Deutschland habe im Vergleich zu anderen Ländern einen besonders strikten Corona-Kurs gegenüber Kindern gefahren, kritisiert Dunja Mijatović. Familienministerin Christiane Lambrecht reagiert mit einer eigenwilligen Stellungnahme.
Christine Lambrecht ist seit Mai 2021 amtierende Bundesministerin für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Foto: BMF/Thomas Koehler/photothek.net
Dunja Mijatović ist seit 2018 Menschenrechtskommissarin des Europarates.
Foto: Foreign and Commonwealth Office, CC BY 2.0.
ES IST EINE DOPPELTE OHRFEIGE für die Bundesregierung, doch blieb sie bislang weitgehend unbeachtet. Die Kommissarin für Menschenrechte des Europarats, Dunja Mijatović, hat bereits Mitte Juli in einem Schreiben an Bundesfamilienministerin Christine Lambrecht (SPD) die Bundesrepublik dafür gerügt, dass "trotz wiederholter Aufforderungen durch den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes die Kinderrechte noch immer nicht im Grundgesetz verankert worden sind".
Darüber hinaus kritisierte Mijatović, dass Deutschland im europäischen Vergleich seine Schulen "besonders strikten Lockdowns" ausgesetzt habe, und sie mahnte die Bundesregierung "angesichts neuerlicher Debatten um Schulschließungen in Deutschland in diesem Herbst", unbedingt die WHO-Empfehlungen zu Schulen in der Pandemie zu beachten. "Diese", betont die Menschenrechtskommissarin in ihrem Brief, "sagen klar, dass offene Schulen Kernziel der Regierungen sein sollten" und Schulschließungen nur das "allerletzte Mittel" angesichts ihrer schädlichen Auswirkungen auf Gesundheit, Wohlbefinden und Bildung der Kinder. Sie dürften überhaupt erst in Erwägung gezogen werden, wenn alle anderen Maßnahmen, "einschließlich denen in anderen gesellschaftlichen Bereichen", sich als ungeeignet erwiesen hätten.
Die Bundesregierung hat es damit kurz vor der Bundestagswahl schriftlich: Ihre Menschenrechtsbilanz wird, was den Umgang mit Kindern angeht, von internationaler Seite als mangelhaft angesehen. Und zwar nicht nur irgendwie abstrakt, sondern – was die monatelangen Schulschließungen angeht – ganz konkret, vor allem im Vergleich mit anderen europäischen Staaten, die Schulen vielfach kürzer oder gar nicht dichtgemacht, dafür aber die Erwachsenen deutlich stärker eingeschränkt hatten. Und dass der Versuch, die Kinderrechte in die Verfassung zu schreiben, im Juni am Machtpoker von Regierung und Opposition gescheitert ist, kommt als weitere Blamage hinzu. Oder aber – je nach Betrachtungsweise – als ehrliches Statement über die Priorität, die die Rechte von Kindern in Politik und Gesellschaft hierzulande haben.
Lambrecht: Besondere Vorsicht
"zu Beginn der Pandemie"
Als Beleg für letzteres könnte man übrigens auch zählen, dass das Bundesfamilienministerium seit dem Rücktritt Franziska Giffeys im Mai von Justizministerin Lambrecht quasi nebenher mitverwaltet wird. Was diese natürlich mehrfach von sich gewiesen hat, wobei das Signal, dem Ministerium bis zur Wahl keine eigene neue Führung mehr zu geben, vom persönlichen Engagement der amtierenden Ministerin unabhängig zu betrachten ist.
Das Antwortschreiben Lambrechts, das diese erst Ende August nach Straßburg geschickt hat, fällt derweil durch einen Mangel an Selbstkritik auf, der fast schon ärgerlich ist. Auch Einsicht ist kaum zu erkennen. Zumal die Bundesministerin den zeitlichen Ablauf der Entscheidungsprozesse sehr eigenwillig darstellt.
"Soweit Sie anmerken, Deutschland habe im europäischen Vergleich einen besonders strikten Kurs eingeschlagen, was Schulschließungen angeht, gebe ich Ihnen zunächst Recht", schreibt Lambrecht zwar. Um dann aber den Sachverhalt so darzustellen, dass Deutschland "zu Beginn der Pandemie" tatsächlich "mit besonderer Vorsicht vorgegangen" sei – "angesichts der noch unerforschten Krankheit und der dünnen, zum Teil noch gar nicht vorhandenen Datenlage hinsichtlich der Auswirkungen des Virus auf Kinder sowie deren Rolle im Infektionsgeschehen". Es sei "damals" darum gegangen, Kinder und Jugendliche vor einer Ansteckung zu schützen und sie als "besondere Überträger " auszuschließen.
Damals? Zu Beginn der Pandemie? Die längste Phase der Schulschließungen leiteten Bund und Länder im Dezember 2020 ein – zehn Monate nach den ersten Corona-Ausbrüchen in Deutschland. Und um die Jahreswende lagen längst eine Vielzahl von Studien vor und beispielsweise auch ein Report des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC), der kein erhöhtes Risiko für Kinder oder pädagogisches Personal bei geöffneten Bildungseinrichtungen feststellte. Im Oktober 2020 hatte das Robert-Koch-Institut (RKI) befunden, dass Kinder und Jugendlichen nicht "Treiber der Pandemie seien". Und auch die Verbände der Kinder- und Jugendärzte warnten zu dem Zeitpunkt bereits, dass die Folgen von Schulschließungen weitaus dramatischer einzuschätzen seien als die (wenigen) beobachteten schweren Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen.
Teilweise hockten die deutschen
Schüler ein halbes Jahr zu Hause
Die kleineren Schüler durften je nach Bundesland ab Mitte Februar schritt- und tageweise in den Unterricht zurückkehren, die größeren mussten teilweise bis in den Juni hinein komplett zu Hause hocken. Und der Berliner Senat hätte den Wechselunterricht am liebsten vor den Sommerferien gar nicht mehr abgeschafft, wovon er erst durch eine Gerichtsentscheidung abgebracht wurde.
Insofern kann man Lambrechts Darstellung in ihrem Antwortschreiben bestenfalls als missverständlich bezeichnen. Und aus ihren Formulierungen, dass Schließungen von Kitas und Schulen "nach wie vor nur das letzte Mittel bei der Bekämpfung der Pandemie" sein dürften, spricht auch wenig Einsicht, es künftig anders machen zu wollen. Denn wenn die bisherige Pandemie-Praxis Lambrechts Verständnis von Schließungen als "letztem Mittel" entspricht, stimmt das wenig hoffnungsfroh.
Die wirklichen Erwägungsprozesse der Bundesregierung deutet die Ministerin dagegen an anderer Stelle an. Es müssten die Wahrscheinlichkeit einer Infektion, aber auch "das gesamtstaatliche Interesse sowie wichtige Bereiche des persönlichen und öffentlichen Lebens" und die Rechte der Kinder gegeneinander abgewogen werden. Wobei in der Abwägung hierzulande allzu oft, so scheint es, das vermeintliche gesamtstaatliche Interesse und die anderen wichtigen Bereiche des persönlichen und öffentlichen Lebens die Oberhand behalten haben.
Zum gescheiterten Versuch, die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, merkt Lambrecht übrigens an, dass im parlamentarischen Verfahren "trotz intensiver Bemühungen seitens der Bundesregierung derzeit" kein Konsens in Hinblick auf eine konkrete Formulierung habe gefunden werden können. Sie sei jedoch optimistisch und werde sich dafür einsetzen, dass es einen neuen Anlauf zu einer Verfassungsänderung geben werde.
"Ich bin zuversichtlich, dass es uns in Zukunft noch besser gelingen wird, die Interessen von Kindern und Jugendlichen bei der weiteren Bekämpfung der Pandemie zu berücksichtigen", beendet Lambrecht ihren Brief.
Menschenrechtskommisarin Dunja Mijatović wählte einen anderen Schluss. "Ich vertraue darauf, dass die UN-Kinderrechtskonvention für Ihre Regierung künftig bei allen Entscheidungen im Zusammenhang mit COVID die Leitlinie sein wird."
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