Die Impfquoten der Jugendlichen und jungen Erwachsenen steigen rasant, während bei den Älteren die Krankenhauseinweisungen weiter zunehmen. Was das mit der Ungleichbehandlung der Generationen in der Pandemie zu tun hat – und einer Fehleinschätzung der Politik.
Illustration: Venita Oberholster / Pixabay.
DIE REPUBLIK STAUNT UND FREUT sich über die Jungen. Die Hochschulen überall im Land melden rekordverdächtige Quoten durchgeimpfter Studierender, die zum Teil sogar über den Vergleichswerten der Senioren liegen. Und das, obwohl das Risiko einer schweren oder gar lebensbedrohlichen Covid19-Erkrankung mit zunehmendem Alter rasant steigt.
Natürlich kann es auch bei corona-infizierten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu schweren Komplikationen oder Spätfolgen kommen, dennoch: Mediziner schätzen ihren Verlauf in den meisten Fällen als so milde ein, dass die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) bei ihren Prognosen für die Intensiv-Bettenbelegung im Winter überhaupt erst die Corona-Infektionen ab 35 berücksichtigt – weil darunter die Wahrscheinlichkeit, auf die Intensivstation zu kommen, so viel geringer ist.
Ungeachtet dessen zeichnet sich inzwischen auch bei den ganz Jungen eine hohe Impfquote ab, obwohl die Ständige Impfkommission (STIKO) erst seit wenigen Wochen die Impfung für alle 12- bis 17-Jährigen empfiehlt.
Wie kann das sein? Sind die jungen Menschen trotz der objektiv verhältnismäßig geringeren Gefahr für sie stärker als die Alten von der Angst um die eigene Gesundheit getrieben? Oder handeln sie aus einer besonderen Solidarität den Älteren gegenüber?
Die Jungen wollen sich über
die Impfungen ihre Freiheit zurückholen
Es gibt freilich noch eine dritte Antwort, und die erscheint mir persönlich als die wahrscheinlichste: Die Politik hat den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Pandemie am meisten Freiheiten genommen, und diese Freiheiten wollen diese sich unbedingt über die Impfungen zurückholen. Um ihre Gesundheit geht es ihnen primär also gar nicht.
Auf eine gewisse Weise war und ist es paradox: Diejenigen, die selbst am wenigsten von der Pandemie gefährdet sind, wurden über geschlossene Spielplätze, Kitas, Schulen und Hochschulen am härtesten von den Corona-Maßnahmen getroffen. Sie und ihre Familien spüren es in ihrem Alltag, solange die Pandemie nicht weg ist. Denn immer noch sind in den Bildungseinrichtungen die Einschränkungen und Hygieneauflagen am rigidesten, und die Politik sendet weiter die (kaum nur implizite) Botschaft: Der Druck auf Schulen und Hochschulen wird erst abnehmen, wenn der Großteil der Jungen geimpft ist.
Während in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern niemals Baustellen oder Fabriken geschlossen wurden und es hierzulande auch nie eine Homeoffice-Pflicht für Beschäftigte gab und auch keine Testpflicht.
So war es denn auch nicht verwunderlich, dass die STIKO, als sie sich doch entschied, auch die Impfung der 12- bis 17-Jährigen allgemein zu empfehlen, als Gründe an prominenter Stelle die "Abmilderung von Einschränkungen der sozialen und kulturellen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen" und die Verhinderung von "psychosozialen Folgen der Pandemie, insbesondere von Isolationsmaßnahmen" anführte. Was angesichts der politischen Realitäten nachvollziehbar ist, aber nichts mit den eigentlichen Corona-Risiken für Kinder und Jugendliche zu tun hat.
In den Krankenhäusern wird es eine
"Pandemie der Jungen" absehbar nicht geben
Dennoch haben Politik und Teile der Wissenschaft in den vergangenen Wochen und Monaten zunehmend das Narrativ geprägt, Corona sei dabei, sich zu einer "Pandemie der Jungen" zu wandeln. Was von den Infektionszahlen her stimmen mag, solange die Jüngeren seltener geimpft sind. Was aber von der Zahl der schwer Erkrankten voraussichtlich auch noch in einem halben oder einem Jahr nicht der Fall sein wird.
In seinen jüngsten Wochenstatistiken registrierte das RKI 700 Krankenhaus-Einweisungen unter den etwa 24 Millionen über 60-Jährigen, und das bei einer Melde-Inzidenz von unter 25. Während auf die knapp elf Millionen 0- bis 14-Jährigen etwa 110 Einweisungen kam – bei einer Inzidenz von 160 und mehr. Mit anderen Worten: Die 7-Tages-Inzidenz müsste bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsen schon auf 500 und mehr springen, bevor ihre Zahl an Schwerkranken die der über-60-Jährigen, ungeimpft wie geimpft, übersteigt. Und aktuell ist es die Inzidenz der Älteren, die deutlich schneller klettert – genau wie im vergangenen Herbst auch.
Warum dann das Narrativ? Vielleicht ja weil, je mehr die Impf-Kampagne bei den Älteren stockte, man hoffte, mit solchen Warnungen die Jüngeren zu einer Impfung zu bewegen. Die Alternative, der Appell an die Solidarität zugunsten der Älteren, hätte sich in der Tat irgendwie seltsam angehört, nachdem die Älteren sich selbst schützen konnten, aber sich dennoch zu Millionen entschieden, die Impfung zu verweigern.
Die Älteren wiegen sich in Sicherheit –
und die Politik lässt sie in Ruhe
Tatsächlich aber haben die Warnungen vor der "Pandemie der Jungen" womöglich noch einen – ungewollten – anderen Effekt gehabt: Sie haben das Risikoempfinden der Alten zurückgehen lassen. Nach dem Motto: Politik, Medien und Teile der Wissenschaft reden hauptsächlich über die Jungen, das heißt wohl, dass die Senioren sich nicht mehr so sorgen müssen. Dieser Effekt wird noch verstärkt, wenn die Politik, was ja richtig ist, Geimpften Stück für Stück alle ihre Freiheiten zurückgibt. Wenn dann auch noch geimpfte Ältere kaum mehr getestet werden, bleibt ihre Inzidenz im Dunkeln.
Ergebnis: Die geimpften Älteren verhalten sich unvorsichtig, sie halten keine Abstände mehr ein, verzichten auf die Maske. Und das obwohl sie, siehe oben, gesundheitlich weiter stärker gefährdet sind als die Jungen und wahrscheinlich sogar als die jungen Ungeimpften. Vom Risiko für die ungeimpften Älteren ganz zu schweigen – auf die aber erstaunlicherweise kein vergleichbarer Impfdruck ausgeübt wird wie auf die Jungen.
Zudem erscheint es angesichts des tatsächlichen gesundheitlichen Risikos im höchsten Maße ungerecht, wenn im selben Atemzug ungeimpften Kindern und Jugendlichen die Rechte verweigert werden, die geimpften Erwachsenen zurückgegeben werden. Die sich ja trotzdem noch anstecken können und, je älter sie sind, ein immer noch nennenswertes Risiko einer schweren Erkrankung haben. Trotzdem fangen Bundesländer wie Berlin damit an, Restaurants und anderen Einrichtungen die Anwendung der 2G-Regel zu erlauben im Gegenzug zur Aufhebung für die Maskenpflicht – und damit aber auch ungeimpfte Kinder explizit vom dortigen Sozialleben auszuschließen.
Aber: So ist es eben in der Bundesrepublik derzeit, und entsprechend wundert es kaum, dass die Impfquote bei den Alten stockt und bei den Jüngeren so rasant klettert.
Die nächste Welle
der Alten?
Demnächst könnte es deshalb zu einer auf den ersten Blick widersinnigen Entwicklung kommen: Die bundesweite Corona-Inzidenz stagniert oder sinkt (wie zuletzt bereits), doch die Belegung der Intensivstationen nimmt weiter zu. Weil nämlich die Jungen zunehmend geimpft sind, weil zusätzlich ihr Ansteckungsrisiko aufgrund der rigorosen Maßnahmen an den Bildungseinrichtungen im Rahmen bleibt. Weil aber gleichzeitig die Zahl der schwer kranken Alten weiter kräftig wächst.
Sie tut es ja in Wirklichkeit seit vielen Wochen schon. Während in der Öffentlichkeit fast nur über die Kinder und Jugendlichen und die "Pandemie der Jungen" geredet wurde, hat sich die 7-Tages-Inzidenz der über 80-Jährigen (von einem niedrigen Niveau kommend) seit Anfang Juli fast so schnell vervielfacht wie die der 5- bis 14-Jährigen – und sie steigt weiter. In den Krankenhäusern droht so auch die vierte Welle eine Welle der Alten zu werden.
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Sarah (Mittwoch, 15 September 2021 10:53)
Danke für den Artikel!
Und am Ende werden Eltern auch noch ohne medizinische Indikation ihre Kleinkinder impfen lassen müssen, wegen 2G und anderer abstrußer Entscheidungen der Politik zugunsten der Hauptwählergruppe, der Ü60. Es ist zum heulen.
Schade, das so wenige Journalisten so kritisch berichten wie Sie!
Geimpfte (Mittwoch, 15 September 2021 12:32)
"Ergebnis: Die geimpften Älteren verhalten sich unvorsichtig, sie halten keine Abstände mehr ein, verzichten auf die Maske. Und das obwohl sie, siehe oben, gesundheitlich weiter stärker gefährdet sind als die Jungen und wahrscheinlich sogar als die jungen Ungeimpften."
Das halte ich nun doch eine recht unverhältnismäßiges Abladen von Verantwortung bei den geimpften Menschen. Das RKI hat zu diesem Thema eine ganz klare Haltung - Geimpfte spielen bei der Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr (https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Transmission.html). Gibt es denn belastbare Zahlen oder Studien dazu, dass geimpfte ältere Menschen stärker gefährdet sind als ungeimpfte Kinder bzw. Jugendliche? Dazu müsste ja die Quote der Impfdurchbrüche extrem hoch sein, und darauf gibt es meines Wissens bis jetzt noch keine Hinweise.
Das Problem sind ganz klar die ungeimpften Menschen. Bei denen muss die Politik ansetzen. Leider hat sie dazu so überhaupt keine Lust, mit Daten- und Arbeitnehmerschutz wird sogar die Erhebung des Impfstatus der meisten Arbeitnehmer*innen unterbunden.
kaum (Mittwoch, 15 September 2021 14:17)
Es gab im Juli eine Übersicht in der FT (siehe https://twitter.com/EricTopol/status/1418687703814529027?s=20), die darstellte, dass eine geimpfte 80jährige Person die gleiche Wahrscheinlich auf den Tod durch Covid hat wie eine ungeimpfte 50 jährig Person. Ob sich dies durch neuere Zahlen geändert hat, kann ich nicht sagen.
Auf jeden Fall sind die >80jährigen deutlich gefährdeter (siehe https://twitter.com/jburnmurdoch/status/1438100712441974786?s=20).
Geimpfte (Mittwoch, 15 September 2021 22:23)
Vielen Dank, kaum, das sind interessante Zahlen! Obwohl es bei den über 80-jähigen sehr schwer ist, festzustellen, ob sie an COVID gestorben sind oder an einer anderen Krankheit. Stichwort Multimorbidität.
Sonnenschein (Mittwoch, 15 September 2021 23:42)
Einfach mal in den Rki Wochenbericht schauen. Der Anteil der Geimpften an den symptomatisch positiv Getesteten lag letzte Woche schon bei ca. 42%…
Geimpfte (Donnerstag, 16 September 2021 08:15)
Liebe*r Sonnenschein, diese Zahl scheint recht hoch. Jedoch finde ich die Zahlen zum Schutz vor Hospitalisierung bzw. Schutz vor Behandlung auf der Intensivstation sehr viel aussagekräfter, die liegen, für die Altersgruppe > 60 Jahre, für die auch die Zahl 42% genannt wird, bei jeweils 94%. Die geimpften Menschen sind also sehr effektiv vor einem schweren Krankheitsverlauf geschützt.
Nicole Reese (Donnerstag, 16 September 2021 14:07)
Lieber Herr Wiarda,
danke wieder einmal für den tollen Beitrag. Eigentlich ist die Situation bei den Kindern in den Krankenhäusern noch entspannter, denn Herr Dltsch sagte letzte Woche in einem Interview, dass nur die wenigsten der 110 Kinder auf Intensiv wegen Corona behandelt würden, sondern wegen anderer Erkrankungen.
R.S. (Freitag, 17 September 2021 08:52)
Ich habe ehrlich gesagt vor diesem Artikel noch nie etwas von der "Pandemie der Jungen" gehört. Das allgemeine Narrativ ist doch die Pandemie der Ungeimpften - und da ist ja auch was dran. Die vielen Erwachsenen, die sich vorsätzlich nicht impfen lassen, sorgen für ein sinkendes Durchschnittsalter auf den Intensivstationen - aber so wirklich jung ist man mit 50 vielleicht auch nicht mehr.
Die wirklich Jungen versuchen offensichtlich, gegen den bevorstehenden erneuten Freiheitsentzug anzuimpfen, denn so lange der Tisch für das Virus weiterhin reich gedeckt ist, sind Beschränkungen im Verlauf des Winters absehbar.
Der Anstieg bei den +80-Jährigen hat aber zum Teil sicher einen anderen Grund als Unvorsichtigkeit: viele von denen können vor dem Virus nicht weglaufen - sie brauchen Unterstützung und haben daher viele Kontakte, die sie sich nicht aussuchen und auch nicht unterlassen können. Und wenn von diesen Kontakten manche ihre Verantwortung nicht wahrnehmen, ist es kein Wunder, wenn die Delta-Variante zu steigenden Zahlen in dieser Altersgruppe führt.