Ob die vierte Welle wirklich gebrochen ist, weiß keiner. Doch die Trends hinter der aktuellen Entwicklung sind spannend – und, was die älteren Menschen angeht, weiter besorgniserregend. Eine Analyse in neun Punkten.
Illustration: Gerd Altmann / Pixabay.
DIE CORONA-ZAHLEN SEHEN WIEDER GUT AUS: Heute Morgen gab das Robert-Koch-Institut (RKI) die bundesweite 7-Tagesinzidenz mit 68,5 an. Ein Rückgang um gut 12,6 Inzidenzpunkte bzw. 15,5 Prozent zur Vorwoche. Der Abwärtstrend beim Fall-Wachstum hält damit jetzt schon die vierte Woche an, wie der Blick auf die Wachstumsraten der vergangenen fünf Wochen zeigt. 17. bis 24. August: +55 Prozent; 24. bis 31. August: +29 Prozent; 31. August bis 07. September: +12 Prozent; 07. bis 14. September: -3 Prozent. 14. bis 21. September: -16 Prozent. Doch was genau passiert da gerade? Acht Beobachtungen und ein paar Fragen am Ende.
1. Der Trend wird einheitlicher
Zwar gibt es beim Fallwachstum im Wochenvergleich immer noch eine große Bandbreite zwischen den Bundesländern (von -35,9 Prozent in Niedersachsen bis zu +34,9 Prozent in Sachsen-Anhalt), doch bewegen sich elf Bundesländer in einem Korridor zwischen +7,4 Prozent (Thüringen) und -22,2 Prozent (Mecklenburg-Vorpommern).
2. Der Ferieneffekt ist fast durch
Die Entwicklung der Fallzahlen in den Bundesländern folgte in den vergangenen zwei Monaten dem immer gleichen Muster. Ein stetiger Anstieg während der Ferien, dann ein großer Sprung in den ersten zwei Schulwochen, vor allem bei Kindern und Jugendlichen und bei diesen vor allem bedingt durch die Rückkehr zu den Pflichttests. Dann Stagnation und eine schrittweise Abwärtsbewegung, ausgehend von den jüngeren Jahrgängen. Mit anderen Worten: Ferien und Urlaubszeit haben die Corona-Dynamik getrieben, der Schulanfang hat das sichtbar gemacht, und nach dem Schulanfang wird die Entwicklung spürbar eingedämmt. Aktuell sind alle Bundesländer bis auf vier durch mit dem Effekt. Und Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen, die als letzte aus den Ferien kamen, dürften es nach dieser Woche auch sein.
3. Der Ferieneffekt in Zahlen
In Berlin, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein ist schon am längsten wieder Schule. Dort hat sich der Alltag in den Schulen und auch sonstwo eingeschwungen. Das Ergebnis: Seit Wochen stagnierende oder zurückgehende Infektionszahlen. Und in der am Sonntag zu Ende gegangenen Kalenderwoche 37 ein Minus von 13,8 Prozent zur Kalenderwoche 36 im Schnitt aller fünf Länder. Und auch bei den größtenteils noch ungeimpften 5- bis 14-Jährigen ein weiterer Rückgang um 11,2 Prozent.
In Bremen, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Sachsen-Anhalt sind die Ferien noch nicht so lange zu Ende. Hier war vergangene Kalenderwoche noch ein gewisser Rebound zu beobachten. Soll heißen: Nach dem Peak zu Schulanfang gingen die Zahlen dort sogar noch überdurchschnittlich zurück (Ausnahme gegen den Trend: Sachsen-Anhalt, dazu gleich). Über alle sieben Länder hinweg ergab sich ein Minus um 24,6 Prozent –bei den 5 bis 14-Jährigen sogar um überdurchschnittliche 26,4 Prozent.
In Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen war die vergangene Kalenderwoche wie gesagt die voraussichtlich letzte mit Ferieneffekt. Dort gab es immerhin auch schon einen gesamtgesellschaftlichen Rückgang um minimale 2,2 Prozent (nach +6,0 Prozent in der Woche davor), doch dahinter verbarg sich noch ein kräftiger Anstieg um 51,4 Prozent der Corona-Fälle in der Altersgruppe der 5- bis 14-Jährigen.
4. Mögliche weitere Effekte
Dass es trotz Ferieneffekt auch in Bayern & Co nur geringe Anstiege oder sogar leichte Rückgänge gab, zeigt, dass weitere Trends die Corona-Zahlen abschwächen zurzeit. Welche das sind, ist unklar. Ich kann nur ein paar Beobachtungen wiedergeben. Erstens: Einen klaren Ost-Effekt, der in den Wochen zuvor den Anstieg trieb, gab es in der vergangenen Kalenderwoche nicht mehr. Der kräftige Anstieg in Sachsen-Anhalt (+34,9 Prozent) und das leichte Plus in Thüringen (+7,4 Prozent) standen gewisse Rückgänge in Brandenburg (-6,6 Prozent) und Sachsen (-8,2 Prozent) und ein stärkerer in Mecklenburg-Vorpommern (-22,2 Prozent) gegenüber. Allerdings ist über alle Bundesländer hinweg das Minus im Osten unterdurchschnittlich. Zweitens: Richtung Süden und Westen war die Entspannung in der vergangenen Kalenderwoche stärker: NRW: -30,6 Prozent, Hessen: -26,0 Prozent, Rheinland-Pfalz: -25,6 Prozent, Saarland: -21,6 Prozent. Allerdings auch Niedersachsen: -35,9 Prozent. Vielleicht hat das also doch auch wieder mit dem Rebound-Effekt nach dem Ferienende zu tun? Drittens: Die Impfungen könnten eine weiter zunehmende Rolle spielen. Das sieht man vor allem an der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen, die zu einem immer größeren Teil doppelt geimpft ist. Sie verzeichnete in den vergangenen zwei Kalenderwochen einen Rückgang um 28,3 Prozent bei den Corona-Fällen – weiter über den 18,8 Prozent über alle Altersgruppen hinweg.
5. Rückgang bei den Kindern und Jugendlichen setzt sich fort
Während in den vier letzten Schulanfangs-Ländern die Meldezahlen bei den 5- bis 14-Jährigen noch wie beschrieben steigen, eben durch die Rückkehr zu den Pflichttests, ging es bundesweit bei den Kindern und Jugendlichen in der vergangenen Kalenderwoche 37 weiter nach unten. Mit nun schon -15,6 Prozent im Vergleich zu zwei Wochen zuvor. Was leicht weniger ist als die -18,7 Prozent über alle Altersgruppen hinweg. Aber angesichts der Tatsache, dass lediglich ein gutes Viertel der 12- bis 14-Jährigen überhaupt geimpft ist, sonst in der Altersgruppe fast keiner und zugleich in allen Bundesländern voller Präsenzunterricht läuft, ist das erfreulich viel. Und ein Beleg dafür, dass die Hygiene-Konzepte in den Schulen funktionieren.
6. Die übersehenen Älteren
Besorgniserregend ist erneut die Entwicklung bei den älteren Altersgruppen. Obwohl rund 84 Prozent der über 60-Jährigen voll geimpft sind, sinkt die Zahl der Neuinfektionen bei den 60- bis 79-Jährigen unterdurchschnittlich (-7,6 Prozent in der vergangenen Kalenderwoche) und steigt bei den über 80-Jährigen gegen den Trend weiter (+17,3 Prozent). Weil die Politik kaum darüber redet und sich lieber auf die Jüngsten konzentriert, dürfte auch die folgende Statistik kaum zu Kenntnis genommen werden: Seit Beginn der vierten Welle Anfang Juli hat sich die Zahl der Corona-Fälle bei den (zu einem sehr großen Anteil geimpften) über 80-Jährigen mit inzwischen +2.356 Prozent stärker erhöht als bei den (fast vollständig ungeimpften) 5- bis 14-Jährigen mit +2.264 Prozent. Das Ausgangsniveau bei den Älteren war deutlich niedriger, nur dass eben dort der Anteil der schweren Erkrankungen um ein Vielfaches höher liegt.
7. Bei den Krankenhausaufenthalten noch kaum Entwarnung
Während die bundesweiten Corona-Zahlen nun schon die zweite Kalenderwoche zurückgegangen sind, gibt es bei den Patienten auf den Intensivstationen gerade mal eine Stagnation. Gestern waren es 1.541 Fälle – 2,7 Prozent mehr als in der Vorwoche (1.501). Und solange die Corona-Fälle bei den Älteren nicht spürbar zurückgehen oder bei den ganz Alten sogar weiter steigen, dürfte sich daran auch wenig ändern – denn es sind weiter die älteren Jahrgänge, die das höchste Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs haben.
Währenddessen steigt auch der Anteil der älteren Patienten in den Krankenhäusern weiter. In der vorgegangenen Kalenderwoche 36 (das sind die neusten veröffentlichten RKI-Zahlen) machten die 60- bis 79-Jährigen bereits 23,1 Prozent aller Hospitalisierungen aus – 3,1 Prozentpunkte mehr als zwei Wochen davor. Und die über 80-Jährigen kamen auf 17,4 Prozent – 5,6 (!) Prozentpunkte mehr als in Kalenderwoche 34. Warum das so ist, darüber habe ich mich in meinem Essay vergangene Woche nachgedacht.
8. Der große Impfeffekt
Impfen lohnt. Eine triviale Aussage, doch man kann sie nicht oft genug mit Zahlen unterlegen. Nicht nur die Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren, sinkt je nach Studie um 85 bis über 90 Prozent. Nimmt man die RKI-Zahlen der Kalenderwochen 33 bis 36 über wahrscheinliche Impfdurchbrüche und ihre Folgen hinzu, so ergibt sich: Das Risiko, mit einer symptomatischen Covid-19-Erkrankung ins Krankenhaus zu müssen, sinkt bei über 60-Jährigen von 44,6 auf 14,7 Prozent – wenn sie doppelt geimpft sind. Trotzdem gab es übrigens in der Altersgruppe in den besagten vier Kalenderwochen noch 640 Krankenhauseinweisungen von Geimpften. Gegenüber 534 Krankenhauseinweisungen bei den fast komplett ungeimpften 0- bis 14-Jährigen. Fairerweise muss man allerdings dazu sagen, dass es doppelt so viele Alte wie Kinder und Jugendliche gibt.
Vielleicht helfen diese Zahlen ja auch bei der Einordnung der nun anstehenden Debatte um die Impfung von 5- bis 11-Jährigen, die schon losbricht, nachdem Biontech und Pfizer von positiven Studienergebnissen zur Wirksamkeit und Sicherheit der Impfung von Kindern berichten. Was wohlgemerkt noch keine EMA-Zulassung und erst recht keine STIKO-Empfehlung bedeutet. Will sagen: Dass, wenn die RKI-Zahlen stimmen, doppelt geimpfte über 60-Jährige im Falle eine Covid-19-Erkrankung sogar leicht seltener ins Krankenhaus müssen als ungeimpfte Kinder und Jugendliche, zeigt, dass die Impfungen sich auch für die Jüngeren lohnen könnten. Könnten. Denn erstens wird Kindermedizinern zufolge ein beträchtlicher Teil der ins Krankenhaus eingewiesenen Corona-positiven Kinder dort gar nicht wegen Covid-19-Beschwerden behandelt. Zweitens ist die Hospitalisierungsrate bei Kindern auch so schon derart niedrig, dass ihre weitere Reduzierung durch die Impfungen sorgfältig abgewogen werden muss gegen die bei den Impfungen auftretenden Komplikationen – selbst wenn diese ebenfalls gering sein sollten. Es kommt am Ende auf das Verhältnis beider Risiken an – währen dieselben seltenen Komplikationen aufgrund der großen Impf-Wirkung bei den Älteren in der Abwägung nicht weiter ins Gewicht fallen sollten.
9. Ein paar Fragen
Wie kann es angesichts solcher Zahlen eigentlich sein, dass viele Bundesländer über den Sommer in den Altenheimen keine allgemeine Testpflicht für umgeimpfte Besucher hatten, in den Schulen für ungeimpfte Schüler und Lehrer aber schon? Wie kann es sein, dass es keine Pflichttests am Arbeitsplatz gibt, wenn doch ganz offenbar die Pflichttests in den Schulen, so unangenehm sie sind, in der Lage sind, die Neuinfektionen bei Ungeimpften in Schach zu halten oder sogar zurückzudrängen? Wie kann es sein, dass sich die öffentliche Debatte auf die Impfung der Kinder und Jugendlichen ab 12 konzentriert – und nicht auf die angesichts des Erkrankungsrisikos viel entscheidendere Frage, wie die letzten 10, 20 Prozent der (älteren) Erwachsenen doch noch zu einer Impfung bewegt werden können? Und wie kann es angesichts der Covid-19-Erkrankungsstatistiken sein, dass wir öffentliche Bilder von dicht zusammensitzenden/-stehenden Erwachsenen ohne Maske auf Parteitagen, in Clubs oder Restaurants tolerieren – aber selbst Grundschüler in vielen Bundesländern am Platz weiter Masken tragen sollen?
Die Antwort kann nur lauten: weil wir als Gesellschaft meinen, Kindern und Jugendlichen etwas zumuten zu können, was wir Erwachsenen nicht zumuten würden. Obwohl letzteres auf den Verlauf der Pandemie einen viel nachhaltigeren Effekt hätte. Nur dass Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft eben die Minderheit darstellen – und ältere Erwachsene die große Mehrheit (auch der Wähler). Vielleicht reden wir nach der Wahl noch einmal etwas nüchterner darüber?
Kommentar schreiben
twisdu (Dienstag, 21 September 2021 12:31)
Ich würde gerne noch ein paar Fragen ergänzen:
Wie kann es sein, dass das RKI in seinem epidemiologischen Wochenbericht zwar Kitas und Schulen thematisiert, den weitaus relevanteren Brennpunkt der Pandemie, die Pflegeheime, jedoch einfach gar nicht mehr behandelt? Wie kann es sein, dass die seit Wochen wieder deutlich steigende Zahl von Ausbrüchen in Pflegeeinrichtungen, siehe https://www.google.com/maps/d/viewer?mid=1ExfaZyOysvJdLBB_kw5t3OQh4EhDhiJh&hl=de&ll=53.14942149999999%2C11.042809599999996&z=8, in der öffentlichen Debatte praktisch keine Rolle spielt? Wie kann es sein, dass es nach wie vor keine Stiko-Empfehlung für die überfälligen Booster-Drittimpfungen für Höchstbetagte, darunter insbesondere für diejenigen, die in ohnehin infektionsträchtigeren Gemeinschaftseinrichtungen leben, gibt? Wie kann es sein, dass es nach wie vor keine Impfpflicht für Mitarbeiter in Pflegeheimen gibt, obwohl selbst große, seriöse Betreiber wie die EHS darauf verweisen, dass ihre Mitarbeiter-Impfquote bei nur 70% liegt und mit Hausmitteln auch nicht weiter zu steigern ist, siehe https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/tuebingen/impfdurchbruch-im-luise-wetzel-stift-tuebingen-100.html? Wie kann es sein, dass höchstbetagte Bewohner in den Seniorenheimen weiterhin mit infektiologisch sinnlosen Maskenpflichten (sinnlos deshalb, weil ca. 70% der Bewohner dement sind, die Masken werden insofern eh nie korrekt getragen ...) und kollateralschadenträchtigen Beschränkungen von Gemeinschaftsaktivitäten etc. kujoniert werden, während faktisch wirksame und belastungsarme Massnahmen wie die Impf- und erweiterte Testpflicht für Mitarbeiter, Externe und Angehörige aufgeschoben werden? Wie kann es sein, dass in Schulen mit gepoolten PCR-Tests um sich geschmissen wird, während Pflegeheime weiterhin nur fehleranfällige Lateral-Flow-Tests zur Verfügung haben (für deren Durchführung überdies das Personal bzw. die Zeit fehlt)? Und wie kann es sein, dass es für Schulen Förderprogramme für die Anschaffung von Luftfiltergeräten gibt, während dies für die viel frequentierten und oft nur schlecht belüftbaren Gemeinschaftsräume in Pflegeheimen noch nicht einmal diskutiert wird?
Olaf Bartz (Donnerstag, 23 September 2021 18:31)
Zu Nr. 6: Die Älteren sind im Durchschnitt schon länger voll geimpft, und in Israel war mehr als deutlich zu sehen, dass der Impfschutz mit der Zeit nachlässt.
Insofern überraschen mich die Zahlen in diesen Altersgruppen nicht. Boosterimpfungen sind das Mittel der Wahl., perspektivisch für alle.