zwei Wochen zunehmend verunglückt ist, hätte man schon erwarten können.
Das ärgerliche Spiel auf Zeit setzt sich derweil fort. Anstatt die Rückkehr zum Präsenzunterricht ab kommenden Montag anzuordnen, will Scheeres den Schulen bis Mittwoch, den 9. Juni Zeit geben. Das sieht nach Trotz aus. Der Senat, allen voran Michael Müller, hatte den Verbleib im Wechselmodell unter anderem damit begründet, dass die Vorbereitung des vollen Präsenzunterrichts viel Zeit brauche und daher vor den Ferien nicht mehr lohne. Will man den angeblich so hohen Aufwand durch die zwei Extra-Tage jetzt nochmal demonstrativ unter Beweis stellen? Am Ende sind es zwei weitere wertvolle Präsenztage, die Scheeres und Müller den Schülern damit wegnehmen. Womit bis zum Start der Sommerferien noch elf übrig wären. Sollte es beim 9. Juni als Start bleiben, hätte Berlin es fertiggebracht, seine Biergärten geschlagene drei Wochen früher aufzusperren, als seine Kinder wieder jeden Tag zur Schule zu schicken.
Fairerweise muss man allerdings sagen: Berlin hat zwar als letztes die Kurve bekommen, wird aber nicht das letzte Land mit vollem Präsenzunterricht sein. Diese Rolle wird voraussichtlich Rheinland-Pfalz spielen, das eigentlich erst ab 21. Juni alle Schüler wieder jeden Tag zur Schule schicken wollte, heute aber den Start offiziell auf den 14. Juni vorverlegte. Dort fangen die Sommerferien allerdings auch erst am 19. Juli an.
Zurück nach Berlin. Was sagt es eigentlich aus über die Regierung eines Bundeslandes, wenn sie zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen von Gerichten bescheinigt bekommt, mit ihrem politischen Handeln gegen das Grundgesetz zu verstoßen? Der von der rot-rot-grünen Koalition installierte Mietendeckel war im April vom Bundesverfassungsgericht gekippt worden. Das Landesgesetz sei nichtig, da der Bund das Mietpreisrecht geregelt habe. Rechtsexperten hatten allerdings schon von Anfang an seine Verfassungskonformität angezweifelt. Manche sahen es sogar so, dass die Berliner Koalition das Gesetz mit dem Wissen beschlossen hatte, dass es ihr irgendwann um die Ohren fliegen würde. Und jetzt das Festhalten am Wechselmodell trotz der absehbaren rechtlichen Schieflage wegen der fehlenden Verhältnismäßigkeit – da sogar die Bundesnotbremse vollen Präsenzunterricht schon unterhalb einer 7-Tages-Inzidenz von 100 einräumt. Dass Betroffene klagen würden, war klar. Und dass Gerichte das Recht auf Bildung sehr hoch hängen, ebenfalls. Erst im März hatte das Berliner Verwaltungsgericht den Ausschluss bestimmter Jahrgangsstufen vom Wechselunterricht für rechtswidrig befunden. Gelernt daraus, so schien es, hatte der Berliner Senat wenig.
Dass alle Bundesländer nun schon vor den Sommerferien zum vollen Präsenzunterricht zurückkehren, ist ein wichtiges Signal. Es geht gar nicht darum, dass die paar Tage Regelbetrieb irgendwelche Lernlücken schließen könnten. Doch was das tägliche Wiedersehen aller Klassenkameradinnen und Klassenkameraden nach fast sechs Monaten Distanz- und dann Teilungsunterricht für das Normalitätsempfinden vieler Kinder und Jugendlichen bedeutet, kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Und außerdem bedeutet die Rückkehr zum Vollbetrieb vor den Ferien: Nach den Ferien geht es so weiter. Dann darf und wird es darüber keine erneuten Diskussionen geben. Erst recht nicht vor dem Hintergrund der Frage, ob und wie viele der Schüler dann geimpft sein werden. Diese Gefahr bestand durchaus. Durch das Bekenntnis auch des letzten Bundeslandes zum vollen Präsenzbetrieb schon jetzt ist sie zum Glück deutlich geringer geworden.
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Django (Dienstag, 01 Juni 2021 10:58)
Der Mietendeckel ist aber nicht in der Sache für verfassungswidrig befunden worden, sondern aus formalen Gründen: Durch die "Mietpreisbremse" auf Bundesebene ist die Gesetzgebungskompetenz der Länder entfallen. Das ist eine ganz andere Ebene als das hier besprochene Thema.
Jan-Martin Wiarda (Dienstag, 01 Juni 2021 11:21)
@Django: Ihre Kritik ist berechtigt, danke für den Hinweis! Meine Formulierung war ungenau. Ich habe sie korrigiert. An meiner Einschätzung ändert dies allerdings nichts.
Viele Grüße!
Ihr J-M Wiarda
Jule Specht (Dienstag, 01 Juni 2021 12:52)
Was mir in Deinen Texten zur Öffnung der (Berliner) Schulen bisher fehlt, ist die Berücksichtigung der sehr heterogenen Meinung dazu aus den Schulen selbst.
Ergänzend möchte ich daher diesen Artikel aus dem Tagesspiegel empfehlen, in dem meines Erachtens sehr gut verdeutlicht wird, welche Argumente für und gegen Schulöffnungen von welchen Akteur:innen hervorgebracht (und ganz offensichtlich unterschiedlich gewichtet) werden, zB sprechen sich der Landesschulbeirat Berlin, die GEW Berlin und der Landeselternausschuss gegen eine vollständige Öffnung aus: https://www.tagesspiegel.de/berlin/landesschulbeirat-gegen-praesenzunterricht-berliner-schulstreit-was-nun-gilt-und-wie-es-weitergeht/27237656.html
Ich persönlich bin froh, dass die Infektionslage eine Öffnung der Schulen endlich wieder zulässt und möchte mit meinem Kommentar vor allem anregen, die Diversität an Meinungen beteiligter Akteur:innen umfassender darzustellen, damit man sich als Leser:in selbst besser eine Meinung dazu bilden kann.
Jan-Martin Wiarda (Dienstag, 01 Juni 2021 13:47)
@Jule Specht
Liebe Jule,
wie Du weißt, schätze ich Dich und Deine Meinung sehr, und ich kann Deine Kritik nachvollziehen – gerade aus der Sicht einer Berliner Sozialdemokratin am heutigen Tag. Allerdings kann ich Dir in fast keinem Punkt zustimmen in diesem Fall.
Erstens habe ich die verschiedenen Positionen, auch die von Dir angeführte, immer wieder erwähnt, zuletzt in meinem gestrigen Betrag: https://www.jmwiarda.de/2021/05/31/was-ist-mit-den-kindern/
Zweitens handelt es sich bei meinem heutigen Beitrag um einen analysierenden Meinungsbeitrag, was ich versucht habe, durch den Begriff "Analyse" zu kennzeichnen. Womöglich wäre "Kommentar" hier besser gewesen – wobei sich ein Blogformat ohnehin von einer Zeitung unter anderem durch mehr Kommentierung unterscheidet.
Drittens habe ich auch die Argumente von Scheeres und Müller immer wieder wiedergeben und hätte diese noch nicht einmal einordnen müssen, weil sie in ihrer Einseitigkeit überwiegend für sich sprachen.
Viertens empfinde ich die Einordnung, wie ich sie mit meinen Kenntnissen und meinem Hintergrund vornehmen kann, aber als eine meiner Kernaufgaben hier im Blog. Diese Einordnung habe ich auch im obigen Beitrag vorgenommen. Es handelt sich um die Analyse eines mit Ansage daneben gegangenen politischen Prozesses – was übrigens auch die Befürworter des Wechselunterrichts ärgern sollte.
Fünftens habe und hatte ich in meiner Begleitung der Berliner Schulpolitik zuletzt meine liebe Mühe, die vielen nicht belegten Annahmen zum Wechselunterricht und die irreführende Nutzung von Inzidenzen etc. auf Seite der SPD und der Linken mit dem nötigen Hintergrund zu versehen und auf eine Versachlichung und Empiriebasiertheit hinzuwirken.
Gerade das ist eine - unbequeme - journalistische Aufgabe, die meines Erachtens übrigens etliche Journalistenkolleg*innen in den Schul-Debatten der vergangenen Monaten nicht ausreichend erfüllt haben. Wobei ich den von Dir zitierten Tagesspiegel-Artikel ausdrücklich nicht meine.
Viele Grüße und gute Wünsche
Jan-Martin
Jule Specht (Dienstag, 01 Juni 2021 14:03)
Danke für Deine ausführliche Reaktion, Jan-Martin!
Und auch Dir natürlich alles Gute und bis hoffentlich bald mal wieder bei der einen oder anderen Offline-Veranstaltung!
Working Mum (Dienstag, 01 Juni 2021 15:05)
Volle Zustimmung gerade zur sozial-emotionalen Bedeutung der vollen Präsenz. Hier in NRW ist der volle Präsenzunterricht gestern wieder gestartet. Die zwei über Monate weitestgehend - selbst in den digitalen Unterrichtsformaten - getrennten Klassenhälften wieder zu einer Gemeinschaft werden zu lassen, wird ohnehin dauern. Wie viel mehr wäre nötig gewesen, wenn die Zeit der Trennung noch weitere 2,5 Monate bis zum Ende der Sommerferien gedauert hätte.
Jan-Martin Wiarda (Dienstag, 01 Juni 2021 20:36)
Liebe Jule,
mit etwas Abstand und nochmaligem Lesen stimme ich Dir in Teilen doch zu. Die Unterstützung durch den Landesschulbeirat hätte ich doch nochmal erwähnen sollen Habe ich jetzt ergänzt. Danke noch einmal für Deine Kritik!
Herzlich
Jan-Martin
Jakob Wassink (Dienstag, 01 Juni 2021 21:31)
Ich habe zwei Punkte:
1. Man kann die Entscheidungen zum Mietendeckel und zum Präsenzunterricht nicht in einen Topf werfen um dem Senat ein angespanntes Verhältnis zur Verfassung zu unterstellen. Dafür sind die Sachverhalte einfach zu unterschiedlich. Peinlich ist allein, dass der Senat wiederholt mit seinen Entscheidungen zum Schulbesuch vor dem VG gescheitert ist. In beiden Fällen hat das Land keine Beschwerde vor dem OVG eingelegt. Man war augenscheinlich wenig überzeugt von der eigenen Rechtsauffassung.
2. Die These, dass die Gerichte das Grundrecht auf Bildung auch in der Pandemie hoch halten, kann ich nicht teilen. Überwiegend haben die Gerichte die Entscheidungen zu den Schulschließungen doch (im Rahmen einer Folgenabwägung) einstweilig bestätigt.