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Kampf um die Präsenz

Die Bildungsminister wollen die Schulen auf jeden Fall offenhalten – ihre Chefs auch?

Inzidenzen bei Kindern sind mit denen anderer Altersgruppen nicht vergleichbar – nur für sie gibt es solch eine harte Testpflicht. Foto: James Qube/Pixabay.

SIE KÖNNE GUT SCHLAFEN, sagte Nordrhein-Westfalens Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) am Montag im Deutschlandfunk. Da waren es noch zwei Tage bis zum Schulstart im größten Bundesland. Rund 2,5 Millionen Schülerinnen und Schüler hatten am Mittwoch ihren ersten Unterrichtstag nach den Sommerferien. Sie sitzen ohne Mindestabstand, aber mit Maske an ihren Plätzen, und sie müssen sich zweimal die Woche auf Corona testen lassen.

 

Durch "viele Hygiene-Maßnahmen, viele Infektionsschutz-Maßnahmen" sei Präsenzunterricht in vollen Klassen trotz der deutlich ansteckenderen Delta-Variante möglich, sagte Gebauer. Ähnlich hatten es kurz zuvor alle deutschen Kultusminister in einem Beschluss formuliert: Schulen seien auch in Zeiten der Pandemie "sichere Orte", nach langen Schulschließungen sei Präsenzunterricht das "Gebot der Stunde".

 

Allerdings ist NRW mit zehnmal so vielen Neuinfektionen aus den sechs Wochen Sommerferien herausgekommen wie es Anfang Juli in diese startete. Am letzten Tag des alten Schuljahres betrug die landesweite 7-Tages-Inzidenz 5,6, am letzten Ferientag 58,8. Dafür können die Schulen nichts, doch die müssen jetzt mit der im Urlaub angerollten vierten Welle umgehen.

 

Hinzu kommt, dass der Großteil der Schüler in Deutschland ungeimpft ist. Für Unter-12-Jährige gibt es keinen zugelassenen Impfstoff; für Kinder und Jugendliche ab 12 hatte die Ständige Impfkommission (STIKO) eine allgemeine Empfehlung zwei Monate lang abgelehnt – mit Verweis auf das noch nicht ausreichend erforschte Risiko schwerer Nebenwirkungen.

 

Droht die "Welle der Ungeimpften" (so der Münchner Infektiologe Clemens Wendtner) also vor allem eine Welle der Kinder zu werden? Die Politik ist so nervös, dass mehrere Länder- Regierungschefs STIKO-Wissenschaftler massiv unter Druck setzten oder ihnen die Professionalität absprachen. Das Gremium arbeite nur ehrenamtlich, sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) Anfang Juli im Bayerischen Rundfunk – im Gegensatz zur Europäischen Arzneimittelagentur (EMA). "Das sind die Profis. Die haben entschieden: Ja, der Impfstoff ist zugelassen."

 

Die Länder, in denen die Sommerferien zuerst endeten, organisierten schließlich trotz fehlender STIKO-Empfehlung Impf-Großaktionen an Schulen. Allein in Schleswig-Holstein hätten sich hierfür innerhalb weniger Tage 10.500 Schüler angemeldet, berichtete die dortige Bildungsministerin Karin Prien (CDU) stolz. Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) schickte zur Empörung vieler Eltern einen Brief an alle 180.000 Jugendlichen zwischen 12 und 17 der Stadt – an sie direkt, nicht an Erziehungsberechtigte. Tenor: Lasst euch unverzüglich impfen. Die bis dahin gültige Haltung der STIKO tat Kalayci lapidar ab: "Zu den Nach- und Nebenwirkungen der Impfung wusste man zum Zeitpunkt der Empfehlung noch nicht so viel."

 

Im Juni hatte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages sogar die Rechtmäßigkeit einer Corona-Impfpflicht für Kinder überprüft und abhängig von ihrer Ausgestaltung als "nicht grundsätzlich verfassungswidrig" eingestuft – was erst vergangene Woche bekannt wurde. Die vor allem von Eltern gegründete "Initiative Familie" zeigte sich "fassungslos": Einmal mehr würden "Kinder die Hauptlast der Pandemiebekämpfung tragen, indem sie aufgrund der zu geringen Impfquote stellvertretend für Erwachsene geimpft werden". Eine allgemeine Impfpflicht hatte die Bundesregierung indes immer wieder abgelehnt – ohne Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern zu machen.

 

In der ZEIT-Beilage "Christ und Welt" warnte die Kölner Rechtswissenschaftlerin und Ethikratsmitglied Frauke Rostalski aber auch vor einer indirekten Impfflicht für Kinder und Jugendliche – etwa indem die Öffnung von Schulen mit einer hohen Impfrate unter Schülerinnen und Schülern verknüpft werde. "Jeder direkte oder indirekte Zwang zur Impfung für Kinder und Jugendliche muss sich ethisch wie rechtlich verbieten", schrieb Rostalski in ihrem zusammen mit der Leipziger Juraprofessorin Elisa Hoven gemeinsam verfassten Beitrag.

 

Rechnen mit Delta

 

Den vorläufigen Höhepunkt der Debatte um Kinder und Jugendliche markierte wiederum die STIKO selbst an diesem Montag: Sie teilte mit, dass sie ihre Einschätzung geändert habe und jetzt doch die Impfung aller 12- bis 17-Jährigen empfehle. Als Grund gab die Kommission neben neuen Erkenntnissen zur Sicherheit der Impfungen "aktuelle mathematische Modellierungen" an, die für Kinder und Jugendliche aufgrund der Delta-Variante ein deutlich höheres Infektionsrisiko anzeigten. Wird es damit einen neuen Schub für die Impfquote Jugendlicher zwischen 12 und 17 geben – die bundesweit auch ohne STIKO-Empfehlung zuletzt schon bei rund einem Viertel Erstimpfungen lag, in NRW bei knapp 28 Prozent?

 

Die viel kurzfristigere Frage, die sich für viele Kultusminister stellt: wie damit umgehen, wenn die gesamtgesellschaftlichen Inzidenzen weiter so rasant klettern? In Hamburg liegen sie schon bei fast 80, in Berlin bei 69 – auch hier die Quittung der Urlaubszeit. Baden-Württemberg oder Bayern, wo die Sommerferien erst vor gut zwei Wochen gestartet sind, kommen gerade mal auf die Hälfte – allerdings mit seit Urlaubsstart  ebenfalls stark steigender Tendenz.

 

Fest steht: Die Corona-Grenzwerte der Bundesnotbremse, die ab 100 Wechselunterricht vorgeschrieben hätten, galten zuletzt in fast keinem Bundesland mehr. Und auch in Hessen, das sein Corona-Eskalationskonzept gerade erst inklusive des 100er-Grenzwerts erneuert hatte, wurde dieser am Dienstag dann doch gekippt. Eine Folge der Corona-Krisenkonferenz von Bund und Ländern vorige Woche: Die Regierungschefs hatten durchblicken lassen, dass sie angesichts der steigenden Impfquote grundsätzlich von der Inzidenz als alleinigem Indikator abweichen wollen. Wie genau, sagen sie bisher nicht.

 

Besonders hoch lagen die Inzidenzen zuletzt unter 5- bis 14-Jährigen: in NRW bei rund 90, in Hamburg bei über 200. Dass letzterer Wert durch die zum Schulstart wieder aufgenommenen Pflichttests, die es so nur bei Kindern und Jugendlichen gibt, mit anderen Altersgruppen nicht vergleichbar ist, und die Inzidenzen der Kinder und Jugendlichen in der zweiten Hamburger Schulwoche schon leicht zu sinken begannen, fällt im Eifer der Debatte schnell unter den Tisch. Realer bildet das Coronarisiko für Kinder die Rate ihrer Krankenhauseinweisungen ab. Die lag bei den fast vollständig ungeimpften 5- bis 14-Jährigen bei nicht einmal einem Viertel der fast vollständig geimpften 60- bis 79-Jährigen.

 

Trotzdem schloss Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) einen erneuten Lockdown nur für Ungeimpfte nicht aus. Beträfe das auch Kinder und Bildungseinrichtungen – trotz aller anderslautenden Beteuerungen? Die Kultusminister jedenfalls wollen die Schulen mit Verweis auf ihre Bedeutung für Bildung, Teilhabe sowie "soziale und emotionale Gesundheit" der Kinder und Jugendlichen auch bei steigenden Infektionszahlen im vollen Präsenzbetrieb halten. Zumal sie wissen: Auch das milliardenschwere Corona- Aufholprogramm, das die Folgen der Schul- schließungen zumindest bei den am stärksten betroffenen Schülern abmildern soll, klappt nur, wenn die Schulen offen sind und die Schülergruppen sich mischen dürfen.

 

Inzwischen bestünden durch die Impfung Schutzmöglichkeiten für den Großteil der Erwachsenen, so die Kultusminister; für Kinder und Jugendliche selbst sei die Delta-Variante zwar ansteckender, führe aber nicht zu schwereren Krankheitsverläufen.

 

Ende Juli hatte das KMK-Präsidium sechs Virologen und Mediziner zu Gast, darunter Christian Drosten von der Charité und den langjährigen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie, Gerd Fätkenheuer. Die "einvernehmlichen" Einschätzungen der sechs seien in den Beschluss eingeflossen, bestätigte das KMK-Sekretariat auf Nachfrage.

 

Skepsis gegenüber Luftfiltern

 

Derweil kündigen immer mehr Länder an, die Schulen flächendeckend mit Luftfiltern ausstatten zu wollen. Den Anfang hatte Bayern gemacht, es folgte etwa Hamburg, dessen SPD-Bildungssenator Ties Rabe zugleich durchblicken ließ, von der Sinnhaftigkeit nicht überzeugt zu sein. Wie die Kultusminister insgesamt, in deren Beschluss zwar steht, qualitätsgeprüfte, mobile Luftfilter könnten "ergänzend eine zusätzliche Wirkung entfalten". Doch seien Lüftung sowie Beachtung der geltenden Hygienemaßnahmen eigentlich "ausreichend wirkungsvoll für den Infektionsschutz". Was die zur KMK geladenen Wissenschaftler offenbar genauso sahen. Dennoch beschloss nun auch das Berliner Abgeordnetenhaus, in alle statt wie bisher geplant nur die Hälfte der Klassenzimmer die Geräte einzubauen.

 

Die Umsetzung verläuft schleppend – weil die Konditionen des versprochenen Bundesprogramms noch unklar sind, weil viele Kommunen als Schulträger die Luftfilter wegen hoher Kosten ablehnen und weil sie befürchten, die Geräte wären kein Garant dafür, dass die Länder auch wirklich beim Präsenzunterricht bleiben.

 

Die NRW-Landesregierung kündigte unterdessen an, dass bei einem Coronafall grundsätzlich nur noch die direkten Sitznachbarn des infizierten Schülers zu Hause bleiben müssen – es sei denn, sie sind vollständig geimpft und symptomlos. Andere Länder wollen es genauso machen oder sogar wie Baden-Württemberg meist nur noch das infizierte Kind selbst in Quarantäne schicken und seine Mitschüler "engmaschig" testen. Obwohl das Robert-Koch-Institut laut Bild sogar empfohlen hatte, wegen Delta künftig in so einem Fall grundsätzlich die gesamte Klasse in Quarantäne zu schicken. Die Kultusminister wissen: Das liefe im Herbst ständig auf hunderttausende Schüler ohne Präsenzunterricht hinaus. Unverhältnismäßig, sagen sie. Ob ihre Chefs, die Ministerpräsidenten, das in ein paar Wochen noch genauso sehen?

 

Dieser Artikel erschien in leicht gekürzter Fassung zuerst im FREITAG.




Bildungsmonitor: Eltern sind massiv unzufrieden mit Schule unter Corona-Bedingungen

Das Ergebnis ist so eindeutig wie beklemmend. 56 Prozent der befragten Eltern gaben in einer Umfrage für den "Bildungsmonitor 2021" an, dass sie mit den Lernangeboten der Schulen im vergangenen Schuljahr eher oder sehr unzufrieden waren. "Eltern verlieren Vertrauen in Schulpolitik", titelte Table Bildung. In den ostdeutschen Flächenländern war der Frust nach einem Jahr Schule unter Corona-Bedingungen besonders groß: Zwischen 65 Prozent (Brandenburg) und knapp 70 Prozent (Mecklenburg-Vorpommern) zeigten sich enttäuscht über das vergangene Schuljahr.

 

Nicht ganz so mies war die Stimmung der Eltern in Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein. Doch selbst im Spitzenreiter-Land Bremen gaben lediglich 42 Prozent an, eher zufrieden oder sehr zufrieden mit dem vergangenen Schuljahr gewesen zu sein.

 

Die Unzufriedenheit war laut den Studienmachern vom IW Köln höher, wenn Eltern einen niedrigeren Bildungsabschluss aufweisen oder in kaufkraftschwächeren Regionen leben.

 

Auch die Lehrkräfte wurden befragt. 16,5 Prozent von ihnen gaben an, dass es bei "fast allen" Schülerinnen und Schülern durch die besondere Situation im Schuljahr gravierende Lernrückstände gebe, weitere rund 30 Prozent sahen dieses Problem "bei mehr als der Hälfte". Auch hier fällt die Bilanz bei Lehrkräften in ärmeren Regionen am negativsten aus. Dort sahen 24 Prozent schwerwiegende Lücken bei fast allen ihren Schülern, in wohlhabenderen Regionen sagten das nur 13 Prozent. 

 

Der Bildungsmonitor wird seit vielen Jahren vom IW Köln im Auftrag der Industrielobby-Initiative 

"Neue Soziale Marktwirtschaft" erstellt und vergleicht unter einer bildungsökonomischen Perspektive die Bildungs-Performance der einzelnen Bundesländer.

 

Die Corona-Pandemie stelle einen Wendepunkt für das gesamte Bildungssystem dar, befinden die IW-Forscher unter Leitung von Axel Plünnecke. Die teilweisen oder kompletten Schulschließungen über Monate würden die soziale Schieflage beim Bildungserwerb verstärken. "Die Pandemiesituation hat es Kindern und Jugendlichen relativ leicht gemacht sich von der Schule zu entfremden", heißt es in der Studie. So sei die Anwesenheitspflicht selbst in den Präsenzphasen großenteils aufgehoben gewesen, so­ dass der Schulbesuch ohne Mithilfe der Eltern kaum habe durchgesetzt werden können. "Dies kann zu einer steigenden Zahl an Schulverweigerern und in Folge auch Schulabbrechern führen."

 

Kern des Bildungsmonitors ist ein Punkte-Ranking der Bundesländer, an dessen Spitze wie schon seit Jahren Sachsen und Bayern liegen. Hamburg, dessen Bildungspolitik seit Jahren besonders ehrgeizig ausfällt, belegt erstmals Platz drei. Am Ende der Liste ist Bremen. In den vergangenen Jahren hatte Sachsen-Anhalt die rote Laterne gehabt. 

 

Über den Punktestand entscheiden die Bewertungen in zwölf Handlungsfeldern, darunter die Vermeidung von Bildungsarmut, die Schulqualität oder die Betreuungsbedingungen. Die 93 Indikatoren zeigten, dass es in der bundesdeutschen Bildungspolitik insgesamt seit vielen Jahren kaum noch Fortschritte gebe, berichten die Forscher. Die Corona-Krise dürfte die ohnehin schon angespannte Lage weiter verschlechtert haben. 


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