Ernst Dieter Rossmann hat die Wissenschafts- und Bildungspolitik über Jahrzehnte mit geprägt. Nach 23 Jahren verlässt er jetzt den Bundestag – freiwillig. Ein Gespräch über Ideale und Enttäuschungen, die Bilanz von vier BMBF-Chefinnen, ungelöste Gerechtigkeitsfragen – und die Bildungsagenda von morgen.
Ernst Dieter Rossmann, 70, war SPD-Bundestagsabgeordneter und zuletzt Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Foto: DBT/Werner Schüring.
Herr Rossmann, über Jahrzehnte haben Sie die Bildungspolitik mitgeprägt, 23 Jahre davon als SPD-Bundestagsabgeordneter und zuletzt als Vorsitzender des maßgeblichen Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Jetzt sind Sie 70 und sind nicht mehr angetreten bei der Bundestagswahl. Tut der Abschied weh?
Ja, schon, aber ich habe mich länger innerlich gewappnet. Ich finde, man muss wissen, wann es Zeit ist zu gehen. Ich wusste schon, als ich 2017 meine Wahlplakate aufgestellt habe, dass es das letzte Mal für mich selbst sein würde. Wenn man Abgeordneter ist, muss man das zu 100 Prozent sein können. In meinem Alter kann und will ich das nicht mehr versprechen. Aber ich bleibe nach elf Jahren Landtag und 23 Jahren Bundestag weiter aktiv. Wenn auch in anderer Form als bisher.
Ich mache es Ihnen noch ein bisschen schwerer: Bevor wir gemeinsam auf Ihre Zeit als Bildungspolitiker zurückblicken, interessiert mich, was Sie für die wichtigsten bildungspolitischen Herausforderungen der kommenden Jahre halten – bei deren Bearbeitung Sie ja dann nicht mehr dabei sein werden.
Die Bildungsschere darf nicht weiter auseinandergehen. Die Corona-Schulschließungen haben die sozial benachteiligten Schülerinnen und Schüler noch einmal besonders getroffen. Wir müssen die in der Krise getroffenen Entscheidungen aufarbeiten, und wir müssen die entstandenen Schäden, wo immer möglich, auffangen. Gleichzeitig ist es wichtig, dass der Digitalpakt fortgesetzt wird, und zwar im Sinne einer dauerhaften, echten Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern. Alle Schulen und Familien müssen erreicht werden, auch wenn wir dazu noch einmal ans Grundgesetz müssen. Was mittlerweile ja sogar die CDU – und vielleicht sogar die CSU – in einem überraschenden Anflug von "revolutionärem" Ehrgeiz verstanden hat.
Ein letzter Seitenhieb zum Abschied, Herr Rossmann?
Wieso? Ich freue mich doch darüber. So, wie ich mich darüber freue, wenn die Union es jetzt tatsächlich ernstmeint mit dem angekündigten Turnaround beim BAföG. Die Ausbildungshilfe ist minoritär geworden, obwohl mehr junge Menschen denn je bei ihren Bildungsaspirationen Unterstützung brauchen. Deshalb muss die nächste Bundesregierung auch einen Hochschulsozialpakt hinbekommen, vom studentischen Wohnen bis hin zu neuen Leistungen beim BAföG, die sich auch anders als bislang kombinieren lassen sollten. Außerdem müssen wir die duale Ausbildung aus der Krise holen. Wir müssen den dramatischen Lehrermangel überwinden. Die Hochschulen müssen besser finanziert werden. Schließlich: Die von der SPD-Bundestagsfraktion formulierte Idee eines europäischen Austauschprogramms für Lehrer bleibt für mich aktuell.
"Ich glaube, dass Weiterbildung immer
auch Gesundheitsprävention ist."
Was genau meinen Sie damit?
Darunter verstehe ich Europa-Lehrer*innen, die in einem europäischen Land studiert und gearbeitet haben, dann für mehrere Jahre in ein anderes Land wechseln und dort Bildungsbotschafter für Mehrsprachigkeit und die europäische Grundbildung werden. Ich will aber noch eine weitere aus meiner Sicht entscheidende Dimension von Bildung nicht unerwähnt lassen: die Weiterbildung und da speziell die digitale Bildung im Alter. Da können und sollten die Volkshochschulen eine entscheidende Rolle spielen. Das sage ich nicht nur, weil ich selbst so volkshochschulaffin bin, sondern weil ich glaube, dass Weiterbildung immer auch Gesundheitsprävention ist und Lernen in Alter zugleich ein Kampf gegen die Einsamkeit.
Alles Bildungsthemen, Herr Rossmann.
Moment! Ich bin ja noch nicht fertig. Ich hoffe und ich gehe davon aus, dass auch die neue Bundesregierung Forschung und Innovation eine besondere Priorität einräumen wird, konzeptionell, strukturell, aber auch haushaltspolitisch – was ohne Zweifel einen Kraftakt bedeuten wird. Einen nötigen. Die Expertenkommission Forschung und Innovation hat die Bundesregierung zu einer "neuen Missionsorientierung" ihrer Forschungspolitik aufgerufen.
Demzufolge die Politik agiler werden muss in der Verfolgung ihrer innovationspolitischen Ziele. Sie soll klare Missionen definieren, seien es die Mobilitätswende oder den Erhalt der Biodiversität, und diese Ziele dann strategisch verfolgen.
Wozu für mich zentral auch eine intensivere Wissenschaftskommunikation gehört. Schließlich würde ich in dem Zusammenhang empfehlen, in die USA zu schauen. Dort gibt es einen sogenannten Science Advisor mit Kabinettsrang, eine Persönlichkeit, die aus der Wissenschaft kommt und der Wissenschaft gegenüber Regierung und Administration eine besonders wirkmächtige Stimme verleiht. Bräuchten wir in Deutschland nicht auch so eine Position? Das würde das Gewicht von Wissenschaft , Forschung und Innovation in einem Zukunftskabinett ohne Zweifel erhöhen können, dem ja nicht notwendig eine fachlich und gesellschaftlich herausragende Persönlichkeit direkt aus Wissenschaft und Forschung angehören muss.
Nun lassen Sie uns doch einmal zurückschauen, Herr Rossmann. Stimmt es, dass sie einst das "Kooperationsverbot" erfunden haben?
Ich reklamiere darauf kein Urheberrecht , aber habe damit kontinuerlich argumentiert. Denn mir war immer bewusst, wie stark Begrifflichkeiten eine Debatte prägen können. Wenn Sie als Konservative gegen das Narrativ "Kooperationsverbot" ankämpfen müssen, sind Sie schon in der Rückhand. Wer kann schon gegen Kooperation sein? Für uns als parlamentarische Linke in der SPD – Bundestagsfraktion war es umgekehrt immer schwer, gegen die unterkomplexe Formel von der "schwarzen Null" als Haushaltsziel anzuargumentieren. Dabei sind doch zusätzliche Mittel für Bildung, Wissenschaft und Forschung absolut rentierliche und nachhaltige Investitionen in die Zukunft. Was ich ohne durchschlagenden Erfolg versucht habe: das Lissabon-Ziel von drei Prozent der Wirtschaftsleistung für Forschung und Entwicklung in der Debatte durch zehn Prozent für Bildung und Wissenschaft insgesamt zu ersetzen. Nach dem Motto: Jeder zehnte Euro für die Zukunft.
"Die Bildung der Zukunft muss humanistisch,
nachhaltig und europäisch sein."
Ein Ziel, dem wir im Gegensatz zu den drei Prozent in den vergangenen Jahren kaum nähergekommen sind.
Leider. Trotzdem glaube ich, dass Agenda Setting vor allem über das Setzen von Begriffen funktioniert. Und so versuche ich weiter, für starke Ideen starke Begriffe zu finden und auf diese Weise etwas in Bewegung zu setzen. Womit wir zum Beispiel wieder beim Europa-Lehrer angekommen sind. Gelernt habe ich da vom großen SPD-Vordenker Peter Glotz, der schon vor über 40 Jahre das Plädoyer hielt, die Bildung der Zukunft müsse humanistisch, nachhaltig und europäisch sein. Allein mit dieser Dreiheit können Sie einen ganzen Ideenhorizont aufspannen. Doch leider ist dieses Denken in großen Linien in der tagesaktuellen Politik, auch im BMBF, vielfach und allzu sehr verloren gegangen.
Sie haben in 34 Jahren Landes- und Bundespolitik mit insgesamt sieben Ministerinnen zusammengearbeitet.
Ja, mit immer ganz intensiv von der Sache her angetriebenen Ministerinnen! Angefangen mit Eva Rühmkorf, die in ihren nur zwei Jahren als Bildungsministerin von Schleswig-Holstein dem Land ein neues Schulgesetz gegeben hat, das den Muff aus fast 40 Jahren CDU – Dominanz vertrieb und in dem zum ersten Mal so etwas wie Inklusion enthalten war und die Vision einer Schule für alle angedacht wurde. Eine echte Grundsteinlegerin. Es folgte Marianne Tidick, die Innovation im Kleinen betrieben hat, zum Beispiel in der Lehrplan-Reform und durch die Einführung von Berichtszeugnissen, was damals die Säle mit skeptischen bis aufgebrachten Eltern füllte und um deren Verständnis Marianne Tidick gerungen hat. Eine Kämpferin. Bei Gisela Böhrk lernte ich, was Blaue-Liste-Forschungsinstitute sind und wie arm unser Bundesland eigentlich an Forschungseinrichtungen war und wie sehr es da auf jedes einzelne Fraunhofer-Institut ankam.
Und dann gingen Sie nach Berlin.
Und dort wurde Edelgard Bulmahn Chefin im BMBF und legte Grundlagen – sei es für die Ganztagsschule, für die Aufwertung des BAföG, was sie überhaupt erst wieder aufs Tapet brachte – und vor allem für einen Aufbruch in der Wissenschafts- und Forschungspolitik. Exzellenzinitiative, Hochschulpakt, Pakt für Forschung und Innovation: All das hat Edelgard Bulmahn angeschoben.
Zugleich war sie die letzte SPD-Bildungsministerin in Ihrer Zeit als Bundestagsabgeordneter.
Es folgten Annette Schavan, Johanna Wanka und Anja Karliczek. Ich werde jetzt ganz sicher keine Noten an sie verteilen, nur so viel: Für alle drei habe ich hohen Respekt empfunden. Sie waren gedanklich stets weiter als der Rest der CDU und der CSU und zusammen mit der SPD ist es ihnen in den drei Großen Koalitionen gelungen, den Haushaltsansatz des BMBF deutlich auszubauen. Zugleich waren sie aber weniger erfolgreich im Setzen eigener inhaltlicher Akzente. Mit Frau Schavan haben wir immerhin die Qualitätsoffensive Lehrerbildung hinbekommen und mit Frau Wanka den Digitalpakt vorbereitet. Auch wenn sie von Finanzminister Schäuble ausgebremst wurde und zu viel Zeit verloren hat, weil sie glaubte, sie könne den Pakt ohne Grundgesetz-Änderung machen. Und Frau Karliczek hat mit unserer Unterstützung wichtige Punkte umgesetzt, die sozialdemokratische Kernanliegen gewesen sind: die Mindestausbildungsvergütung, die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes und des Meister - BAföGs. Hinzu kommt die Förderung der Wissenschaftskommunikation, gerade den letzten Punkt muss und möchte ich Frau Karliczek wirklich zugutehalten.
Neu dabei, wieder dabei, nicht mehr dabei
In Ernst Dieter Rossmanns Wahlkreis Pinneberg hat der frühere Landesminister und SPD-Oppositionsführer in Schleswig-Holstein, Ralf Stegner, am Sonntag das Direktmandat gewonnen.
Wieder in den Bundestag eingezogen sind unter anderem die Bildungs- und Wissenschaftspolitiker Oliver Kaczmarek (SPD), Thomas Sattelberger und Jens Brandenburg (beide FDP), Kai Gehring (Grüne), Albert Rupprecht (CSU), Nicole Gohlke (Linke) und Götz Frömming (AfD).
Neu im Bundestag ist der Noch-Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller
(SPD), der sich besonders in der Wissenschaftspolitik engagieren will. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) verteidigte erfolgreich ihren Wahlkreis Steinfurt – während der Wissenschaftspolitiker und BMBF-Wasserstoffbeauftragte, Stefan Kaufmann, den Wiedereinzug in den Bundestag verpasste. Seinen Stuttgarter Wahlkreis holte der Grüne Cem Özdemir, und das schlechte CDU-Landesergebnis reichte Kaufmann auch nicht mehr für einen Listenplatz.
Ebenfalls in Baden-Württemberg ihr Bundestagsmandat verloren hat die bisherige bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Margit Stumpp.
Über die Erfolge lässt es sich immer leicht reden. Was waren Ihre größten Misserfolge und Enttäuschungen?
Das war natürlich zuallererst, um den damaligen Kanzlerkandidaten Steinmeier von 2009 zu zitieren, diese Unglücksentscheidung, per Föderalismusreform die Bildungs-Kooperation von Bund und Ländern zu verhindern oder zumindest drastisch zu behindern.
An der die SPD fleißig beteiligt war.
Ja, aber wir haben damals zugleich geschafft, das Schlimmste zu verhindern. Sonst wären auch die Hochschulen zur Tabu-Zone für den Bund erklärt worden und wir hätten den Hochschulpakt nie zum Laufen bekommen. Der damalige SPD-Fraktionschef Peter Struck war schon fast am Einschlagen. Als Bildungspolitiker in einer glücklichen Allianz mit den Jugendpolitikern haben wir ihm klar gemacht, dass er dann nicht mit unseren Stimmen rechnen kann. Worauf Peter Struck umgeschwenkt ist. Aber der Fehler blieb trotzdem groß. Seitdem haben wir versucht, die verlorenen Kooperationsmöglichkeiten in einer Springprozession von x Novellierungen einigermaßen zurückzuholen. Weitere Versäumnisse sehen wir aktuell: Wir hätten als Parlamentarier stärker darauf drängen müssen, die Erweiterung der Lernwelten durch Digitalisierung in allen Bildungsbereiche voranzutreiben. Und in der Corona-Krise hätten wir früher die Folgen für die Kinder und Jugendlichen in den Blick nehmen müssen.
Was hätte das konkret bedeutet?
Ich ärgere mich zum Beispiel, dass ich seinerzeit im Frühjahr in der BILD -Zeitung nur eine Milliarde für ein Corona-Aufholprogramm gefordert habe, anstatt gleich mit zwei oder drei Milliarden anzufangen. Da hätte ich viel unbescheidener und drängender sein sollen. Vielleicht hätte es ja geholfen.
Lassen Sie uns über einen anderen wirkmächtigen Begriff reden. Den der Bildungsrepublik – der Slogan des Dresdner Bildungsgipfels von Kanzlerin und Ministerpräsidenten 2008. Sind wir der Bildungsrepublik, seit Sie Bildungspolitik machen, überhaupt irgendwo nähergekommen?
Konzeptionell ja, finanziell noch nicht genug. Mein persönliches Ausgangsjahr liegt ja bald 40 Jahre zurück, 1987, als ich in den Landtag kam. Damals diskutierte man zum Beispiel noch darüber, ob Ganztagsschulen familienfeindlich sind, was Inklusion bedeutet, ob sich in den Berufsschulen überhaupt Englisch als Unterrichtsfach lohne etc. Heute haben wir einen ziemlich breiten Konsens zu Inklusion und längerem gemeinsamen Lernen, wir wetteifern um eine möglichst gute frühe Förderung von der Kita bis zur Grundschule, wir beschließen einen Rechtsanspruch auf Ganztagsschule, wir modernisieren die berufliche Bildung bis hin zu hybriden Formaten.
"Doch bleibt bei alldem die klaffende Wunde
der ungleich verteilten Bildungschancen."
Das Gymnasium ist aber immer noch der Deutschen liebste Bildungsstätte.
Aber es ist ein völlig anderes Gymnasium als das klassisch-elitäre. Die Vielfalt der Schülerschaft ist eine andere, der Zugang ist breiter. Natürlich entspricht es dem Distinktionsbedürfnis mancher, mit ihren Kindern auf elitäre Privatschulen auszuweichen, aber ich bleibe dabei: Der konzeptionelle Fortschritt ist groß. Nehmen Sie die neue Betonung frühkindlicher Bildung, der Öffnung der Hochschulen für beruflich Qualifizierte. Die Betonung, dass neben der Forschung auch die Hochschullehre zählen muss. Doch bleibt bei alldem eben die klaffende Wunde der ungleich verteilten Bildungschancen. Es bleibt die hohe Zahl der Menschen ohne Ausbildungsabschluss oder ohne ausreichende Alphabetisierung.
Zwischendurch sah es so aus, als würde sich die Bildungsschere etwas schließen, aber schon vor und spätestens seit der Corona-Pandemie stehen die Signale wieder auf noch mehr Ungleichheit.
Weil wir, wie ich eben schon selbstkritisch anmerkte, nicht rechtzeitig die Auswirkungen der Corona-Krise auf die sozialen Disparitäten erkannt haben. Vor allem aber, weil alle konzeptionellen Fortschritte nichts an der Unterfinanzierung unseres Bildungssystems geändert haben. Wir sprechen von der besten Kitapädagogik, wir sprechen von der Schule als Lebens- und Sozialraum, wenden als Gesellschaft aber nicht die dafür nötigen Ressourcen auf. Wir haben die Hochschulen geöffnet für viele junge Menschen, die noch vor 20, 30 Jahren nicht studiert hätten, haben die Hochschulen aber in der Mangelwirtschaft hängen lassen.
Während in der Corona-Krise allein die Deutsche Bahn und die Lufthansa Milliarden und Milliarden zugesteckt haben. Machen deren Lobbyisten ihren Job besser als Sie als Bildungspolitiker?
Auf der kommunalen Ebene kommt es schon auf die politischen Mehrheiten an, aber in der Landespolitik habe ich tatsächlich parteiunabhängig erlebt, dass meistens Schmalhans regierte. Vielleicht weil Bildungsausgaben zu einem großen Teil Personalausgaben sind und jeder Euro zusätzlich die Haushalte über viele Jahre hinaus bindet. Ab und an, wenn die Argumente gut waren, haben wir trotzdem etwas bewegen können. Unter Heide Simonis konnte ich zum Beispiel einen Zuwachs an Lehrerstellen erstreiten und es gab mehr Studienplätze. Immerhin. Auf Bundesebene allerdings fand ich uns als "Lobbyisten" für die gute Sache ziemlich gut. Der BMBF-Etat plus Sonderprogramme beim Finanzminister hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdreifacht, das hat kaum ein anderes Ressort geschafft, wenn überhaupt. Allein für den Digitalpakt und die drei Zusatzprogramme gibt es 6,5 Milliarden Euro. Weitere Milliarden für den Ganztag. Für den Hochschulpakt und so weiter. Der Bund hat die Schatulle weit aufgemacht.
Naja. Die Corona-Überbrückungshilfe für alle Studierenden war seit Beginn der Pandemie insgesamt 186 Millionen Euro wert. Die Bahn bekam allein für die Corona-Monate März bis Juni 2020 550 Millionen.
Bei der Corona-Überbrückungshilfe wäre die SPD über den Weg , das BAföG zu öffnen, zu mehr bereit gewesen. Da waren leider CDU und CSU wie Beton. Und zum Grundsätzlichen ihrer Anmerkung: Bildungssanierung und -finanzierung sind komplexer als Firmensanierung. Wenn die Länder etwas geben, sieht sich der Bund nicht mehr in der Verantwortung – und umgekehrt. Und beide verweisen auf die Kommunen, wodurch die Summen insgesamt kleiner bleiben und alles langsam geht. Außerdem ist es in der Bildung immer schwierig, konkrete Bedarfssummen zu nennen, die dann auch so schnell abgerufen werden wie notwendig. Wir sehen das gerade beim Digitalpakt, wir erleben das aber auch, wenn wir mehr Dynamik und Geld für den Ausbau der Kitas und der Ganztagsgrundschule fordern und die Finanzpolitiker aller Ebenen uns erst einmal entgegnen: Gemach, gemach, Ihr habt doch noch gar nicht die konkreten Bedarfe und die Infrastruktur und die Erzieherinnen und Erzieher, um das umzusetzen. Während ein Unternehmen wie die Lufthansa ihre Maschinen und ihr Personal vorweist und genau beziffern kann, wieviel Geld für deren Rettung nötig ist.
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus?
Vor allem müssen wir das Geld, das da ist, bedarfsgerechter verteilen. Bezogen auf die Schulen heißt das: Dort, wo viele arme Kinder sind, müssen wir mehr aufwenden als da, wo es den Familien besser geht, wo die sozialen Strukturen intakter sind. Ich halte es zum Beispiel für ein Drama, wie die Laptops im Digitalpakt verteilt worden sind. Dass die Bundesländer, wo der Bedarf am höchsten war, die geringsten Zuweisungen vom Bund erhalten haben, ist doch skandalös. Das Matthäus-Prinzip hat in der Bildungsförderung nichts zu suchen
Weil sich die Verteilung der 500 Millionen Euro am sogenannten Königsteiner Schlüssel orientierte, der üblichen Föderalismus-Gießkanne. Und auch wenn Sie hier von einem Drama sprechen: Bei der Verteilung der Nachhilfe-Milliarde im Corona-Aufholprogramm ist es gerade erst wieder ganz genauso gelaufen.
Weil der politische Konsens, es anders zu machen, noch nicht da ist. Und weil bestimme Bundesländer mit ihrem Veto drohen, sobald über alternative Schlüssel diskutiert wird. Ich hoffe an der Stelle auf klare Impulse aus der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz.
"Als Politiker für Bildung, Wissenschaft und
Forschung leben wir von pädagogischem Optimismus."
Ist das nicht etwas zu einfach? Den Schwarzen Peter ausgerechnet dem gerade gegründeten Gremium unabhängiger Wissenschaftler zuzuschieben, das den von Bayern und Baden-Württemberg abgeschossenen Nationalen Bildungsrat ersetzen soll? Zumal Bayern und Baden-Württemberg auch zu den Ländern zählen, die kein Interesse an einer Veränderung des Status Quo bei der Mittelverteilung haben. Ich bin da skeptisch.
Mit Skepsis, das darf ich so sagen, konnte ich in den letzten 34 Jahren aber auch nichts werden. Als Politiker für Bildung, Wissenschaft und Forschung leben wir von pädagogischem Optimismus, von starken Argumenten und hoffentlich auch parteiübergreifender Überzeugungskraft.
Was machen Sie, nachdem Sie den Schlüssel zu Ihrem Bundestagsbüro abgegeben haben?
Ich gehe zurück zu meinen Wurzeln. Die Vordenker der 68er-Bewegung haben uns gesagt, wir sollten zu denen gehen, die von der Gesellschaft nichts zu erwarten haben, und mit ihnen den Umbruch organisieren. Wir gingen mit einer Aktivistengruppe also in eine Obdachlosensiedlung und lernten bei den Familien in den Schlichtwohnungen dort schnell, dass da nicht "Revolution" angesagt war, sondern acht Jahre lang freiwillige Bildungsarbeit für die vielen Kinder und Jugendlichen. Und so gehe ich jetzt als Lesehelfer in eine Gemeinschaftsschule in meiner Heimatstadt Elmshorn, die von vielen Kindern aus Einwandererfamilien besucht wird, etliche mit Fluchterfahrung. Ich will mich auch in der Seniorenbildung engagieren. Aus der oft abstrakten Politik wieder in die konkrete Arbeit vor Ort, der Gedanke gefällt mir.
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Spiewak (Freitag, 08 Oktober 2021 08:46)
Schönes Interview - guter Arbeiter im Bergwerk der Demokratie