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Pizzastücke sortieren, Bruchrechnen kapieren

Leistungsschwächere Schüler profitieren besonders vom Tablet-Einsatz an Schulen, hat ein Münchner Forschungsteam herausgefunden. Woran das liegt und was das für den Unterricht nach Corona bedeutet, sagt die Mathematik-Didaktikerin Kristina Reiss.

Kristina Reiss ist Professorin für die Didaktik der Mathematik an der TU München und war bis 2021 Dekanin der TUM School of Education. 

Frau Reiss, Sie haben in einer Studie mit rund 1000 bayerischen Schülern herausgefunden, dass Kinder an Mittelschulen vom Tablet-Einsatz deutlich profitierten, während Gymnasiasten die Nutzung eines digitalen Schulbuchs kaum einen Vorteil brachte. Wie erklären Sie sich das?

 

Das hat etwas damit zu tun, wie wir mathematische Inhalte erfassen, in diesem Fall die Bruchrechnung: Leistungsstärkere Schüler haben meist schon eine Vorstellung, ein Bild von Bruchzahlen im Kopf, weshalb sie auch mit abstrakten Aufgaben umgehen können. Leistungsschwächeren Schülern dagegen hilft es gerade am Anfang, wenn sie zum Beispiel eine konkrete Pizza vor sich sehen,


die aus einzelnen Stücken besteht, die sie per Touchscreen nach Belieben hin- und herschieben und kombinieren können.  

 

Was war das eigentlich für ein digitales Schulbuch?

 

Wir haben es in Tablet-Form neu entwickelt und alles reingepackt, was sich in der Forschung als didaktisch vorteilhaft erwiesen hat. Es stellt neue mathematische Begriffe in Bildern dar und ist durchgehend anwendungsorientiert, bietet also für alle Inhalte praktische Beispiele. Es ist adaptiv und passt sich beim Üben dem Leistungsstand jedes Kindes an, das noch dazu selbst entscheiden kann, welche Erklärungen es wie oft wiederholt. Und das Schulbuch gibt Feedback, womit jedes Kind weiß, an welchen Stellen es noch mehr üben muss. 

 

Und was haben Sie damit gemacht?

 

Wir sind mit unseren Tablets in 45 sechste Klassen gegangen und haben ein Drittel der Schüler damit arbeiten lassen. Das zweite Drittel hat ebenfalls das neu entwickelte Lernmaterial bekommen, inklusive aller Bilder, Konzepte und Übungen – aber nur als Ausdruck auf Papier. Die dritte Gruppe hat weiter mit traditionellen Lehrbüchern gearbeitet. Und nach 15 Unterrichtsstunden haben wir dann den erreichten Kompetenzfortschritt verglichen. 

 

Eigentlich hatten Sie dann ja sogar sechs Gruppen, weil sie die Drittelung an Mittelschulen und Gymnasien vorgenommen haben.

 

Richtig. Ein Vortest hatte ergeben, dass Gymnasiasten im Schnitt leistungsstärker waren als Mittelschüler, was den Vergleich noch aufschlussreicher macht. Denn die Gymnasiasten waren nach den 15 Stunden im Lösen abstrakter Rechenaufgaben immer in etwa gleich gut – unabhängig davon, zu welcher der drei Gruppen sie gehört hatten. Leistungsstärkere Schüler brauchen also offenbar die eigene Handlung oder die bildliche Darstellung nicht so sehr zum Verständnis, und sie profitieren auch nicht davon, dass das digitale Schulbuch sich ihrem Lerntempo anpasst und ihnen Feedback gibt. Vermutlich weil sie sich schon selbst gut organisieren können.



Also kann man sich bei Gymnasiasten die Mühe mit dem digitalen Schulbuch sparen? 

 

Das dann doch nicht. Erstens weil es auch an Gymnasien eine deutliche Leistungsspreizung gibt und weil wir zweitens schon interessante Unterschiede festgestellt haben: Auch die Gymnasiasten-Gruppe mit dem ausgedruckten Schulbuch hat am Ende zumindest die bildlich dargestellten Bruchrechen-Aufgaben signifikant besser beherrscht als die Schüler, die mit dem traditionellen Lehrmaterialen arbeiten mussten. Doch erzielte die Tablet-Gruppe demgegenüber keinen weiteren Vorteil. Das war bei den Mittelschülern anders: Da konnte die Tablet-Gruppe zum Schluss deutlich mehr als die Schüler mit den Ausdrucken, die aber wiederum besser mit Brüchen umgehen konnten als die Kontrollgruppe mit den herkömmlichen Schulbüchern.

 

Was bedeutet das?

 

Das bedeutet, dass sich Unterrichtsmaterialien, die bildlich und anwendungsnah mathematische Begriffe vermitteln, für alle Leistungsgruppen lohnen. Und dass sich Lehrkräfte für den anschaulichen Erwerb mathematischer Konzepte immer ausreichend Zeit nehmen sollten, bevor sie ins Abstrakte wechseln. Es bedeutet aber auch, dass der zusätzliche Nutzen adaptiver Lernumgebungen für leistungsschwächere Schüler wichtiger ist – worin eine große Chance liegt: Gerade nach den vielen Monaten der Schulschließungen steht zu befürchten, dass viele Kinder noch stärker abgehängt wurden. 

 

Sie mussten die Tablets für Ihre Untersuchung noch mitbringen. Die Technik zumindest sollte jetzt ja da sein.

 

Das ist zu hoffen. Auf jeden Fall haben die Schulen im vergangenen Jahr viel über computergestützten Unterricht gelernt. Und auch an modernen, adaptiven Lernmaterialien ist viel entstanden. Allerdings ist der Markt sehr unübersichtlich geworden, all die Angebote müssten von den Kultusministerien jetzt dringend systematisiert und geordnet werden, damit Lehrkräfte und Schulen sie einsetzen können. Aber es lohnt sich. 

 

Dieses Interview erschien in gekürzter Fassung zuerst in meinem Newsletter.

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