Heute ist Bewerbungs-Deadline im weltweit ersten "Parastronaut"-Projekt. Schickt die ESA künftig auch Menschen mit Behinderungen ins All? Während die Weltraumbehörde von einem Signal für mehr Diversität spricht, befürchten Kritiker eine Alibi-Veranstaltung.
Wer kommt in Frage? Grafik von der Website des ESA-"Parastronaut"-Projekts (Screenshot).
"IN DER SCHWERELOSIGKEIT sind wir alle gleich", sagte der Ex-Generaldirektor der Europäischen Weltraumagentur (ESA) neulich beim Nationalen MINT-Gipfel, als er über die Bedeutung von Diversität für Wissenschaft und Technik sprach. Deshalb habe die ESA bei ihrer neuen Ausschreibung für Astronauten gezielt Frauen und Männer angesprochen. Zum anderen, fügte er sichtlich begeistert hinzu, "haben wir aber auch Parastronauten, also Menschen mit Behinderung aufgerufen, sich zu melden."
Jan Wörner war sechs Jahre lang Chef der ESA, im Februar endete seine Amtszeit. Die Ausschreibung, von der er sprach, war eine seiner letzten Amtshandlungen. Heute ist Deadline. Die Zahl der Bewerber habe schon eine Woche vor Ablauf der Frist bei über 100 gelegen, teilte die Weltraumagentur auf Anfrage mit.
Dass die Teilnehmer des "Parastronaut Feasibility Project" tatsächlich ins All fliegen, verspricht die ESA zwar nicht. Aber sie versichert, Ziel sei genau das, und das Programm sei der Versuch, den Weg zu diesem Ziel zu bereiten. Deutet sich hier also tatsächlich eine bahnbrechende Innovation an? Wird die ESA zum internationalen Vorreiter gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung?
Sechs Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen aus Deutschland und Polen äußern sich in einem heute erschienen Kurzbeitrag im Magazin Science weniger enthusiastisch.
Zwar unternehme die ESA mit der Ausschreibung etwas, das es in der Geschichte der bemannten Raumfahrt noch nicht gegeben habe. Und dafür, dass die Agentur den 75 Millionen Menschen mit Behinderung, die in den 22 ESA-Mitgliedsstaaten leben, die Gelegenheit für eine Bewerbung gebe, "sind wir dankbar", schreiben die Autoren, darunter Christiane Heinicke und Johannes Schöning von der Universität und Benjamin Tannert von der Hochschule Bremen. Auch sei es ein "gigantischer Sprung" nach vorn, dass überhaupt Astronautenkandidaten mit körperlichen Herausforderungen zugelassen würden, nachdem ihre Vorgänger in der Frühphase der Raumfahrt ihre Füße sieben Minuten in Eiswasser halten, zwei Stunden in einem 55 Grad warmen Raum verbringen und den Aufenthalt in einem um sich selbst rotierenden Stuhl hätten ertragen müssen.
ESA-Pläne "alles andere
als revolutionär"?
Und doch: Die gegenwärtigen Pläne der ESA seien "alles andere als revolutionär". Vor allem weil sie darauf abzielten, nur solche Parastrounauten auszuwählen, die sich mit ihren Behinderungen ohne Weiteres in die Gruppe der übrigen Astronauten einfügen könnten. Weshalb laut Ausschreibung nur solche Behinderungen das Mitmachen ermöglichten, von denen erwartet werde, dass sie sich im All am wenigsten auswirken würden.
Tatsächlich lässt die ESA derzeit nur drei Behinderungen zu. Erstens: Einschränkungen der Füße oder Beine unterhalb des Knies inklusive Amputationen. Zweitens: unterschiedliche Beinlängen durch Geburt oder durch eine Verletzung. Drittens: eine Körpergröße von unter 130 Zentimetern. Mehr nicht. Kann man da wirklich umfassend von einem Astronauten-Programm für Menschen mit Behinderungen sprechen?
Die sechs Kritiker des Programms sagen: Nein. Eine Beschäftigung mit der Frage, welche Stärken Menschen mit Behinderungen mitbrächten und was sich durch sie lernen lasse, finde kaum statt. "Mit anderen Worten", fügen die Autoren hinzu: "Die ESA denkt, die Gesellschaft erwartet von ihr, Menschen mit Behinderungen einzubeziehen, anstatt tatsächlich der Meinung zu sein, Menschen mit Behinderungen seien wirklich hilfreich" für die Raumfahrt.
Also alles nur Schein? "Inklusion um der Inklusion willen", wie die sechs Wissenschaftler der ESA vorwerfen?
Die Weltraumagentur weist das zurück. Immer wenn man etwas Neues anfange, sei nun einmal mit Kritik zu rechnen, heißt es aus der ESA-Pressestelle. "Einige Leute finden, die Neuerungen gehen zu weit, andere sind der Meinung, sie gehen nicht weit genug." Im Übrigen wolle man noch einmal betonen, "dass wir wirklich versuchen, inklusiver zu werden. Was wir aber nicht wollen: Erwartungen wecken, die vielleicht nicht erfüllt werden können, weil Probleme auftauchen könnten, die wir jetzt noch nicht kennen." Man versuche etwas völlig Neues, und das obwohl die ESA gar kein eigenes Raumschiff für die bemannte Raumfahrt habe. Weshalb sie mit ihren Partnern, darunter auch kommerzielle US-Unternehmen, werde zusammenarbeiten müssen, um mögliche praktische Probleme zu lösen. Was das alles für das Design neuer Raumschiffe bedeute, sei eine Langzeit-Frage. Insofern müsse man realistisch bleiben.
Ist der Science-Artikel am Ende doch nur Ausfluss der Besserwisserei von Wissenschaftlern?
Man könnte viel umfangreicher von
und mit den BewerberInnen lernen
Von wegen, sagt Mitautor Johannes Schöning von der "Human-Computer-Interaction"-Forschungsstelle der Universität Bremen. Es sei ja "klasse", dass die ESA ein solch wichtiges Programm auf die Beine gestellt habe, doch "mit einer weiter gefassten Ausschreibung hätte man die Möglichkeit, viel mehr von und mit den BewerberInnen und deren vielfältigen Möglichkeiten zu lernen."
Ihrem Artikel haben die Wissenschaftler deshalb eine Liste weiterer Behinderungen zugefügt, die ihres Erachtens Teil künftiger Ausschreibungen werden sollten, und sie begründen bei jeder der aufgeführten Behinderungen auch, warum diese eine sinnvolle Ergänzung sein könne. Beispiel sensorische und motorische Einschränkungen: Weil das zentrale Nervensystem von der Weltraumstrahlung beeinträchtigt werde, könne ein Astronaut mit der entsprechenden Behinderung in der Lage sein, besser mit einer solchen Situation klarzukommen.
Der Kern der Kritik der Autoren sei und bleibe auf die "generelle Denkweise" gerichtet, "mit dem das Projekt geplant und durchgeführt wird und welche sich auch in den Antworten der ESA auf unser Paper widerspiegelt". Es müsse darum gehen, nicht schon vorab "gewisse Gruppen aus dem Gestaltungsprozess auszuschließen". Durch das "Einbeziehen einer möglichst diversen Gruppe an Menschen" könnten sich neue und spannende Lösungswege eröffnen, die sonst verborgen blieben.
Die ESA sagt derweil, sie sei dankbar für "praktischen Rat und Vorschläge". Im Übrigen schiebt sie die Verantwortung ein Stück weiter: Wenn es irgendwann darum gehe, den Flug eines ersten Parastronauts zu finanzieren, "dann werden wir erfahren, ob die Regierungen Europas unsere Motivation teilen".
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