Warum jetzt wahrscheinlich eine Ampel kommt – und warum SPD, Grüne und FDP gerade in der Bildungspolitik eine gemeinsame Klammer finden könnten, um sich als Koalition der Erneuerer darzustellen: eine Agenda für die neue Legislaturperiode.
Bild: Reimund Bertrams / Pixabay.
DIE TROTZIGE ART, wie das Laschet-Lager angesichts eines 1,6 Prozentpunkte starken Rückstands auf den Wahlsieger SPD noch in der Nacht den Regierungsauftrag für sich reklamierte, erinnert stark an Gerhard Schröders Auftritt am Abend der Bundestagswahl 2005. Der schon kurz darauf als Paradebeispiel politischen Realitätsverlusts in die Geschichte einging. Erstaunlich, dass die meisten Medien noch heute Morgen der Unions-Interpretation insoweit folgten, dass sie eine Koalitionsbildung unter Führung von CDU/CSU für möglich hielten.
Richtig ist, dass es faktisch nur zwei Optionen gibt: Ampel oder Jamaika. Eine Neuauflage der großen Koalition verbietet sich staatspolitisch komplett und noch stärker als 2017, da diesmal nicht nur eine, sondern zwei Alternativen existieren und zudem die FDP weiß: Erneut darf die Regierungsbildung an ihr nicht scheitern.
Also werden Grüne und FDP in jedem Fall gebraucht, und nun kommt es auf die Bewertung der beiden Optionen an. Im direkten Vergleich der Spitzenkandidaten von SPD und Union steht Olaf Scholz in der Öffentlichkeit als Sieger da, Laschet als Grund für den Absturz seiner Partei.
Laschet wird seinen
Machtanspruch aufgeben
Vermutlich wird schon das der FDP reichen, um sich bald dem Ampel-Lager anzuschließen. Sie kann es nämlich, ohne zwangsläufig einen Gesichtsverlust zu erleiden, im Gegenteil: Es würde ihr im
Ergebnis eher noch als Souveränität ausgelegt werden, auch wenn Parteichef Christian Lindner lieber mit Laschet regieren wollte – und im Augenblick noch versucht, durch Taktieren den Preis für
die Ampel hochzutreiben. Im Gegensatz dazu könnten die Grünen, die immer eine Koalition mit der SPD bevorzugt haben, nicht ohne enormen Imageschaden zu Jamaika umschwenken, denn wie wäre das
zu begründen – bei größeren inhaltlichen Schnittmengen mit der SPD, wenn die noch dazu der Wahlsieger ist?
In der Gesamtschau gehe ich davon aus, dass die FDP sehr schnell, womöglich noch vor formalen Sondierungsgesprächen, entsprechende Signale Richtung Union, SPD und Grüne senden wird. Ich erwarte, dass Laschet spätestens dann seinen Machtanspruch aufgibt (falls er nicht vorher schon von seiner Partei dazu gezwungen wird) und nur Ampel-Koalitionsverhandlungen geführt werden. Und das schon in wenigen Wochen.
Wie kompliziert diese dann werden, hängt von den einzelnen Politikfeldern ab. Was die Bildung angeht, kann ich nur sagen: Hier waren die Übereinstimmungen von SPD, Grünen und FDP schon in der vergangenen Legislaturperiode größer, als sie es zwischen SPD und Union, aber auch zwischen FDP und Union je gewesen sind. Die Perspektiven einer gemeinsamen Bildungspolitik sollte die Ampel-Verhandlungen insofern beflügeln – im Gegensatz zu möglicherweise tiefgehenden Differenzen in anderen Bereichen.
Ein Narrativ
aus zwei Teilen
Mehr noch: SPD, Grüne und FDP haben die Chance, ein gemeinsames Narrativ des Bildungsaufbruches und der gesellschaftlichen Modernisierung zu entwickeln – mit dem sie sich als Koalition der Erneuerer über die Bildung hinaus darstellen könnten. Dieses Narrativ sollte aus zwei Teilen bestehen. Erstens: Der Bund investiert deutlich mehr Geld in die Bildung, und zwar dauerhaft. Zweitens: Er investiert nicht planlos, sondern auf der Grundlage eines neuen föderalen Verständnisses von Bildungspolitik – unter Wahrung der Kultushoheit der Länder.
Was der erste Punkt bedeuten würde: Deutschland, das hat jüngst erst wieder der OECD-Report "Bildung auf einen Blick" gezeigt, investiert unterdurchschnittlich viel in sein Bildungssystem. 4,3 Prozent seiner Wirtschaftsleistung im Vergleich zu 4,9 Prozent im Schnitt der Industrieländer. Teil des Narrativs wäre, dass die neue Bundesregierung trotz Corona-Spardrucks und angespannten sozialen Sicherungssystemen beherzt die Bildungsausgaben priorisiert, und zwar um 0,1 Prozentpunkte der Wirtschaftsleistung pro Jahr aufwachsend in den nächsten vier Jahren. 0,1 Prozentpunkte entspricht etwa 3,4 Milliarden Euro. Das wäre der Betrag, um den die Ampel-Koalition die Bildungsausgaben netto 2022 gegenüber 2021 gegenüber erhöhen sollte. 2023 packt sie dann die nächsten 3,4 Milliarden drauf, so dass der Bund im Jahr der nächsten Bundestagswahl, 2025, netto 13,6 Milliarden Euro mehr für Bildung ausgeben würde. Eigentlich sogar, abhängig vom Wirtschaftswachstum, noch einige Euro mehr.
Es wäre eine finanzpolitische Revolution, nicht nur weil der Bund seine bildungspolitischen Ausgaben binnen vier Jahren mehr als verdoppeln würde. Sondern auch, weil Deutschland so – selbst wenn Bundesländer, Unternehmen und Privathaushalte ihren Anteil am Bruttoinlandsprodukt lediglich stabil hielten, seinen Rückstand zum heutigen OECD-Schnitt halbieren könnte. Es wäre indes eine Revolution, die budgetär leistbar wäre (oder sein müsste) – entspräche der kumulierte Zuwachs doch gerade mal 2,7 Prozent des heutigen Bundestagshaushaltes oder gut 13 Prozent der Summe, die der Bund aus Steuermitteln pro Jahr zur Rentenkasse hinzuschießt.
SPD, Grüne und FDP haben (ebenso wie die Linke) in den vergangenen Jahren deutlich offensiver für mehr Bildungsausgaben des Bundes geworben als die Union; jetzt können sie gemeinsam zeigen, dass sie es ernst gemeint haben.
Wie das zusätzliche Geld das
Bund-Länder-Gefüge verändern würde
Die zusätzlichen Milliarden würden zugleich automatisch das Bund-Länder-Gefüge in der Bildung verändern. Denn solche Summen könnte keine Bundesregierung komplett in Einmal-Programme stecken, sondern das ginge nur über den Einstieg in die dauerhafte Finanzierung von Bildungsausgaben, womit der Bund eine andere Rolle erhielte. Das wäre Teil zwei des Narrativs: ein neues föderales Verständnis von Bildungspolitik. Der Anfang ist – halbherzig – ja bereits über die vor wenigen Wochen beschlossene Ganztagsfinanzierung getan.
Das neue Verständnis von Bildungspolitik würde bedeuten, dass der Bund dort in die Grundfinanzierung geht, wo nicht die Kultushoheit der Länder im engeren Sinne betroffen ist. Das heißt: eigentlich überall, nur nicht bei den Lehrern und deren Ausbildung. Sehr wohl aber bei der technischen und baulichen Ausstattung, bei sozialpädagogischen und beim Verwaltungspersonal – sowohl in Kitas als auch in Schulen.
An der Verantwortung der Kultusminister und ihres Clubs, der Kultusministerkonferenz, sich zu erneuern und für mehr bundesweite Vergleichbarkeit in der Bildung zu sorgen, würde all dies rein gar nichts ändern.
Im Gegenzug für sein Engagement würde der Bund mit den Ländern allerdings Standards für Technik und administrative Prozesse aushandeln – ähnlich, wie er es bislang schon bei zeitlich befristeten Programmen über sogenannte Verwaltungsvereinbarungen tut, aber eben langfristiger. Hinzu käme: Die neue Bundesregierung müsste sich mit den Ländern auch auf die Verteilung der Mittel nach sozial- und bildungspolitischen Kriterien verständigen – und sich zumindest in Teilen der Bildungspolitik vom Gießkannen-Prinzip des Königsteiner Schlüssels verabschieden. Über diesen werden Bundesgeld bislang nach Einwohnerzahl (und begrenzt nach Wirtschaftskraft) auf die die Länder verteilt – unabhängig von der konkreten Bedürftigkeit vor Ort.
Wichtig ist: damit das Geld dahin fließt, wo es am sinnvollsten ist, müsste das Grundgesetz noch einmal geändert werden. Hierzu fehlt der Ampel-Koalition mit voraussichtlich 416 von 735 Sitzen (57 Prozent) die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag. Doch hat auch die Linke (emphatisch!) eine Änderung verlangt, und sogar die Union hatte sich zuletzt (teilweise sehr vorsichtig) offen gezeigt. Der härteste Widerstand wäre in den Ländern zu verorten, die von der derzeitigen Gießkannen-Verteilung am meisten profitieren: Bayern zum Beispiel oder Baden-Württemberg, weil sie unter sozialpolitischen Gesichtspunkten relativ gesehen weniger Bundesgelder abbekämen.
Aber absolut eben dann doch nicht weniger, wenn die Bildungsausgaben im Bund derart stark steigen würden – könnte dies die nötige Brücke zu einer Einigung bauen?
Wo der Bund auf
Dauer einsteigen sollte
Folgende konkrete Vorhaben zur Dauerfinanzierung wären am wichtigsten: die Verstetigung des Digitalpakts mit einem Schwerpunkt auf Unterhaltszahlungen für die Infrastruktur und langfristig eingestelltes technisches Personal – Systemadministratoren, aber auch Digitaldidaktiker. Dann eine dauerhafte Verlängerung des Gute-Kita-Gesetzes mit der Maßgabe, das Geld nicht weitere Gebührensenkungen zu stecken, sondern allein in mehr Personal, dessen hochwertige Ausbildung und in Gebäude und Technik. Eine nochmalige Aufstockung der Ganztagsfinanzierung, damit mehr qualifizierte Fachkräfte eingestellt werden können – und im Gegenzug ein Nachholen der ausgefallenen Definition dessen, was guten Ganztag ausmacht und was bundesweite Standards für seine Umsetzung sein könnten. Und immer würde, siehe oben, nach den konkreten Bedürfnissen vor Ort finanziert, auch wenn das je nach Programm unterschiedliche Pro-Kopf-Beträge für die einzelnen Bundesländer bedeuten würde.
Deutlich mehr Geld auf Dauer (aber keine verfassungsrechtliche Veränderung) benötigt auch die überfällige Bafög-Erneuerung. Ebenso wünschenswert wäre ein Novum bei der Berufsbildung: die Einführung einer Ausbildungsgarantie nach österreichischem Vorbild, bei dem der Staat einen parallelen Ausbildungsmarkt finanzieren würde für Bewerber, die keine Lehrstelle bei einem Betrieb erhalten haben. Berechnungen zeigen, dass dies keine großen Mitnahmeeffekte auslösen würde, aber eine große Bedeutung hätte für individuelle Bildungskarrieren. Dazu ein anderes Mal mehr.
Das wären einige der großen Veränderungen in der Bildungspolitik für die neue Legislaturperiode. Natürlich müsste und würde es auch weiter befristete Vorhaben geben, zum Beispiel die auf Eis gelegte Umsetzung des Programms für digitale Kompetenzzentren. Und ebenso wichtig wie ein Bund, der dauerhaft in die Bildungsverantwortung geht, wären Bund-Länder-Programme, die so gestaltet sind, dass die Gelder auch wirklich fließen.
"Sämtliche Bundesministerien müssen komplett umstrukturiert werden nach modernsten Managementmethoden", sagte heute der Vorsitzende der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), Uwe Cantner, im Interview. Auch und gerade gilt dies für das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Was könnte hier besser als Auslöser dienen als ein so grundsätzlicher Umbau in der Bildungspolitik?
Dass sich auch die Rolle des BMBF in der Wissenschaftspolitik grundsätzlich wandeln sollte, hatte ich neulich beschrieben. Jetzt muss sich aber zunächst einmal die neue Regierung finden. Schneller, als manche das derzeit für möglich halten.
Was die neue Regierung anpacken muss
Egal, wer die nächste Bundesregierung bildet: Zehn wissenschaftspolitische Ziele, die in jeden
Koalitionsvertrag gehören.
(23. September 2021) >>>
Erleichterte Demoskopen
Eine Feststellung, die trivial anmutet, es aber nicht ist nach all den Demoskopie-Schlappen vergangener Jahre: Die Meinungsforscher lagen diesmal zumindest im Bund erstaunlich richtig. Beispiel Allensbach: Deren Umfrage vom Donnerstag zufolge sollte die SPD 26 Prozent der Wählerstimmen erhalten, die Union 25 Prozent, die Grünen 16, die FDP 10,5 die Linken 5 Prozent und die AfD 10 Prozent.
Nun das vorläufige amtliche Endergebnis. SPD: 25,7 Prozent, Union 24,1, Grüne 14,8, FDP 11,5,
Linke 4,9 und AfD 10,3 Prozent. Die SPD knapp stärker als die Union, deutlich dahinter die Grünen, aber noch vor FDP, AfD und Linken, in dieser Reihenfolge: alles korrekt vorhergesehen, bis hin zu den ungefähren Prozentergebnissen der Parteien.
Die empirische Wahlforschung funktioniert also doch noch, eine gute Nachricht für die Demokratie – und auch für die Sozial- und Politikwissenschaft.
Anmerkung: Bei dem vorläufigen Wahl-Endergebnis habe ich dem Hinweis eines Lesers folgend einen Fehler korrigiert.
Kommentar schreiben
Lührig, zwd (Donnerstag, 30 September 2021 19:46)
Die Spekulation, ob und wie die FDP ihr Spiel zu Spielen vermag, will ich noch um eine weitere Position anreichern. Wenn es nämlich dem Habeck/Bärbock-Kreis nicht gelingt, die FDP für eine Ampel zu gewinnen - wie umgekehrt die Grünen ihrer Anhängerschaft kein Zusammengehen mit CDU und CSU zu vermitteln vermögen - bleibt neben der ungeliebten GroKo noch eine ebenso - in Deutschland bisher nicht vorstellbare Minderheitsregierung. SPD und Grüne haben deutlich mehr Stimmen als Union und FDP. Und mit AfD-Hilfe könnte sich Laschet nicht zum Kanzler wählen lassen. Eher schon könnte Scholz mit Duldung aus dem FDP- und CDU-Lager gewählt werden (das passt Söder ganz super ins Konzept - mit Blick auf die bayerischen Landtagswahlen). Insofern ist nicht völlig abwegig, dass eine rot-Grüne Minderheitsregierung mit Duldung und wechselnden Mehrheiten sowie Unterstützung von wissenschaftlich ausgewiesenen Fachleute im Regierungsapparat erst einmal tätig wird (StS et.) . Scheitert Scholz, käme es danach zu Neuwahlen. Für die Union und die Grünen ohnehin neues Spiel und neues Glück.