Bund und Länder wollen die Aufhol-Milliarde nach dem Gießkannen-Prinzip verteilen – obwohl die Kinder, die Unterstützung brauchen, regional ungleich verteilt sind. Wie eine faire Bildungspolitik ihr Geld verteilen würde? Der Bildungsexperte Detlef Fickermann hat es durchgerechnet.
Herr Fickermann, wie schon beim Laptop-Programm wollen Bund und Länder auch die Milliarden aus dem Corona-Aufholprogramm gleichmäßig auf die Länder verteilen. Was stört Sie daran?
Eine Verteilung der Gelder zum Beispiel nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel, der zu zwei Dritteln nach dem Steueraufkommen und zu einem Drittel nach der Bevölkerungszahl berechnet wird, würde dem Problem, das gelöst werden soll, in keiner Weise gerecht. Schon weil das Geld dann nicht nach dem Anteil der Kinder fließen würde. Konkret: In Nordrhein-Westfalen würde ein Schüler oder eine Schülerin dann von der Bundesmilliarde für Nachhilfeangebote rechnerisch 85 Euro abbekommen. In Berlin aber 116 Euro. Für eine solche Bandbreite von über 30 Euro gibt es keine bildungspolitische Begründung.
Detlef Fickermann war Abteilungsleiter in der Hamburger Bildungsbehörde und bis zu seinem Ruhestand 2018 Leiter der Stabstelle
"Forschungskooperation, Datengewinnungsstrategie" im Hamburger Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung. Seit Anfang 2021 ist er Vorsitzender der Redaktion der Zeitschrift "Die
Deutsche Schule" (DDS). Als assoziiertes Mitglied des Wuppertaler Institutes für bildungsökonomische Forschung (WIB) widmet er sich wieder verstärkt wissenschaftlichen Fragestellungen.
Foto: privat.
Wie könnte es denn sonst gehen?
Eine Verteilung nach der tatsächlichen Schülerzahl wäre das Mindeste. Aber das wäre immer noch ungerecht, weil die monatelangen Schulschließungen nicht alle Kinder in gleichem Maße getroffen haben. Leider gibt es in Deutschland kaum belastbare empirische Untersuchungen zu den Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf die Schülerinnen und Schüler. Doch können wir, auch mit Blick auf internationale Studien, begründet annehmen, dass lernschwächere Kinder, Kinder aus Einwandererfamilien oder mit Eltern, die Hartz IV beziehen, besonders auf Unterstützung angewiesen sein werden. Ein wirklich faires Verteilungsmodell würde ihren Anteil in den einzelnen Ländern berücksichtigen.
Fair ja, aber nicht auch furchtbar kompliziert?
Klar, je mehr Fallgerechtigkeit ich herstellen möchte, desto komplizierter würde die Berechnungsformel werden.
Zusammen mit Ilka Hoffmann von der GEW haben Sie stolze sieben Modelle durchgerechnet!
Uns ist aber auch klar, dass eine politisch realisierbares Verteilungsformel nicht zu komplex sein darf. Weshalb wir auch keines der durchgerechneten Beispielmodelle als das einzig richtige bezeichnen wollen. Das ist allein Verhandlungssache zwischen Bund und Ländern. Uns geht es darum, der Politik zu zeigen, dass das Ziel einer gerechteren Bildungspolitik bedeuten würde, Ungleiches endlich auch ungleich zu behandeln.
Je nach Berechnungsformel würde NRW bis zu 64 Millionen mehr von der Milliarde abbekommen, ein Land wie Bayern aber bis zu 43 Millionen weniger. Baden-Württemberg würde bis zu 15 Millionen einbüßen, Sachsen 17 Millionen. Warum sollten die da mitspielen?
Weil ich glaube, dass es so etwas wie eine gesamtstaatliche Verantwortung gibt, die auch einzelne Bundesländer wahrnehmen müssen. Wenn es in Bayern nun einmal weniger bedürftige Kinder gibt, dann sollte es für Bayerns Staatsregierung selbstverständlich sein, zugunsten der bedürftigen Kinder anderswo zurückzutreten.
Mal abgesehen von der Frage der politischen Realisierbarkeit: Wie sieht es mit der praktischen aus? Das Aufholprogramm musste möglichst Mittwoch, spätestens aber bis Ende der Woche von Bund und Ländern unterzeichnet werden – sonst kommt es vor der Bundestagswahl gar nicht mehr zustande.
Wie ich höre, werden da auch gerade die letzten Unterschriften geleistet unter die fertige Vereinbarung. Ich befürchte wie Sie, dass niemand sie wieder aufdröseln wird. Aber die nächsten Bund-Länder-Programme kommen bestimmt, und da werden wieder Fragen der Bildungsgerechtigkeit mit dem Königsteiner Schlüssel kollidieren. Wenn wir mit unseren Modellrechnungen dafür ein Bewusstsein schaffen können, dann haben wir viel erreicht.
Dieses Interview erschien gestern zuerst in meinem Newsletter.
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