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"Wir dürfen die Studierenden nicht mehr lange hinhalten"

Warum er möglichst schnell zur Präsenzlehre zurückwill, was das für die Impfkampagne bedeutet und warum die Hochschulen nicht nur von der Politik fordern, sondern auch selbst mutiger sein müssen: ein Interview mit dem Frankfurter Uni-Präsidenten Enrico Schleiff.

Enrico Schleiff, Physiker und Biologe, ist seit Januar 2021 Präsident der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Foto: Goethe-Universität.

Herr Schleiff, wird das Wintersemester an der Goethe-Universität wieder ein normales sein?

 

Es wird sicherlich noch kein ganz normales Semester werden. Wobei für mich die entscheidende Frage anders lautet: Was wird nach Corona eigentlich normal sein?

 

Anfang Mai haben Sie per Präsidiumsbeschluss eine weitgehende Rückkehr zur Präsenzlehre angekündigt. "Wir wollen den Studierenden ein positives Signal senden", sagten Sie. "Eine Botschaft des Optimismus." Ist dieser Optimismus noch da?

 

Das ist er. Unsere Berechnungen zeigen, dass Deutschland die Herdenimmunität selbst dann bis zum Herbst erreichen kann, wenn über die Sommerzeit die Zahl der täglichen Erstimpfungen zurückgehen sollte. Natürlich besitzen auch wir keine Glaskugel, ob nicht doch noch irgendeine Mutante auftaucht, die nicht von den Vakzinen erfasst wird. Aber trotz solcher Unsicherheiten: Die Studierenden haben ein Anrecht darauf, frühzeitig zu erfahren, wie es weitergeht. Viele befinden sich zu Hause bei Ihren Eltern, teilweise auch im Ausland. Sie müssen jetzt planen, wo sie das Wintersemester verbringen werden. Wir dürfen sie nicht mehr lange hinhalten. Wir müssen uns trauen, als Hochschulen eine Entscheidung zu treffen.

 

Lehnen Sie sich da nicht ganz schön weit aus dem Fenster?

 

Ich hoffe, dass die Politik uns nicht hängen lässt. Es sorgt mich schon, wenn die großen Impfzentren jetzt geschlossen werden sollen und alles auf die Hausärzte verlagert wird. Viele junge Erwachsene waren das letzte Mal in der Pubertät krank, damals gingen sie oft noch zum Kinderarzt. Seitdem hatten sie meist keinen Grund, sich einen Hausarzt zu suchen, also haben sie auch keinen. Insofern: Wenn wir bei den 21- bis 25-Jährigen nicht doch noch Probleme beim Durchimpfen bekommen wollen, müssen Bund und Länder jetzt sagen, wie man dieser Altersgruppe möglichst bald Impfangebote machen kann.



Tun sie das nicht schon? Gerade hat zum Beispiel Bayerns Wissenschaftsminister Bernd Sibler (CSU) angekündigt, "mit zielgerichteten Impfaktionen auch Studierende in Bayern in die bayerische Impfstrategie einzubeziehen". Baden-Württemberg startet ein Impf-Modellprojekt für Studierende in Stuttgart. Und die rheinland-pfälzische Landesregierung will in der zweiten Juliwoche 30.000 Impfdosen an junge Erwachsene verimpfen, schwerpunktmäßig an sechs Hochschulstandorten. 

 

Womit Sie drei von 16 Bundesländern genannt haben. 

 

Beispielhaft.

 

Und ich gebe Ihnen Recht. Da kommt zum Glück etwas in Bewegung. Das liegt aber ja gerade daran, dass wir als Hochschulen Druck machen. Viel zu lange wurde hauptsächlich über Schulen diskutiert oder auch über ältere Menschen, was zu der jeweiligen Zeit auch richtig war. Doch wurde weitgehend ignoriert, dass auch Hochschulen Orte sind, an denen immerhin fast drei Millionen junge Menschen zusammenkommen und auch zusammenkommen sollen.

 

Weil die Hochschulrektoren bei der Lobbyarbeit versagt hatten?

 

Ich kann uns da nicht ganz aus der Verantwortung nehmen. Fakt ist aber auch, dass es sehr wohl seit Monaten aus den Hochschulen immer wieder Warnungen gab, die Studierenden nicht zu vergessen. Fakt ist aber auch, dass es in der Hochschulrektorenkonferenz sehr unterschiedliche Positionen zu der Frage gibt, wann die Zeit gekommen ist, zum Präsenzstudium zurückzukehren. Die einen sagen: Lasst uns so weit wie möglich öffnen, und zu denen zähle ich mich. Andere aber fürchten: Das ist zu früh und noch zu gefährlich.

 

"Wir brauchen eine hohe Impfquote. Alles Übrige ist dann eine Frage von wirksamen Hygienekonzepten."

 

Womöglich aus gutem Grund? Was ist denn, wenn bis zum Wintersemester doch nur ein Teil der Studierenden geimpft ist? Gibt es dann für die einen Normalität, für die anderen weiter Distanzlehre?

 

Unser Ziel weitgehender Präsenz hing nie davon ab, dass im Herbst alle Studierenden geimpft sind. Das wäre illusorisch. Es gibt Leute, die wollen sich nicht impfen lassen, andere dürfen aus gesundheitlichen Gründen gar nicht geimpft werden. Wir brauchen aber eine hohe Quote, das schon, und die ist wie gesagt realistisch. Alles Übrige ist dann eine Frage von wirksamen Hygienekonzepten. Jede Lehrveranstaltung in Präsenz wird weiter ein solches Konzept brauchen. Aber das ist doch keine Zauberei. Ob Maskenpflicht, Raumbelegungen oder Belüftung: Unsere Arbeitsmediziner sind nach anderthalb Jahren geübt, passgenau zu sagen, was für welches Szenario nötig ist. 

 

Die Hochschulen sollten also selbst entscheiden dürfen, was geht und was nicht?

 

Das ist unser Beitrag. Wir können nicht immer nur Forderungen an die Politik richten, wir müssen auch selbst etwas tun. Das heißt: Wir müssen als Hochschulen mutiger sein, aber nicht übermütig. Und um es konkret zu machen: Wir wollen die Freiheit haben, zu einem universitären Leben zurückzukehren, und im Gegenzug werden wir mit diesen Freiheiten sehr verantwortungsvoll umgehen. Als Goethe-Universität tauschen wir intern, aber auch mit anderen Hochschulen ständig unsere Erfahrungen aus, diskutieren verschiedene Modelle. Und wir haben Erfolg damit: Zum Beispiel haben wir die Prüfungen im Sommersemester weitgehend in Präsenz durchgeführt und hatten keine einzige Infektionskette aus der Universität heraus.  

 

Das ist mir noch nicht konkret genug. Plädieren Sie für die Abschaffung der generellen Abstandsregel in den Hochschulen?

 

Man sollte uns zugestehen, dass wir selbst wissen, was wir machen können und was nicht. Diese Freiheit brauchen wir auch vom Gesetzgeber. Wenn wir mit Gesetzen und Verordnungen zu Mindestabständen und ähnlichem konfrontiert werden, wird die Rückkehr zu mehr Präsenz nicht gelingen, weil wir unsere Räume dann weiter durch die Bank nur zu zehn oder 20 Prozent auslasten könnten. Solche pauschalen Vorgaben sind jedoch nicht angemessen. Am Ende liegt die Verantwortung bei mir als Universitätspräsident und dem Präsidialteam. Diese Verantwortung bin ich bereit zu tragen. Und viele meiner Kolleginnen und Kollegen an anderen Hochschulen sind es ebenfalls. Wir haben eine Verpflichtung gegenüber unseren Studierenden, ihnen wieder eine ganzheitliche universitäre Bildung zu ermöglichen. 

 

"Sie kamen aus dem Online-Schulunterricht
und gingen direkt weiter ins digitale Studium."

 

Was würde denn ein weiteres Distanzsemester für die Studierenden bedeuten?

 

Der Standard-Master dauert vier Semester. Wir sind jetzt im dritten Distanzsemester. Noch eines, und es wird Absolventen geben, die unsere Universität nie von innen gesehen haben. Oder denken Sie an Bachelor-Studienanfänger, die auch im zweiten Studienjahr nie wirklich im Studium ankommen konnten. Sie kamen aus dem Online-Schulunterricht und gingen direkt weiter ins digitale Studium. Was bedeutet das gerade für junge Menschen, die zu Hause keine Unterstützung haben von Eltern, die selbst studiert haben? Wie sollen sie sich da selbst entfalten lernen?

 

Geht Selbstentfaltung denn wirklich nur in Präsenz?

 

Zumindest entgehen Studierenden ohne Präsenz ganz wesentliche Elemente akademischen Lernens, und damit meine ich den direkten Austausch, das Netzwerken, aber auch und gerade die zufälligen interdisziplinären Begegnungen, wenn sich Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen in der Mensa treffen. Ich rede nicht nur von entgangenen Erfahrungen, sondern auch von der emotionalen Belastung, allein bei den Eltern oder in der Studierendenwohnung zu hocken und dabei den Druck zu spüren, irgendwie mit der Situation klarkommen zu müssen. Und all das trifft dann noch auf den Selbstanspruch vieler Studierender, ins Erwachsenenleben zu starten, auch finanziell unabhängiger zu werden von den Eltern oder vom BAföG. Doch auch die Studierendenjobs fehlen.

 

Wenn Sie so sehr fürs Präsenzstudium plädieren, nehmen Sie dann nicht den Druck von der Politik, für eine vernünftige digitale Ausstattung der Hochschulen zu sorgen?

 

Wir sollten uns davor hüten, das eine gegen das andere auszuspielen. Richtig ist, dass die Hochschulen einerseits Leuchttürme der Digitalisierung sind, was die Entwicklung neuer Lerntechnologien oder didaktischer Konzepte angeht. Andererseits ist die technische Ausstattung vieler Gebäude nicht viel besser als die an den Schulen, nicht einmal schnelles WLAN ist überall selbstverständlich. Von vernünftigen Data-Management-Systemen oder der Infrastruktur zum digitalen Vorhalten von Forschungsdaten – Stichwort Open Science – ganz zu schweigen. Deshalb brauchen wir dringend ein Finanzpaket für die Digitalisierung inklusive Digitalisierungspauschale, wie es die Hochschulrektorenkonferenz vorgeschlagen hat. 

 

Wird es die Massenvorlesung nach Corona noch geben?

 

Zumindest wird sie dasjenige Lehrformat sein, das am stärksten auf dem Prüfstand steht, und zwar zu Recht. Seit Jahren ist klar, dass die digitale Vermittlung reinen Wissens klug aufbereitet sehr viel besser funktionieren kann. Zugleich entstehen dann Freiräume, das Gelernte in kleineren Gruppen vor Ort zu diskutieren und weiterzudenken. Corona zwingt uns, hier ohnehin neu zu denken. Nutzen wir die Gelegenheit.

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Kommentare: 4
  • #1

    Jan (Freitag, 02 Juli 2021 08:59)

    Bedeutet Verantwortung nehmen dann auch, dass Herr Schleiff bei einer Infektionskette an seiner Uni zurücktritt? Oder bei drei Infektionsketten?

  • #2

    Amity Blight (Freitag, 02 Juli 2021 12:30)

    Ganz kurz, auch wenn's wahrscheinlich nicht so beabsichtigt war. Ich finde diesen, auch von Schleiff immer wieder proklamierten Begriff der neuen "Normalität" einfach furchtbar. Es sterben tagtäglich so viele Menschen wegen diesem scheußlichen Virus, unzählige Familien verlieren ihre Angehörigen, die grausam aus dem Leben gerissen werden, selbst bei niedriger Inzidenz werden täglich so viele Personen wegen der Seuche in den Tod geführt. Für mich entspricht dies in keinster Weise eine "Normalität" und es sollte auch nicht so benannt werden.

  • #3

    Edith Riedel (Freitag, 02 Juli 2021 22:47)

    "Wenn wir mit Gesetzen und Verordnungen zu Mindestabständen und ähnlichem konfrontiert werden, wird die Rückkehr zu mehr Präsenz nicht gelingen, weil wir unsere Räume dann weiter durch die Bank nur zu zehn oder 20 Prozent auslasten könnten. Solche pauschalen Vorgaben sind jedoch nicht angemessen."

    Man merkt schon, dass Herr Schleiff noch mehr Professor als Präsident ist. Die Prämisse, dass Gesetze und Verordnungen immer nur für die anderen gelten sollen, ist so professoral wie falsch. Verschärfend kommt hinzu: die Universitäten leiden alle, ganz unabhängig von Corona, unter extremer Raumnot. Auch zu Nicht-Coronazeiten sind die räumlichen Bedingungen prekärst. Studierende aber auch Mitarbeiter*innen werden in viel zu engen Räumen zusammengepfercht. Studierende auf den Treppenstufen und Fußböden von Hörsäälen und Seminarräumen sind ein Zeichen von Raumnot, nicht von romantisierend verkanntem überbordenden Interesse. Mitarbeiter*innen, insbesondere Promovierende, die zu viert oder fünft in ein Büro von unter 20 Quadratmetern gepfercht werden, sind ebenfalls ein Zeichen von Raumnot, nicht von engem wissenschaftlichem Austausch. Eine Rückkehr zu diesen Verhältnissen zum aktuellen Zeitpunkt wäre mehr als verfehlt.

  • #4

    Christoph (Samstag, 03 Juli 2021)

    Eine Antwort auf die angesprochene entscheidende Frage ist doch: Studierende werden Möglichkeiten nutzen mit Koryphäen der Wissenschaft zu debattieren, wie beispielsweise mit Noam Chomsky, MIT. Ja, so etwas war auch bereits vor Corona möglich, aber die Pandemie wird sich positiv aus wirken und Chomsky ist nur ein Beispiel von vielen.