Neulich forderten Andreas Knie und Dagmar Simon, die Wissenschaft stärker am gesellschaftlichen Nutzen auszurichten. Was würde das für die Wissenschaftspolitik bedeuten? Ein Gastbeitrag von Kai Gehring.
Illustration: Gerd Altmann / Pixabay (bearbeitet).
ANGESICHTS DER GEWALTIGEN HERAUSFORDERUNGEN, vor denen wir als Menschheit stehen, sind wir mehr denn je auf den transformativen Geist der Wissenschaft angewiesen. Klimakrise, Artensterben, Gesundheitsgefahren, soziale Spaltung oder gänzlich neue Konfliktdynamiken werden wir nur bewältigen, wenn wir Forschungsergebnisse ernst nehmen. Und wenn wir neue, wissenschaftliche Durchbrüche nutzen, um unsere gesellschaftlichen Möglichkeiten zu erweitern.
Die multiplen Krisen unserer Zeit gehen dabei auch an der Wissenschaft selbst nicht spurlos vorüber: So groß wie nie sind die Erwartungen an Epidemiologie und Impfstoffforschung während der Corona-Pandemie, aber zugleich erreichen auch Anfeindungen und Drohungen erschreckende Ausmaße. Unter Klimaforscher*innen wächst der Frust, wie über ihre Forschungsergebnisse hinweggeredet wird. Und die "Ich bin Hanna"-Debatte verdeutlicht, dass wissenschaftliche Arbeit – zweifellos "systemrelevant" – unter den Vorzeichen der Prekarität leidet.
Der Wille zur Veränderung in der Wissenschaft selbst ist unübersehbar – zuletzt brachten das hier im Blog Andreas Knie und Dagmar Simon auf den Punkt. Die Freiheit der Wissenschaft ist ein hohes Gut und wird zu Recht durch das Grundgesetz garantiert. Wissenschaftspolitik muss den richtigen Rahmen setzen, damit die Voraussetzungen für freie Forschung garantiert sind und neue Impulse gesetzt werden. Solch eine vorausschauende Wissenschaftspolitik gab es im Bund in den vergangenen Jahren zu wenig. Stattdessen ein Hinterherstolpern in der Pandemie, Digitalisierung im Schneckentempo und eine Ignoranz gegenüber der Lage von Studierenden, des wissenschaftlichen Mittelbaus und – man muss es leider so sagen – der Hochschulen insgesamt.
Völlig zurecht weisen Knie und Simon auf die nach wie vor große Schere zwischen der Finanzierung der Hochschulen und der außeruniversitären Forschung hin. Es braucht mehr Engagement des Bundes für die Hochschulen – gerade auch bei der Digitalisierung und der nachhaltigen Modernisierung der Infrastrukturen des Wissens. Die denken wir Grüne bewusst als transdisziplinäres Vorhaben, indem wir – wie jüngst gemeinsam mit Uwe Schneidewind dargelegt – den Campus zum Reallabor für Klimaneutralität und Nachhaltigkeit machen wollen.
Kai Gehring ist grüner Bundestagsabgeordneter und Sprecher seiner Fraktion für Forschung, Wissenschaft und Hochschule. Foto: Foto: Thomas Köhler/photothek.net/Bundestag
Denn die Hochschule ist der ideale Ort, um neue Lösungen für die klimaneutrale Gesellschaft zu erdenken, zu entwickeln, praktisch zu erproben und umzusetzen. Denn auf dem Campus wird nicht nur gelehrt und geforscht, sondern auch gelebt, gebaut, gegessen, gereist und vieles mehr. Ein solcher Kosmos ist darum das ideale Reallabor, um den Weg zur Klimaneutralität vorauszugehen und die Strahlkraft zu entfalten, der viele andere dann folgen werden.
Mit studentischen Nachhaltigkeitsbüros, klugen Energiesparsystemen oder Solarpanels auf den Dächern gibt es längst erfolgreiche Beispiele. Oft handelt es sich um die Erfolge ökologischer Graswurzel-Initiativen auf dem Campus, die jetzt mit Students und Scientists for Future einen neuen Schub bekommen haben. Dieses Engagement – das vielerorts schon Hand in Hand mit progressiven Uni-Leitungen und Verwaltungen geht – müssen wir stärken und unterstützen.
Wegweiser für die Gesellschaft
Indem Hochschulen vormachen, wie es geht, werden sie zum Wegweiser für andere Sektoren: Kultureinrichtungen, Verwaltung oder Unternehmen werden folgen. Aber auch durch ihre vielfältige Vernetzung in die Gesamtgesellschaft können solche transdisziplinären Reallabore über den Campus hinaus Wirkung entfalten. Nachhaltige Verkehrskonzepte können zusammen mit dem ÖPNV entwickelt werden. Nachhaltige Beschaffung für Mensen, Büros und Labore schafft zusätzliche Innovationsanreize für die regionale Wirtschaft. Und Modelle, die sich auf dem Campus bewährt haben, können als eigene Ausgründungen wirtschaftlich erfolgreich sein.
Dieser Ansatz, beispielhaft an der Generationenaufgabe Klimaschutz illustriert, lässt sich in ähnlicher Weise auf andere Felder übertragen. In Reallaboren, Experimentierräumen und regionalen Innovations-Ökosystemen wollen wir dafür ganz unterschiedliche Akteure zusammenbringen, damit diese gemeinsam an den großen Fragen und ihren Lösungen arbeiten können. Dafür haben wir die Innovationsagentur D.Innova vorgeschlagen, die als neuer Akteur in der Wissenschaftslandschaft den Aufbau genau solcher Kooperationsnetzwerke und kreativer Ökosysteme unterstützen soll. Die D.Innova nimmt die Impulse aus der Debatte um die Deutsche Transfergesellschaft auf, denkt sie aber weiter. Denn gerade in den Hochschulen für angewandte Wissenschaft schlummert noch viel Potential für die Bewältigung der großen Herausforderungen, das es zu entfalten gilt.
Wir sind überzeugt, dass dies vor allem durch die Einbindung vielfältiger Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft gelingen kann. Denn gerade engagierte Bürger*innen haben in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, wie sie im Rahmen von Citizen Science-Projekten oder Reallaboren den praktischen Wandel für Nachhaltigkeit und Klimaschutz gemeinsam mit der Wissenschaft voranbringen. Darum müssen die vielfältigen Perspektiven der Zivilgesellschaft stärker in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik einfließen – von der Entwicklung und Umsetzung konkreter Forschungsprojekte vor Ort über eine zielgruppengerechte Wissenschaftskommunikation bis zur strategischen Weiterentwicklung der Wissenschafts- und Forschungspolitik in den Ministerien.
Selbstkritisch auf die Reputationslogiken schauen
Eine inter- und transdisziplinäre Erweiterung der problembezogenen Forschung bedeutet für die Wissenschaftler*innen zweifellos zusätzliche Aufgaben, die nicht ohne weiteres zu schultern sind. Umso wichtiger werden damit die von Knie und Simon betonte moderne Personalentwicklung, das Sicherstellen guter Arbeitsbedingungen und die Öffnung neuer Karrierepfade. Die derzeit verbreiteten Unsicherheiten belasten Menschen, die in der Wissenschaft arbeiten, Talente und Potentiale gehen verloren.
All das schadet Forschung und Lehre. Wenn die von der amtierenden Bundesregierung verschleppte Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes endlich vorliegt, ist es höchste Zeit für dessen gründliche Reform. Dazu gehören der Ausbau unbefristeter Mitarbeiter*innen-Stellen im Mittelbau, die Abschaffung der Tarifsperre sowie eine klare familien- und pflegepolitische Komponente. Auch bei der Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft geht es noch viel zu langsam voran. Politisch muss viel klarer nachgesteuert werden – vom Ausbau des Professorinnenprogramms bis zur verbindlichen Ausgestaltung des Kaskadenmodells und klareren Zielvereinbarungen im Rahmen der Wissenschaftspakte.
Den Aufruf von Knie und Simon, in diesem Zusammenhang noch einmal (selbst)kritisch auf die vorherrschenden Reputationslogiken zu schauen, kann ich nur unterstützen. Neben dem gesellschaftlichen Impact und der Wissenschaftskommunikation muss vor allem auch der Einsatz für die Hochschullehre stärker honoriert werden. Gute Lehre und transparente, planbare Berufswege sind – aufbauend auf guter Grundbildung für alle – essenziell dafür, die gesellschaftliche Vielfalt auf dem Campus zu erhöhen. Die Chance, in der Wissenschaft erfolgreich zu sein, darf nicht vom sozialen Status der Eltern, dem Geburtsort, dem Nachnamen, dem Geschlecht oder der sexuellen Orientierung abhängen. Solche Ausschlüsse bestehen aber nach wie vor und müssen – genauso wie physische Barrieren – endlich abgebaut werden.
Dafür ist ein Neustart beim BAföG dringend nötig. Aufgrund der Untätigkeit der letzten Bundesregierungen profitieren immer weniger junge Menschen von diesem Chancengerechtigkeitsgesetz. Es ist darum höchste Zeit für eine Grundsicherung für alle Studierende und Auszubildende, die einem deutlich größeren Personenkreis zugutekommt und für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgt. Darüber hinaus braucht es eine aktive Antidiskriminierungspolitik auf dem Campus, um gerechte Zugänge, Inklusion und Perspektivenvielfalt auf dem Campus sicherzustellen.
Eine der wichtigsten Aufgaben jeder neuen Regierung
Neben der Überwindung von Disziplingrenzen geht es auch um die Überwindung von Grenzen zwischen Staaten und Gesellschaften. Die Corona-Pandemie hat den internationalen Austausch auf eine harte Probe gestellt. Vielerorts wurde grenzübergreifende Forschung und Lehre mit viel Kreativität und persönlichem Einsatz unter den Vorzeichen der Pandemie fortgesetzt. Manche neue Online-Formate werden sicherlich auch nach der Corona-Pandemie fortbestehen, weil sie sich bewährt haben. Aber wir haben gelernt, dass der direkte menschliche Kontakt niemals vollständig zu ersetzen ist. Gerade in Zeiten von erstarkendem Nationalismus und Chauvinismus müssen wir den europäischen und internationalen Austausch in Bildung, Studium, Forschung und Lehre durch neue Kooperationsformate neu beflügeln.
Die Herausforderungen, die vor uns liegen, sind gewaltig. Aber zugleich wussten wir noch nie in der Menschheitsgeschichte mehr über die uns umgebende Welt, wie wir sie schützen und verantwortungsvoll gestalten können. Gleichzeitig gibt es noch so viel mehr zu verstehen und zu erforschen, dass es zu den wichtigsten Aufgaben jeder neuen Regierung gehören sollte, der Wissenschaft die besten Bedingungen zu bieten.
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