In den Bundesländern, wo Urlaub herrscht, klettern die Infektionszahlen deutlich schneller als im Rest der Republik. Und: Wo noch Schule ist, stecken sich weniger Kinder an. Eine aktuelle Bestandsaufnahme.
1. Das Wachstum beschleunigt sich dramatisch
In der gestern zu Ende gegangenen Kalenderwoche 28 registrierte das Robert-Koch-Institut (RKI) nach vorläufigen Zahlen 8588 neue Corona-Fälle, das waren 54,6 Prozent mehr als in der Kalenderwoche 27. Die 7-Tages-Wachstumsrate verdoppelte sich im Vergleich zur Vorwoche, als sie noch bei 28,2 Prozent lag. Aktuell scheint die Dynamik weiter zuzunehmen. Der Thinktank Risklayer, dessen Zahlen meist etwas aktueller sind als die des RKI, berichtete, dass die am Sonntag gemeldeten Corona-Fälle die Vorwoche bereits um 77,9 Prozent übertrafen. Schon das ist mehr als jemals in der dritten Welle, und es sieht so aus, als ob der Scheitelpunkt beim Wachstum noch nicht erreicht wäre. Nimmt man das gestern erreichte 7-Tages-Plus und schreibt es fort, würde die 7-Tages-Inzidenz in weniger als drei Wochen die 50 überschreiten und in vier Wochen die 100. Bei gleichbleibender Wachstumsrate wohlgemerkt. Und wie gesagt: Sie beschleunigt sich derzeit noch.
2. Die größte Dynamik herrscht bei den 15- bis 29-Jährigen
Über die gesamte Gesellschaft hinweg stiegen die neuen Corona-Fälle zwischen Kalenderwoche 26 und 28 um 98 Prozent. Doch fällt das Wachstum je nach Altersgruppe sehr unterschiedlich aus. Bei den 15- bis 19-Jährigen betrug es rund 192 Prozent. Bei den 20- bis 29-Jährigen 154 Prozent. Zum Vergleich die bereits mehrheitlich doppelt geimpften über 50-Jährigen: +54 Prozent. Und nun womöglich für einige die große Überraschung: Am geringsten war das registrierte Fallwachstum zwischen Kalenderwoche 26 und 28 bei den noch komplett umgeimpften 0- bis 14-Jährigen: +46 Prozent.
3. Ein Stirnrunzeln und ein Hoffnungsschimmer
Was man bei den niedrigen absoluten Zahlen nicht übersehen darf: Bei den Über-80-Jährigen tut sich etwas. In Kalenderwoche 28 infizierten sich nach vorläufiger RKI-Statistik 111 Senioren neu, das waren 54 Prozent mehr als zwei Wochen zuvor. Und das trotz einer Impfquote von 85 Prozent und mehr. Hier zeigt sich, wie vulnerabel die ganz Alten immer noch sind. Im vergangenen Spätsommer hatte es – ohne Impfungen – folgendes Bild gegeben: Von sehr niedrigen Inzidenzen ging es bei den Über-80-Jährigen sprunghaft nach oben, was zunächst aufgrund der geringen absoluten Fallzahlen unbemerkt blieb. Dieses Jahr ist die Situation durch die Impfungen ungleich günstiger, aber das vergleichsweise hohe Wachstum irritiert dennoch.
Eine ermutigende Momentaufnahme ist demgegenüber, dass die gewaltige Dynamik bei den 20- bis 29-Jährigen zuletzt gegen den Trend zumindest stagniert. Zwischen Kalenderwoche 27 und 28 gab es 58 Prozent mehr neuinfizierte Zwanziger, zwischen Kalenderwoche 26 und 27 waren es 60 Prozent. Gleichzeitig verdoppelte sich aber die gesamtgesellschaftliche Wachstumsrate. Ungünstig sieht es demgegenüber bei den 15- bis 19-Jährigen aus: +40 Prozent zwischen KW 26 und 27 und zuletzt krasse +109 Prozent.
4. Signifikanter Unterschied zwischen Ferienländern und Nicht-Ferienländern
Fünf Bundesländer haben bereits seit mindestens drei Wochen Ferien: Berlin, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. In diesen fünf Ländern stiegen die Corona-Neuinfektionen zwischen Kalenderwoche 26 und 28 um rund 130 Prozent. In zehn Bundesländern war mindestens bis zum vergangenen Wochenende noch Schule: Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen. In diesen zehn Ländern betrug das Wachstum bei den Neuinfektionen "nur" 87 Prozent. Knapp 43 (!) Prozentpunkte weniger als in den Ferienländern. Das ist extrem viel. Und kann sicher nicht mit der teilweise unterschiedlichen Demografie der beiden Stadtstaaten Berlin und Hamburg erklärt werden. Die These, dass die Ferien sich negativ auf die Inzidenzen auswirken, scheint insofern berechtigt. Bei dem Vergleich habe ich Nordrhein-Westfalen außen vor gelassen, weil hier die Ferien erst am 5. Juli begonnen haben.
5. Bedeutend weniger Neuinfektionen bei Schulkindern in den Bundesländern, wo noch Schule ist
Wie erwähnt infizierten sich zuletzt zwar auch wieder mehr 5- bis 14-Jährige mit dem Coronavirus, doch blieb die Dynamik in dieser Altersgruppe spürbar hinter dem gesamtgesellschaftlichen Trend zurück: +47 Prozent im Vergleich zu +98 Prozent (Kalenderwoche 26 bis 28) Gleichzeitig sank der Anteil der 5- bis 14-Jährigen an allen Neuinfektionen von 12,7 auf 9,4 Prozent – und lag damit erstmals seit längerem nicht mehr über ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung.
Vergleicht man nun die Ferienländer mit den Nicht-Ferienländern, ist das Ergebnis eindeutig: Bei den 5- bis 14-Jährigen, die Ferien hatten, stiegen die Infektionen sehr viel stärker als bei den gleichaltrigen Kindern, die noch zur Schule gingen. Konkret: In den fünf Ferienländern infizierten sich in der vergangenen Kalenderwoche 144 Prozent mehr Kinder zwischen 5 und 14 neu mit dem Coronavirus als in Kalenderwoche 26. In den zehn Nicht-Ferienländern betrug die Wachstumsrate im selben Zeitraum lediglich 46 Prozent. Ein Unterschied von 98 Prozentpunkten – der so bedeutsam ist, dass auch die naturgemäß größeren prozentualen Schwankungen bei noch kleineren Fallzahlen als Erklärung nicht ausreichen. Bei den 15- bis 19-Jährigen ist die Diskrepanz demgegenüber gering: +144 Prozent in den Ferienländern versus +139 Prozent in den Nicht-Ferienländern.
Auffällig ist indes, dass die Entwicklung bei den Kitakindern gegenläufig ist. Zwar ist das Fall-Wachstum auch in den Nicht-Ferienländern mit +63 Prozent immer noch kleiner als in der Gesamtgesellschaft (+87 Prozent), doch in den Ferienländern ergeben sich erstaunlich geringe +21 Prozent.
6. Ein paar Schlussfolgerungen
So kann es nicht weitergehen. Politik und Gesellschaft haben noch nicht wirklich realisiert, mit welchem Schwung Deutschland gerade in die vierte Welle rauscht. Die noch niedrige absolute Inzidenz von 10 täuscht. Erneut ist vielen offenbar nicht klar, was exponentielles Wachstum bedeutet. Selbst der Spiegel warnte vergangene Woche lediglich vor einem "exponentiellen Anstieg ab Oktober", dabei ist der exponentielle Anstieg längst da. Ein Blick auf die Inzidenz-Karte um Deutschland herum (zum Beispiel in die Niederlande, nach Frankreich, aber auch nach Dänemark oder Spanien) zeigt, wo die gegenwärtige Entwicklung auch in Deutschland hinführen dürfte. Und zwar schneller, als die meisten sich derzeit vorstellen können.
Gleichzeitig wird deutlich, welchen negativen Einfluss die Urlaubssaison auf die Corona-Situation hat: Die Ferienländer schieben das Wachstum an. Und was die ewige Debatte über Schulen angeht: Luftfilter hin oder her, die aktuellen Zahlen belegen, dass sich dort, wo noch Unterricht ist, derzeit weniger Kinder anstecken als in denjenigen Bundesländern, wo sie zu Hause oder in Urlaub sind. Der Effekt, dass die Corona-Meldezahlen bei den Kindern und Jugendlichen schon aufgrund der wegfallenden Pflichttests in den Ferienländern geringer ausfallen (die Dunkelziffer also wieder auf das Niveau der Erwachsenen zunimmt), ist dabei schon eingepreist, weil die fünf Ferienländer schon seit mehreren Wochen ohne Schul-Pflichttests operieren.
Der Charité-Chefvirologe Christian Drosten hatte neulich mit Blick auf die Delta-Variante davon gesprochen, dass auch in England "zum Glück" bald Ferien seien. Wenn man sich ansieht, welche Wirkung die Ferien gerade auf die Schulkinder in Deutschland haben, sollte er seine Einschätzung womöglich revidieren.
7. Ein Nachtrag: Zur Bedeutung von Inzidenzen
Politiker betonen es in diesen Tagen immer wieder, wenn sie einen erneuten Lockdown für möglichst unwahrscheinlich erklären wollen, und es stimmt ja bei aller Sorge auch: Die Inzidenzen allein verlieren bei zunehmender Durchimpfung der Bevölkerung an Aussagekraft, weil es – vereinfacht gesprochen – pro Inzidenzpunkt weniger schwere Erkrankungen und Todesfälle gibt. Doch wieviel weniger genau, das lässt sich noch nicht abschätzen. Hier hilft der Blick nach Großbritannien. Dort betrug der 7-Tages-Mittelwert bei den Todesfällen zuletzt 41. Geht man davon aus, dass die dazu gehörenden Ansteckungen etwa vier Wochen zurückliegen, passen sie zu einer 7-Tages-Inzidenz von rund 8600. Als Großbritannien diese zuletzt im vergangenen Herbst erreichte, lag die Zahl der Todesfälle vier Wochen später bei etwa 260.
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Django (Dienstag, 20 Juli 2021 14:55)
Ich lese gerade Laura Spinneys "Pale Rider" (der englische Originaltitel hat viel mehr poetisches Potenzial als "Die Welt im Fieber"). Während der spanischen Grippe haben sich die Behörden in New York City entschlossen, die Schulen nicht zu schließen, weil die Kinder in der Schule unter Beobachtung seien und zudem - hier geht es vor allem um Kinder aus armen Familien, von denen es sehr viele gab und gibt, dann weniger Zeit in den sehr beengten Wohnungen verbringen. Kann man auf heute übertragen.