Wir wissen nicht genau, warum die Corona-Zahlen so stark sinken, aber wir öffnen trotzdem schon mal, was das Zeug hält. Warum das gefährlich ist – und warum am Ende Kinder und Jugendliche wieder einmal den höchsten Preis erneuter Einschränkungen zahlen könnten.
Gemeldete Corona-Neuinfektionen pro Tag in Deutschland seit Beginn der Pandemie.
Grafik: RKI.
WIE SCHWIERIG DAS IST mit der Interpretation von Ursachen und Wirkungen in der Pandemie, lässt sich gerade wieder einmal sehr anschaulich beobachten. Die Bundesländer liefern sich einen Überbietungswettbewerb in Sachen Corona-Lockerungen, und die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen fällt trotzdem weiter in einer Geschwindigkeit, die wenige vor einem Monat für möglich gehalten hätten.
So hatte etwa die Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen Anfang Mai zwar 7-Tages-Inzidenzen von unter 50 im Sommer als wahrscheinlich bezeichnet, bei einer Bundestagsanhörung aber gleichzeitig vor zu frühen Öffnungsschritten gewarnt. Würde man etwas langsamer öffnen, als es der Impffortschritt vielleicht erlaube, sagte Priesemann, "sinken die Fallzahlen, wie in Israel und England zu sehen. Lockern wir aber etwas zu früh, können wir noch über Wochen volle Intensivstationen haben." Man müsse aufpassen, den Immunitätsgewinn nicht wegzulocken, legte sie zwei Wochen später nochmal im Spiegel nach: Jede neue Freiheit könne den Rückgang der Inzidenz deutlich verlangsamen.
Seitdem hat die Bundesrepublik aber nicht langsamer geöffnet, sondern immer schneller immer neue Freiheiten draufgelegt. Und parallel hat sich der Rückgang der Inzidenzen weiter beschleunigt, auch die Zahl der Covid-19-Patienten auf den deutschen Intensivstationen ist seit Anfang Mai von 5011 auf 1854 gefallen – ein Rückgang um fast zwei Drittel innerhalb von fünf Wochen.
Oberflächlich korrekt könnte man nun sogar eine verwegene Korrelationsbehauptung aufstellen: Je mehr sich die Deutschen coronamäßig entspannten, desto stärker das Minus bei den Neuinfektionen. Was natürlich von den Kausalitäten her gesehen Unsinn wäre. Doch fest steht: Priesemann und andere Modellierer und Virologen lagen falsch mit ihren Warnungen. Warum? Weil auch sie sich schwertun mit der Bestimmung der genauen Kausalitätsketten.
Warum sinken die Inzidenzen
nun eigentlich so stark?
Welchen Einfluss hat der Fortschritt der Impfkampagne wirklich auf den Absturz der Zahlen? Bei welchem Prozentanteil erst- und zweitgeimpfter Menschen befinden sich die entscheidenden Kipp-Punkte? Wie hat sich die (fast schon vergessene) Bundesnotbremse auf das Risiko-Verhalten der Bevölkerung ausgewirkt? Wie die zuletzt fast überfallartigen Öffnungen von Biergärten, Einzelhandel, Theatern, Freibädern und zuletzt vielerorts sogar von Fitness-Studios und Restaurant-Innenräumen? Welche Folgen haben Frühlingswetter und Sonnenstrahlung – auf die Menschen, aber auch auf das Virus direkt?
Die Forschung liefert Anhaltspunkte für dieses und jenes. Erstaunlich genau gibt zum Beispiel Charité-Chefvirologe Christian Drosten mit Hinweis auf eine in Science erschienene Studie den saisonalen Effekt mit lediglich 20 Prozent an, doch schwanken die Werte je nach Publikation stark und reichen bis zu 40 Prozent.
Was die Bundesnotbremse angeht, so bekräftigt etwa Kanzlerin Merkel, die Maßnahmen hätten eine starke Wirkung entfaltet, ähnliches sagen aber auch Forscher wie Thorsten Lehr, Professor für Klinische Pharmazie, der den "Covid-19-Online-Simulator entwickelt hat. Für die Wirkung der Notbremse spreche, dass der Abwärtstrend bei den bundesdeutschen 7-Tages-Inzidenzen so abrupt begonnen habe, erklärte Lehr am Wochenende im Deutschlandfunk.
Während der Datenexperte Sten Rüdiger schon Anfang Mai durch Mobilitätsanalysen zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes rein gar nichts gebracht hätten. So weit wollten Statistiker der Münchner Universität vergangene Woche nicht gehen, betonten aber: Sie hätten festgestellt, dass das Einsetzen der Lockdown-Maßnahmen und das Absinken des Infektionsgeschehens nicht zusammengefallen seien, weder beim Lockdown Light im November noch bei der Bundesnotbremse im April.
Tatsächlich bewegte sich der Rückgang der deutschen 7-Tages-Inzidenzen nahezu im Gleichschritt mit anderen europäischen Ländern – wiederum unabhängig davon, wie stark oder weniger stark sie in den vergangenen Wochen gelockert haben.
Das Gleiche gilt übrigens auch für den innerdeutschen Vergleich. In allen Bundesländern gehen die gemeldeten Neuinfektionen seit Wochen rapide zurück – unabhängig davon, ob sich Ministerpräsidenten demonstrativ dem "Team Vorsicht" zuordneten und zunächst noch auf die Bremse traten bei den Lockerungen – oder ob sie, anfangs unter dem Label von später nie ausgewerteten "Modellprojekten", und dann ab einer gewissen Inzidenz einfach so, noch früher öffneten, was das Zeug hielt.
So bleibt am Ende nur die Erkenntnis: Die Zahlen sinken, und das hat auf jeden Fall zu tun mit dem Wetter und sicherlich auch mit dem Impfen. Vielleicht auch irgendwie mit den von der Politik bestimmten Regeln, vielleicht aber auch nicht. Denn am Ende entscheidet das Verhalten der Leute, ob die Maßnahmen wirken. Nur dass man nicht exakt vorhersagen, ja oft nicht einmal im Nachhinein erklären kann, wann und warum die Leute sich wie verhalten. Und genau das, dieses Nichtwissen und diese Unsicherheit in Folge mangelhafter Daten sollten wir uns auch so eingestehen, und die Modellierer und Virologen sollten es noch viel öfter zugeben.
Was wir wissen: Die Schulöffnungen
haben nicht geschadet
Was wir aber wissen: was alles nicht die Inzidenzen hochgetrieben hat in den vergangenen Wochen. Und da spiele ich vor allem auf die Schulöffnungen an. Aus der Entwicklung der Corona-Zahlen in den einzelnen Bundesländer allein könnte jedenfalls selbst der gewiefteste Mathematiker kaum Rückschlüsse ziehen, ob dort gerade Ferien sind oder wie hoch der Anteil der Schüler in Wechsel- oder vollem Präsenzunterricht liegt.
Zum Beispiel die drei Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, in denen die Schüler (insofern sie nicht noch Distanz- oder Wechselunterricht hatten) wegen der Pfingstferien zuletzt am 21. Mai in der Schule waren. Dort sanken die vom RKI gemeldeten Neuinfektionen in den vergangenen zwei Kalenderwochen (bis einschließlich Sonnabend) um 64 Prozent. Zum Vergleich die vier Bundesländer Schleswig-Holstein, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, in denen nur die Feiertage frei waren und ansonsten inzwischen größtenteils Regelunterricht herrscht: Hier betrug das Minus zwischen Kalenderwoche 20 und 22 bis einschließlich Sonnabend 67 Prozent. Der Rückgange in Prozent werden, wenn die Daten für die vergangene Kalenderwoche vollständig vorliegen, noch etwas geringer ausfallen. Aber was zählt, ist der Vergleich.
Etwas anders die Situation, wenn man sich allein die Meldezahlen der 5- bis 14-Jährigen ansieht, also der Schüler. Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz: ebenfalls minus 64 Prozent. Schleswig-Holstein, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt: minus 58 Prozent. Doch ist der Rückgang bei den Nicht-Ferienländern erstens zwar geringer, aber immer noch außerordentlich stark – und zweitens ist die Differenz nicht so groß, dass sie sich nicht möglicherweise durch andere Effekte wie Testzahlen etc. erklären ließe.
Mit anderen Worten: Alle Mahnungen, ja vorsichtig zu sein mit der Rückkehr zu vollen Klassen, haben sich bislang als haltlos erwiesen (siehe auch meine Analyse vom 31. Mai). Und das, obwohl null Prozent der Kinder und Jugendlichen geimpft sind.
Kinder werden bei den Öffnungen
immer noch nachrangig behandelt
Umso ärgerlicher, dass sogar bei den Öffnungen Kinder immer noch nachrangig behandelt werden. Berlins Senat etwa ließ sich erst durch einen Gerichtsentscheid widerwillig bewegen, doch noch vor den Sommerferien zum Regelunterricht zurückzukehren – schaffte aber in der gleichen Senatssitzung die Testpflicht für die Außengastronomie ab und erlaubte den Restaurants, ihrer Innenräume zu öffnen.
Und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) verkündete, ab 7. Juni die Grenze für offene Restaurants und Einzelhandel auf eine 7-Tages-Inzidenz von 100 anzuheben, bei Läden sogar ganz ohne Test. Während Schulen in Bayern bei über 50 immer noch in den Wechselunterricht gehen müssen. Das soll sich erst am 21. Juni ändern, dann gilt auch dort die 100er-Grenze, natürlich aber weiter mit zwei Pflichttests pro Woche. Bei den Jüngeren seien die Inzidenzen meist etwas höher als in der Gesamtbevölkerung, sagte Söder zur Begründung – obwohl er wissen sollte, dass die Inzidenzen der Schüler durch die Reihentests nicht vergleichbar sind mit dem Rest der Bevölkerung.
Zudem müsste es in einer solidarischen Gesellschaft eigentlich genau umgekehrt sein. So sehr, wie die Kinder und Jugendlichen in den vergangenen Monaten durch die (Teil-)Schließungen von Kitas, Schulen und Freizeitangeboten zum Teilhabe-Verzicht gezwungen wurden, so grundsätzlich, wie ihnen das Grundrecht auf Bildung eingeschränkt wurde, so müsste die Priorität der Politik jetzt darin bestehen, ihr so oft gegebenes Versprechen zu erfüllen. Was bedeuten würde, den Kindern und Jugendlichen vor allen anderen die Rückkehr zu so viel Normalität wie möglich zu gestatten.
Klar könnte man jetzt entgegnen: Was sind schon ein paar Tage oder Wochen. Doch erstens sind ein paar Tage oder Wochen in der Wahrnehmung und und für die Entwicklung von Kindern mehr als für Erwachsene, und zweitens besteht angesichts der gesamtgesellschaftlichen Öffnungsorgien die Gefahr, doch noch wieder höhere Corona-Zahlen heraufzubeschwören.
Was, wenn die Delta-Variante
auch in Deutschland stark wird?
So warnen Intensivmediziner davor, dass sich die in Indien entdeckte Delta-Variante des Virus auch in Deutschland in den nächsten Wochen schrittweise durchsetzen werde. Wenn die Menschen unvorsichtig würden, könnten die Infektionszahlen wieder hochschnellen, sagt der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, Gernot Marx, in der Rheinischen Post – bis hin zu einer vierten Welle.
Wenn die Menschen unvorsichtig "würden"? Sind sie es nicht längst – wenn ein Bundesland nach dem anderen zum Beispiel bei schönstem Wetter die Restaurant-Innenräume aufsperrt und ohne Not die Testpflicht für die Außengastronomie abschafft – und so die Quote der Schnelltests unter Erwachsenen (natürlich im Gegensatz zu der unter Schülern) massiv sinken wird?
Max-Planck-Forschern Priesemann sagte, sie halte Sieben-Tages-Inzidenzen von 100 Neuinfektionen je 100.000 Menschen für möglich. "Ich befürchte, das kann ganz schnell gehen, auch im Sommer." Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach sagte indes der Welt am Sonntag, auch im Falle einer vierten Welle im Herbst werde man keinen Lockdown mehr brauchen.
Klar, Priesemann hat auch vor wenigen Wochen falsch gelegen. Aber so wenig, wie Virologen den aktuellen Rückgang der Inzidenzen verlässlich erklären können – wissen wir wirklich, wie sich die Delta-Variante auf Inzidenzen, Erkrankungsverläufe und Ansteckungswege auswirkt vor allem bei denen, die noch nicht geimpft sind oder sich nicht impfen lassen wollen? Fest steht jedenfalls, dass zuletzt die Zahl der Neuinfektionen in England, wahrscheinlich aber auch in anderen Teilen des Vereinigten Königreichs, auf niedrigem Niveau, aber deutlich gestiegen ist – wegen der Delta-Variante und trotz höherer Impfquote. Die neue Mutation soll um 40 Prozent ansteckender sein als die zuerst in Großbritannien entdeckte Alpha-Variante, sagte der britische Gesundheitsminister Matt Hancock am Sonntag der BBC.
Was es wohl mit der auf Entspannung eingestellten Bevölkerung hierzulande machen würde, wenn plötzlich die Infektionszahlen wieder hochgingen? Würde dann die Panik wieder um sich greifen, würde der Druck auf die Politik doch wieder zunehmen, neue Gegenmaßnahmen zu beschließen – vor allem bei den dann immer noch Umgeimpften? Und was würde das für die Kinder und Jugendlichen und ihr Recht auf Bildung und Teilhabe bedeuten? Wenn Politiker wie Markus Söder sogar jetzt noch damit argumentieren, deren Inzidenzen lägen höher, was werden sie dann in so einem Fall sagen und tun?
Viele Fragen, doch eine Antwort gilt in jedem Fall: Die Art und Weise, wie die Politik derzeit aller Vorsichtsmaßnahmen fallen lässt, wie sie vor allem den Erwachsenen signalisiert, sich immer noch lockerer zu machen, könnte noch einen Preis erneuter Einschränkungen haben. Und so, wie unsere Gesellschaft das ganze vergangene Jahr über durch die Corona-Krise navigiert ist, wie sie – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern – etwa Homeoffice-Pflicht und Ausgangssperren lange mied und dann nur zögerlich umsetzte, gleichzeitig aber – wiederum im Gegensatz zu anderen Ländern – die Schulen umso länger und umso gründlicher schloss, steht erneut zu befürchten: Zahlen dürften diesen Preis einmal mehr vor allem die Kinder.
Vielleicht sollten wir alle schon deshalb noch ein bisschen länger vorsichtig sein. Doch, von wegen Ursachen und Wirkungen, wer will solche Warnrufe in diesen Tagen eigentlich noch hören?
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