In immer mehr Bundesländern starten die Ferien, doch die Debatte um den Corona-Schutz im Unterricht wird heftiger. Was ist dran an den Forderungen nach mehr Sicherheit? Ein Kommentar.
BRAUCHT ES JETZT einen Schulgipfel, um die nächste Corona-Welle in den Schulen zu verhindern?
FDP-Chef Christian Lindner jedenfalls findet, das für Oktober geplante nächste Treffen der Kultusminister sei zu spät. BMBF und KMK müssten "sich bald treffen", twitterte er: "Luftfilter, Tests, Hygienekonzepte, Impfauffrischungen planen und Digitalpakt beschleunigen. Lockdown und Schulschließungen bei einer 4. Welle verhindern!"
Auch der grüne Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen forderte, die Bundesregierung solle jetzt einen "Schulgipfel" organisieren, "statt sich in den Sommerurlaub zu verabschieden." Bund und Länder müssten für "Lüftungskonzepte, Lolli-Tests, digitales Lernen" sorgen, damit "der Schulstart nach den Ferien nicht wieder zum Fehlstart wird". Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sagte der Funke-Mediengruppe, sie nehme es nicht hin, "dass wir wieder in eine Situation geraten, wo ein Teil der Kinder von zu Hause lernen muss, nur weil keine Vorsorge geleistet wurde".
Wenn nicht bereits Wahlkampf wäre und wenn Grüne und FDP mehr als jeweils nur ein Kultusministerium führen würden (Baden-Württemberg, NRW), wäre die Ernsthaftigkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen noch ein Stück höher einzustufen. Kein Wunder, dass bis auf Markus Söder (CSU) bislang kein einziger Ministerpräsident die nicht haltbare Ankündigung gemacht hat, bis zum Herbst alle Klassenräume mit mobilen Lüftern auszustatten. Wobei Söder womöglich auch Luftfilter gemeint hat. Macht einen Unterschied. Aber nicht für die große Geste, um die es einem Populisten bayerischer Prägung geht.
Die Debatte
abschichten
Und auch wenn es in der aufgeregten Stimmung etwas schwerfällt, sollte man an dieser Stelle die Debatte etwas abschichten.
Der Schulstart nach den vergangenen Sommerferien war ein Fehlstart? Tatsache ist, dass die Inzidenzen unter Kindern und Jugendlichen 2020 bis Ende September bundesweit bei unter 10 lagen, den gesamten Herbst weit unter dem Bevölkerungsschnitt blieben und, schon bevor die Schulen kurz vor Weihnachten geschlossen wurden, stagnierten.
Es wird keine Vorsorge getroffen? Das stimmt nur, wenn man das flächendeckende Vorhandensein von Luftfilteranlagen, das auch Baerbock fordert, nach den Sommerferien mit 100 Prozent Vorsorge gleichsetzt und alles Andere mit 0 Prozent bewertet. Dann stünde in der Tat schon heute fest, dass die Schulen schutzlos ins neue Schuljahr gehen werden. Trotz zwei bis drei verpflichtenden Schnelltests in die Woche für alle Schüler und Lehrkräfte (die weder FDP noch Grüne für die Büros und Fabriken fordern), trotz bei der Impfung priorisierter Lehrkräfte, trotz geplanter Maskenpflicht in vielen Bundesländern auch am Platz, trotz schulspezifischer S3-Richtlinie und, ja, trotz Förderprogramme für Luftfilter bzw. (im Falle des Bundesprogramms) nur für festinstallierte Luftfilteranlagen.
Ob aus all dem eine Situation entsteht, "in der ein Teil der Kinder wieder zu Haus lernen muss", ist keine Automatismus aufgrund irgendwelcher Inzidenzen, sondern eine Einschätzung, die die Politik auf der Grundlage von Empfehlungen aus der Wissenschaft wird treffen müssen. Vielleicht ja dann unter Beteiligung der Grünen oder der FDP in der nächsten Bundesregierung. Länder wie Dänemark oder die Schweiz haben in der vergangenen Welle stark auf Jugendmediziner und Jugendärzte gehört und die Schulen offengelassen. Diese Expertise gibt es auch in Deutschland.
Und was den geforderten Corona-Schulgipfel angeht, den es übrigens vergangenes Jahr (allerdings erst im September) gegeben hat: Jene, die ihn verlangen, sollten auch sagen, was genau sie mit ihm erreichen wollen. Außer die Kultusminister einmal mehr vorzuführen. Einen solchen Gipfel zu fordern und dann, wenn er nicht stattfindet und im Herbst die Inzidenzen steigen, ein "Hättet ihr doch auf uns gehört" von sich zu geben, mag wahltaktisch funktionieren, ist aber inhaltlich etwas dünn. Wenn sich jetzt die Kultusminister mit Bundesbildungsministerin Karliczek träfen, brächte das nämlich gar nichts außer den (so richtigen wie erwartbaren) Feststellungen, dass man doch bereits eine Menge getan habe und dass auch Förderprogramme für Luftfilter längst zur Verfügung stünden.
Eine Forderung nach einem Schulgipfel ergibt insofern nur Sinn, wenn sie sich außer an die Kultusminister erneut auch an die Regierungschefs und dazu an die Gesundheitsminister richtet. Auch die Kommunen müssten dabei sein. Denn die Kultusminister allein haben gar nicht das Geld und die Macht, flächendeckend Luftfilter für alle Schulen zu beschließen. Und selbst wenn sie beides hätten, würden sie es wohl nicht tun, weil die Evidenz, dass es sich um den einen, alles entscheidenden Baustein für "sichere Schulen" handelt, gar nicht da ist. Während die Folgekosten die Schulen und damit im Zweifel die kommunalen Budgets auf Dauer belasten würden. Woraus folgt, dass ohne Commitment des Bundes für den Betrieb keine Nachhaltigkeit entstehen würde.
Für die Gesundheitsminister wiederum war es in der Vergangenheit sehr bequem, in Sachen Schulen und Corona immer die Kultusminister im Feuer zu sehen, obwohl eigentlich sie die für die Pandemiekontrolle zuständigen Ressortchefs sind. Auch die Ministerpräsidenten hielten sich bei diesem unangenehmen Thema weitgehend heraus. Man hatte wechselseitig die Kultusminister, den Bund oder die Kommunen, auf die man verweisen konnte.
Worauf es in den nächsten Monaten
tatsächlich ankommen wird
Was wären denn – ob mit Schulgipfel oder ohne – sinnvolle zusätzliche Maßnahmen und Erkenntnisse für die Zeit nach den Sommerferien? Aus meiner Sicht die folgenden:
Mehr mobile Luftfilteranlagen dort, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Wer sie jetzt für überall gleichzeitig fordert, könnte in der Realität dafür sorgen, dass sie zwar nicht flächendeckend, aber dafür wahllos angeschafft werden. So dass am Ende Schulen in privilegierten Stadtvierteln sogar wunderbar zu belüftende Klassenzimmer damit ausstatten, während Schulen in benachteiligten Regionen auch in fensterlosen Räumen ohne auskommen müssen. Eine übertrieben Sorge? Nicht, wenn man sich anschaut, wie Tablets und die sonstige digitale Ausstattung auf die Schulen im Land verteilt worden sind (die Gymnasien bekamen am meisten ab). Die in jedem Fall sinnvollen festinstallierte Lüftungsanlagen sind in der Breite bis zum Ende der Sommerferien ohnehin völlig unrealistisch.
Pflichttests bestehen lassen, PCR-Lollitests etablieren: Die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig (HZI) plädiert für den vermehrten Einsatz von Lollitests oder Gurgeltests anstelle der Antigen-Schnelltests in den Schulen. "Da spart Kosten und kann per PCR ausgewertet werden", sagte Brinkmann dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Idee: Die Lolli- und Gurgeltests werden zu einer gemeinsamen Probe kombiniert und nur, wenn diese positiv ausfällt, folgen Einzeltests. Brinkmann warnt, die Delta-Variante werde nach den Sommerferien "sehr schnell durch die Schulen rauschen, wenn wir keine Vorsorge treffen". Wieder dieses Absolutsetzen von "Vorsorge" versus "keine Vorsorge", aber gut. Dass jedes Klassenzimmer in Deutschland bis nach den Ferien mit einem passenden Belüftungskonzept ausgestattet sein wird, hält übrigens auch Brinkmann für "illusorisch".
Entscheidung der Ständigen Impfkommission nicht ständig hinterfragen, aber genug Impfstoff bereithalten. Die STIKO hat Impfungen in der Altersgruppe der 12- bis 17-Jährige bislang nicht generell empfohlen, sondern nur für Jugendliche mit bestimmten Vorerkrankungen. Das Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung für diese Altersgruppe sei gering, hieß es zur Begründung, zumal die Nebenwirkungen einer Impfung noch nicht ausreichend erforscht seien. Immer wieder haben Politiker die STIKO zu einer Revision ihrer Entscheidung gedrängt, gerade erst wieder Söder und SPD-Chefin Saskia Esken. Diese politische Einflussnahme auf Wissenschaftler muss aufhören. Und auch bevor die STIKO ihre Empfehlung vielleicht doch irgendwann ändern sollte, sollte die Politik, die dies jetzt so emphatisch fordert, erst einmal die Terminvergabe erleichtern und genügend Impfstoff für jene Jugendliche bereithalten, die derzeit auf einen Impftermin warten.
Klare Kriterien benennen: Das unspezifische Geraune über anstehende Schulschließungen im Herbst, gestartet von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), muss ebenfalls enden. Ja, keiner kann sagen, was der Herbst bringt. Ja, wahrscheinlich werden Kinder und Jugendliche, da größtenteils umgeimpft, die höchsten Inzidenzen haben. Aber was bedeutet das angesichts der vielen Schnelltests? Ist es überhaupt noch sinnvoll, eine Grenzinzidenz für Wechselunterricht festzulegen? Oder kommt es eher auf eine bestimmte Zahl an Krankenhausanweisungen unter Kindern und Jugendlichen an? Kann man diese festlegen? Fragen, über die keiner gern reden will. Aber wir müssen sie jetzt klären, das ginge zum Beispiel über eine Anpassung der noch am gesamtgesellschaftlichen Infektionsgeschehen orientierten S3-Richtlinie. Sonst bekommen wir im Herbst erneut eine Kakophonie in die Debatte, die sachgerechte Entscheidungen schwer bis unmöglich macht. Sachgerecht wäre außerdem, dass dann die Kinder- und Jugendärzte und nicht mehr die Virologen entscheidenden Ratgeber der Politik sein sollten, denn wenn alle Erwachsenen ein Impfangebot hatten, geht es ausschließlich um die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Inklusive der Abwägung eingeschränkter Teilhabe- und Bildungsrechte versus der Gefährdung durch das Coronavirus.
Ruhe bewahren: In der dritten Welle lagen die Inzidenzen der Kinder und Jugendlichen teilweise deutlich über denen der Erwachsenen, während sie in der zweiten Welle noch deutlich darunter lagen. Hat Alpha die Jüngsten also tatsächlich stärker getroffen? Nicht, wenn man sich die Krankenhauseinweisungen der Unter-15-Jährigen ansieht. Die haben in der dritten Welle nie die Zahlen der zweiten erreicht. Starke Hinweise dafür, dass die Inzidenzen bei den Kindern und Jugendlichen nur wegen der vermehrten Tests in den Schulen so überdurchschnittlich in die Höhe geschossen sind und das Infektionsgeschehen nicht tatsächlich so hoch lag, siehe dazu auch ganz aktuell die Ergebnisse der SAFE KiDS III-Studie.
Klar, das kann mit Delta anders sein – wobei das, siehe oben, auch bei Alpha befürchtet wurde und von einigen Politikern noch heute empiriewidrig behauptet wird. Derzeit gehen aber die Inzidenzen trotz Delta-Wachstum bei den Unter-15-Jährigen überdurchschnittlich zurück. Fairerweise muss man sagen: Auch das wird an den Pflichttests liegen, die jetzt in den Schulferien-Bundesländern nicht stattfinden, womit die Dunkelziffer bei den Schülern wieder auf das Niveau der Erwachsenen zurückfällt. Nur sollten wir uns dann auch daran erinnern, wenn die Inzidenzen der Jüngsten nach den Ferien wieder überdurchschnittlich steigen. Und nicht gleich in Katastrophenstimmung zu verfallen.
In einer ersten Version stand, dass die Grünen gar kein Kultusministerium besetzt hätten. Das ist nicht mehr korrekt, seit Theresa Schopper in Baden-Württemberg das Amt von Susanne Eisenmann übernommen hat. Ich danke einem aufmerksamen Leser für den Hinweis und bitte um Entschuldigung. Bitte haben Sie ebenfalls Verständnis, dass wegen meines Urlaubs die Kommentarfunktion ausgeschaltet ist.
Starkes Minus bei den Schülern, bei den jungen
Erwachsenen gehen die Zahlen schon wieder hoch
In der gestern zu Ende gegangenen Kalenderwoche haben sich nach vorläufigen Meldezahlen des Robert-Koch-Instituts 709 Unter-15-Jährige mit dem Coronavirus infiziert. Das war der niedrigste Wochenwert seit Ende Juli 2020.
Gegenüber der Vorwoche nahm die Zahl der neuinfizierten Kinder und Jugendlichen um 32,5 Prozent ab.
Zum Vergleich: Über alle Altersstufen hinweg betrug das vorläufige Minus 13,2 Prozent – und in der Gruppe der mehrheitlich nicht vollständig geimpften 20- bis 49-Jährigen sogar nur 3,6
Prozent. Besorgniserregend: Bei den 20- bis 24-Jährigen gab es sogar bereits wieder einen Zuwachs um gut 16 Prozent.
Die Zahlen sind noch vorläufig und werden durch Nachmeldungen noch leicht steigen. Schon jetzt gilt: Rechnet man die Unter-15-Jährigen heraus, ist der Corona-Rückgang bei den mehrheitlich nicht vollständig geimpften Altersgruppen in der vergangenen Kalenderwoche nahezu zum Stillstand gekommen.
Doch wurde diese Trendwende durch den (vor allem testbedingt) starken Rückgang bei den Kindern und Jugendlichen überdeckt.