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Ärgerliches Herumlavieren

Die Kultusministerkonferenz hat erst nach langem Hin und Her die Zwischenberichte einer Corona-Studie veröffentlicht. Wollte sie unliebsame Informationen unter der Decke halten? Fakt ist: Die Ergebnisse lassen künftige Schulschließungen nicht alternativlos erscheinen.

DIE KULTUSMINISTER HABEN wieder einmal ein Beispiel dafür geliefert, wie man in einer Krisensituation nicht kommunizieren sollte. Eigentlich gleich zwei Beispiele. Und in beiden Fällen war ausgerechnet der dienstälteste Ressortchef aller Bundesländer dabei: Hamburgs SPD-Bildungssenator Ties Rabe.

 

Unter dem Hashtag "#GebtdieStudiefrei" verlangten aufgebrachte Eltern und Lehrkräfte seit Wochen die Veröffentlichung neuer Erkenntnisse zum Infektionsgeschehen an Schulen. Wobei der Slogan eigentlich nicht passte, weil die Kultusminister im Dezember 2020 zwar eine diesbezügliche Studie, Projektname "COVID-SCHULEN", in Auftrag gegeben hatten – mit deren Erstellung planmäßig aber erst irgendwann in den nächsten Monaten zu rechnen ist. Was indes seit Monaten fertig ist, sind die ersten Zwischenberichte der Wissenschaftler. Und die, forderten Eltern und Lehrkräfte, müssten dringend an die Öffentlichkeit.

 

Bevor es mit dem Hashtag so richtig losging, hatte ein Vater, Suat Özgür, per FragdenStaat die Herausgabe der Zwischenberichte verlangt, die die federführenden Forscher vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig und der Universität Köln verfasst haben. Die Anfrage ging an Rabes Bildungsbehörde. Die mit FragdenStaat in Sachen Corona zuletzt ohnehin schon in einem, sagen wir mal, aktiven Austausch stand. Dazu gleich mehr.

 

Jedenfalls antwortete die Behörde, die Zwischenberichte seien der Kultusministerkonferenz "lediglich als Vorab-Zwischenergebnisse über den aktuellen Arbeitsstand" übermittelt worden, sie seien noch nicht "durch peer-review- oder vergleichbare Qualitätssicherungsverfahren abgesichert" und daher "rein für den internen Gebrauch bzw. zur laufenden Information der Kultusministerkonferenz als Auftraggeberin der Studie bestimmt". Ergo: keine Veröffentlichung.

 

Eine Gefährdung der Länderbeziehungen
durch die Veröffentlichung?

 

Was insofern erstaunlich ist, weil Co-Projektleiterin Berit Lange selbst im Dezember 2020 in der Tagesschau mitgeteilt hatte, dass eine Veröffentlichung der Zwischenergebnisse geplant sei.

 

Der antragstellende Vater wollte das so nicht stehenlassen und bohrte weiter nach: Die Begründung sei nicht "hinreichend um diese Anfrage abzulehnen", schrieb er. Woraufhin die Behörde in ihrer Antwort einen amtlichen Ton anschlug: "Der Herausgabe der begehrten Informationen steht der Hinderungsgrund des § 6 Abs. 3 Nr. 1 Hamburgisches Transparenzgesetz (HmbTG) entgegen. Danach unterliegen solche Informationen nicht der Herausgabepflicht, deren Bekanntmachung die Beziehungen zu einem anderen Land oder zum Bund gefährden würde."

 

Eine Gefährdung der Beziehungen Hamburgs zu anderen Bundesländern oder zum Bund durch die Herausgabe der Studien-Zwischenergebnisse? Eine erstaunliche Begründung, die in der wachsenden Community, die sich unter dem Hashtag versammelt hatte, zu Diskussionen führte, was denn an den Berichten derart brisant sein sollte.

 

Klar, dass der Antragsteller auch diese Ablehnung nicht akzeptierte und nachhakte: Er denke nicht,  dass damit eine "voraussichtliche Belastung" der Beziehungen zu anderen Ländern gemeint sein könne, "zumal die anderen Länder sicherlich in gleicher Weise gesetzlich zu einer Veröffentlichung der geforderten Dokumente verpflichtet sind."

 

Sang- und klanglos auf
die Website gepackt

 

Woraufhin bei FragdenStaat keine Antwort der Bildungsbehörde mehr verzeichnet ist, die Zwischenergebnisse aber wenige Tage später ohne Kommentar auf der Website der Kultusministerkonferenz auftauchten. Suat Özgür twitterte dazu am Mittwoch: "Über Umwege erfahren, die KMK hat still und leise die Zwischenberichte veröffentlicht. Ganz unscheinbar, ganz unten auf der Seite."

 

Gegenüber dem Blog Ostprog von Gunter Hamann sagte KMK-Pressesprecher Torsten Heil, die Berichte seien am 3. August veröffentlicht worden, nachdem das KMK-Präsidium (in dem auch Ties Rabe sitzt) dies bei seiner Sitzung am 30. Juli so beschlossen habe. Bei der Sitzung hätten die Berichte aber laut Heil nur eine "nebensächliche Rolle" gespielt.

 

Was wahrscheinlich stimmt – die Sache aber nicht wirklich besser macht: Erst mauern, fadenscheinige, ganz offensichtlich aber nicht durchdachte Begründungen für die Nicht-Veröffentlichung liefern, dann merken, dass man damit nicht durchkommt. Und dann, anstatt wenigstens eine ordentliche und transparente Flucht nach vorn anzutreten, die Dokumente sang- und klanglos online stellen. Als sei die ganze Angelegenheit ohnehin belanglos für die KMK und besonders Ties Rabe. Was sie natürlich nicht ist.

 

Nicht die erste FragdenStaat-Pleite
von Rabes Behörde

 

Zumal Rabes Behörde kurz zuvor bei der Bearbeitung einer anderen FragdenStaat-Anfrage zu Corona schon einmal schlecht ausgesehen hatte. In diesem Fall ging es um ein Interview, das der Senator Ende Dezember bei mir im Blog gegeben hatte. Gefragt, warum er Erkenntnisse des Heinrich-Pette-Instituts (HPI) zum Corona-Ausbruch an einer Hamburger Schule nicht sofort veröffentlich hatte, als sie ihm vorlagen, antwortete Rabe damals: Das hätte er ja gern. "Doch uns wurde bis heute, zuletzt übrigens schriftlich noch am 22. Dezember, mitgeteilt, dass die Zahlen nicht aussagekräftig seien und man vor einer Veröffentlichung den Schlussbericht abwarten müsse."

 

Was gleich Ende Dezember zur FragdenStaat-Anfrage bei seiner Behörde führte, diese solle "das Schreiben des HPI und die detaillierten Ergebnisse, die Ihnen übermittelt wurden", senden. 

 

Die Antwort der Behörde kam nach monatelangem Hin und Her erst am 23. Juli: "Herr Senator Rabe hat die von Ihnen vermutete Äußerung nicht getroffen. Ein Schreiben des Heinrich-Pette-Instituts vom 22.12.2020 liegt nicht vor." 

 

Wie bitte?, erregten sich nicht nur die Antragsteller. Aber so stehe es doch im Interview. Von "Lügen" des Senators war in den sozialen Medien daraufhin die Rede.

 

Weil ich als Interviewer betroffen war, hakte ich nun meinerseits nach und bekam folgende Antwort der Pressestelle von Rabes Behörde: Das Schreiben sei nicht vom HPI gekommen, sondern vom Gesundheitsamt Hamburg-Nord, das die Studie beim HPI in Auftrag gegeben hatte. Daher könne der Behörde "kein Schreiben des HPI vorlegen, sehr wohl aber ein Schreiben des Gesundheitsamtes Hamburg-Nord vom 22. Dezember 2020, das übrigens gleichzeitig an die Redaktion der taz verschickt wurde."

 

Plausibel, und doch
komplett unverständlich

 

Plausibel, und doch komplett unverständlich. Warum klärt die Behörde das nicht gleich genauso gegenüber dem Antragsteller auf, warum speist sie ihn – selbst nach monatelanger Verzögerung – mit einem Satz ab, der nur zu weiteren Missverständnissen und Ärger führt? 

 

So näherten Hamburger Bildungsbehörde und Kultusministerkonferenz die bei vielen Eltern und Lehrern ohnehin schon verbreitete Auffassung, sie würden in Sachen Corona nach Belieben Wahrheiten verschweigen und Studienergebnisse nur dann veröffentlichen, wenn sie ihnen passten. Was angesichts dessen, was tatsächlich in den Zwischenberichten von Helmholtz-Zentrum und Universität Köln steht, umso ärgerlicher ist (siehe Kasten unten).

 

Die "Initiative Zero Covid", deren Mitglied Antragsteller Özgür ist, packte die Vorwürfe denn auch gleich, nachdem die KMK die "COVID-SCHULEN"-Zwischenberichte dann doch auf ihre Website gestellt hatte, in eine Pressemitteilung: "Die Kultusministerkonferenz wusste im Januar von der hohen Wirksamkeit von Schulschließungen – und hielt Studienergebnisse unter Verschluss".

 

Fest steht: Einen Gefallen hat die KMK sich mit dem Hin und Her nicht getan. Und ihrem Ziel, mehr Akzeptanz für offene Schulen zu finden, erst recht nicht. 


Was in den Zwischenberichten von "COVID-SCHULEN" steht

Sind die Zwischenergebnisse von "COVID-Schulen" – abgesehen von der miesen Krisenkommunikation der KMK und der Hamburger Bildungsbehörde – tatsächlich so brisant? Enthalten sie etwas, was die Öffentlichkeit nicht schon wusste?

 

Nun ja: In erster Linie handelt es sich um eine Zusammenstellung vorhandener nationaler und internationaler Studien, aus denen das Projektkonsortium, wo möglich, übergreifende Schlussfolgerungen abzuleiten versuchen. Spannend sind dabei vor allem die Wissenslücken, die aufgezeigt werden.

 

Wesentliche Aussagen sind:

 

- Kinder seien für die Corona-Übertragung empfänglich und trügen zu dieser bei. Bei der vorhandenen Viruslast gehe man von einer ähnlichen Höhe und damit einer ähnlichen Infektiösität von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus.

 

- Zwar berichteten Übersichtsarbeiten eine geringere Anfälligkeit bei Kindern unter zehn Jahren, doch stammten die meisten dieser Studien aus der ersten Phase der Pandemie, als Kitas und Schulen in vielen Ländern geschlossen waren. Deshalb sei "gut möglich", dass die tatsächliche Anfälligkeit der Kinder unterschätzt werde. "Auf der andere Seite wird aber auch über mögliche andere Gründe für eine geringere Anfälligkeit, insbesondere unterschiedliche immunologische Reaktionen oder eine bestehende Immunität gegenüber anderen endemischen Coronaviren diskutiert."

 

- Systematische Übersichtsarbeiten berichteten "generell von einem milden Krankheitsverlauf bei Kindern" mit einem teilweise sehr hohen Anteil asymptomatisch verlaufener Infektionen.

 

- Todesfälle seien bei COVID-19-erkrankten Kindern im Schulalter "seltene Ereignisse" und würden mit einer Häufigkeit von 0,01 Prozent aller infizierten Kinder, also ein Todesfall pro 10.000 infizierten Kindern, wobei in der Ausführung der Forscher unklar bleibt, ob dabei die Dunkelziffer bereits berücksichtigt ist. 

 

- Aus den vorhandenen Fallberichten und Fallserien zu Langzeitkomplikationen lasse sich bisher "kein Rückschluss" auf deren tatsächliche Häufigkeit ableiten, obwohl dies, wie die Forscher betonen, "entscheidend" wäre, um das Erkrankungsrisiko von Schülern nach einer Corona-Infektion zu beurteilen. 

 

- Es gebe wenige Berichte über Sekundärübertragungen des Virus in den Schulen, dabei werde überwiegend eine Übertragung von Erwachsenen auf Kinder berichtet. 

 

- Das Risiko einer Virusübertragung steige mit dem Alter und liege bei Grundschülern geringer als bei Schülern an weiterführenden Schulen. 

 

- Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sei das Infektionsrisiko bei Lehrkräften während Schulschließungen nur halb so hoch wie in der Gesamtbevölkerung und nach Öffnung 1,4 mal so hoch. Wobei man bedenken muss: Die Gesamtbevölkerung umfasst auch Menschen ohne jegliche soziale Kontakte im Beruf oder solche, die gar nicht arbeiten. Ein Vergleich mit der arbeitenden Bevölkerung allein wäre an dieser Stelle aufschlussreich, steht aber aus.

 

- Erfreulicherweise berichten die Forscher zugleich: Das Risiko von Lehrkräften, wegen einer COVID-19-Erkrankung stationär behandelt zu werden, bleibe auch nach der Öffnung und höherem Infektionsgeschehen in der Gesellschaft leicht kleiner (0,97 zu 1) als das der Gesamtbevölkerung.

 

- Insgesamt zeige sich in den Übersichtsarbeiten, dass Schulschließungen "effektive" Instrumente zur Eindämmung der Epidemie

seien – allerdings nicht als Einzelmaßnahme. Das ist eher interessant als brisant: Denn während die "Intiative Zero Covid" auf die Wirksamkeit der Schulschließungen abhebt, betonen die Forscher: Schulschließungen allein ergäben wenig Sinn. Sie sind, so ist das wohl zu verstehen, nur dann sinnvoll, wenn sie Teil eines umfassenderen Lockdowns sind. Denn: "Die effektive Verbreitung in offenen Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen ist entscheidend von der regionalen Infektionsdynamik abhängig." 

 

- Entsprechend hat die Wiederöffnung von Schulen dem Zwischenbericht zufolge auch nicht den umgekehrten Effekt von Schulschließungen.

 

- Zur Wirkung der vollständigen oder teilweisen Schulschließungen schreiben die Forscher, diese gehe nicht nur von der direkten Verhinderung von Infektionen im schulischen Umfeld aus, sondern entstehe auch durch weniger Kontakte in öffentlichen Verkehrsmitteln und in der Freizeit und dadurch, dass bei Schulschließungen zur Betreuung auch die Eltern zu Hause bleiben müssten. Und schließlich würden Schulschließungen "als Zeichen der Ernsthaftigkeit der Epidemie wahrgenommen". Auch all das ist nicht neu, wurde aber selten so schonungslos formuliert: Geschlossene Schulen unter anderem auch deshalb, damit Erwachsenen kapieren, dass es wirklich ernst ist. 

 

- Insgesamt berichten die Forscher von einer "erheblichen Heterogenität in den Wirksamkeitsmaßen" und einer "hohen Variabilität der Wirksamkeit von Schulschließungen und -öffnungen in unterschiedlichen Regionen und unterschiedlichen infektionsepidemiologischen Situationen". Anders formuliert: Es kommt darauf an. Allgemeingültige Schlussfolgerungen sind kaum möglich. 

 

- In der Gesamtschau schreiben die Forscher angesichts der so differenzierten Erkenntnisse, Schulen bei einer bestimmten regionalen oder nationalen Infektionsdynamik zu schließen und auch wieder zu öffnen, sei daher eine "Abwägungsentscheidung". Ein klares wissenschaftliches Plädoyer für Schließungen ist das nicht, denn die Forscher betonen, man müsse "abwägen zwischen den negativen Auswirkungen für Kinder – die von der COVID-19-Erkrankung als solcher weniger betroffen sind – und den schützenden Effekten für das Schulpersonal und die Bevölkerung durch die reduzierte Übertragung".

 

- Zumal, und das ist eine der ernüchterndsten Erkenntnisse im Zwischenbericht, die Forscher "keine spezifische Evidenzsynthese" zu Entlastungsmaßnahmen für vom Schulschließungen betroffene Kinder und Eltern gefunden haben und auch nicht zu den negativen Auswirkungen der Schulschließungen auf die Kinder oder die Bevölkerung insgesamt. Weil das bisher zu wenig interessiert hat? 

 

Mehrere Bestandteile der Studie stehen noch aus, vor allem die geplante "retrospektive Beobachtungsstudie zur Transmission unter SchülerInnen und LehrerInnen". Ein dritter Zwischenbericht  ist bereits angekündigt. Er liege aber der Kultusministerkonferenz noch nicht vor, wie KMK-Sprecher Heil dem Blog Ostprog sagte.

 

Abschließend noch einmal zu der von den Wissenschaftlern erwähnten Abwägung: Diese müsste, so meine zumindest ich als Schlussfolgerung aus den Daten der Zwischenberichte, in Zeiten eines Impfangebots für das gesamte Schulpersonal und die gesamte gesunde erwachsene Bevölkerung künftig deutlich anders ausfallen.

 

Erst recht, wenn offene Schulen offenbar schon vor den Impfungen die Krankenhauseinweisungen von Lehrkräften nicht über den Bevölkerungsschnitt steigen ließen und Kinder laut den Forschern, siehe oben, seltener schwer erkranken. Schulschließungen auf Kosten von Kindern, die vor allem freiwillig ungeimpften Erwachsenen dienen, sind angesichts solcher Ergebnisse nicht mehr zu rechtfertigen. 




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