Am Tag der Kultusministerkonferenz berichtet das Robert-Koch-Institut von angeblichen Nahe-Rekordständen bei den Schulausbrüchen. Die Kultusminister hingegen sagen: Trotz Pandemie und Delta-Variante hätten sie seit Beginn des Schuljahrs "vollständigen und kontinuierlichen" Präsenzunterricht sichergestellt.
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ES WIRD IMMER BRISANTER, welche Figur das Robert-Koch-Institut (RKI) bei der Begleitung der Corona-Pandemie abgibt. Dass das Institut ahnungslos ist, wie hoch die Impfquote tatsächlich ist, hat es selbst erst gestern wieder bestätigt (siehe Kasten) – und auch, dass es wenig Ideen hat, wie es an diesem Zustand etwas ändern kann. Dabei hat die schlechte Datenlage direkte Auswirkungen auf die Politik – weil von der tatsächlichen Impfquote nicht nur die wissenschaftlichen Prognosen zur Infektionskurve im Herbst und Winter abhängen, sondern auch die Entscheidungen über mögliche neue gesellschaftliche Einschränkungen und Gegenmaßnahmen.
Noch unverständlicher ist, wenn das RKI trotz der schlechten Datenlage Politik macht – mit Absicht oder, was noch schlimmer wäre, ohne sich der Tragweite der eigenen Äußerungen bewusst zu sein. Auch hier gab der gestern erschienene "wöchentliche Lagebericht" des RKI zu COVID-19 ein ärgerliches, in jedem Fall unglaublich unprofessionelles Beispiel.
Am selben Tag, an dem die Kultusministerkonferenz zur Corona-Sicherheit an den Schulen konferierte und in den Medien die Debatte über Maskenpflicht, Luftfilter & Co heißlief, verkündete das RKI: Die Ausbruchshäufigkeit in Kitas und an Schulen sei dieses Jahr im Vergleich zu 2020 etwa zwei Monate früher angestiegen. Und: Die Zahl der übermittelten Schulausbrüche habe sich bereits Mitte September 2021 dem "Höchstniveau" der zweiten und dritten Welle angenähert. Die Botschaft, die ankommt: alles sehr dramatisch.
Das RKI vergleicht nicht vergleichbare Zahlen
Im RKI-Wochenbericht existiert sogar eine Grafik, auf der das Institut die Schul-Ausbruchskurve dieses Jahres über die des Vorjahres legt, was in der Tat beeindruckend aussieht.
Das Problem ist nur: Der Vergleich ist komplett unsinnig, weil es vergangenes Jahr noch keine verpflichtenden Schnelltests an den Schulen gab, die die Melde-Inzidenzen bei Kindern und Jugendlichen enorm hochgetrieben haben.
Grafik des RKI zu Ausbrüchen in Schulen. Quelle: Wochenbericht vom 07. Oktober 2021.
Abgesehen davon zeigt auch die Grafik selbst den Widersinn der vom RKI gemachten Interpretation: Die Zahl der dort abgebildeten Schulausbrüche (per Definition sind das mindestens zwei Infektionen am selben Ort) sank bereits seit etwa 10. September wieder – parallel zur steigenden Zahl von Bundesländern, die sich seit mindestens zwei Wochen wieder im Schulbetrieb befanden. Warum? Weil der Sondereffekt der Rückkehr zu den Pflichttests dann durch war und die Dunkelziffer wieder geringer als in den Ferien (in der die Infektionen unter Kinder und Jugendlichen tatsächlich stark zugenommen hatten).
All das erwähnt das RKI nur mit einem Halbsatz ("vermutlich spielten die ausgeweiteten Testaktivitäten... eine Rolle"), wobei das Institut gleich auch noch die leichtere Übertragbarkeit der Delta-Variante ins Spiel führt, für die jedoch die vorliegenden Daten in keiner Weise als Beleg taugen. Den beobachteten Rückgang der Ausbrüche wiederum stellt das RKI zumindest bei den Kitas "wegen Nachmeldungen" als "noch nicht gut" zu bewerten dar.
Der Statistiker Daniel Haake kommentierte die RKI-Ausführungen auf Twitter. "Solche Vergleiche" des Ausbruchsgeschehens könne man nur anbringen, "wenn es gleichbleibende, repräsentative Untersuchungen gibt." Die aber das RKI bislang nicht durchzuführen in der Lage war. "Durch Einführung von Schnelltests an Schulen 2021 und damit Aufhellung des Dunkelfeldes", ergänzt Haake, "sind die Zahlen nicht mit 2020 vergleichbar."
Vor der hohen Corona-Dynamik bei Senioren
warnt das Institut in seinem Bericht nicht
Hinzu kommt, dass die Zahlen der bundesweit gemeldeten Neuinfektionen von Kindern und Jugendlichen zwischen 5 und 14 in Deutschland seit Ende August fast kontinuierlich gesunken sind: von rund 15.400 (das war die Ferien-Endbilanz in Kalenderwoche 35) auf 11.800 in der vergangenen Kalenderwoche 39.
Während sie bei den über 60-Jährigen im selben Zeitraum von rund 5.550 auf 6.146 gestiegen, um fast 11 Prozent und sogar gegen den Trend eines gesamtgesellschaftlichen Rückgangs der gemeldeten Neuinfektionen um 27 Prozent. Was umso besorgniserregender ist, weil die Wahrscheinlichkeit einer schweren Covid-19-Erkrankung selbst für geimpfte Senioren zuletzt bereits etwas höher lag als für ungeimpfte Kinder – und für ungeimpfte Senioren etwa 14-mal so hoch.
Trotzdem widmet das RKI auch in seinem jüngsten Wochenbericht den Ausbrüche in Behandlungseinrichtungen und Alten- und Pflegeheimen deutlich weniger Platz als denen in Kitas und Schulen, auch gibt das Institut keinerlei Warnung heraus, dass seit Wochen die Corona-Dynamik unter alten und sehr alten Menschen überdurchschnittlich stark ist. Obwohl der große Herbst-Schub bei den Neuinfektionen noch gar nicht da ist.
Wozu führt eine solche Art der Kommunikation des RKI –außer zu einer Unterschätzung der Lage bei den Älteren? Sie führt zu einer erneuten Fokussierung auf die Kitas und Schulen, obwohl bei letzteren die Lage in den vergangenen Wochen besser geworden ist und die Zahl der wöchentlichen Infektionen unter Kindern und Jugendlichen seit Beginn des Schuljahrs gesunken ist.
Die Kultusminister zeigen
sich unbeeindruckt
So macht das RKI, ob es sich dessen bewusst ist, oder nicht, Politik. Und zwar an dem Tag, an dem die Kultusministerkonferenz sagen soll, wie es im Herbst und Winter an den Schulen weitergeht. Entsprechend lauteten Schlagzeilen heute bereits, dass das RKI im Vorfeld der KMK-Sitzung vor der Lage in den Schulen gewarnt habe. Dagegen würde ja nichts sprechen, im Gegenteil, aber bitte auf der Grundlage belastbarer Hinweise. Die für die Situation unter Senioren gegeben ist, dort aber nicht zu Warnungen des RKI führte.
Die Kultusministerkonferenz hat sich heute erst einmal unbeeindruckt gezeigt und ihren gestern gefassten Beschluss veröffentlicht. Darin heißt es: "Die KMK stellt fest, dass es gelungen ist, trotz der Pandemie und der Delta-Variante im Schuljahr 2021/2022 durchweg in allen Ländern vollständigen und kontinuierlichen Präsenzunterricht sicherzustellen." Der Unterricht finde "weitestgehend ohne Einschränkungen und unter Beachtung der geltenden Infektionsschutz- und Hygienemaßnahmen sicher statt." Manche zu Schuljahresbeginn verschärften Beschränkungen hätten inzwischen gelockert oder sogar aufgehoben werden können – womit die Kultusminister vor allem die Abschaffung der Maskenpflicht am Platz für Grundschüler in vielen Bundesländern meinen.
An die Erwachsenen "appellieren" die Kultusminister, sich impfen zu lassen, und "empfehlen" auch den Schülern ab 12, dasselbe zu tun – betonen aber, eine Impfung gegen Corona sei keine Voraussetzung für den Schulbesuch.
Es sei weiter "unerlässlich, die Schulen offen zu halten und den Präsenzunterricht dauerhaft zu sichern": Dieser Satz fehlt auch in dieser KMK-Erklärung nicht – mit Hinweis auf das Teilhabe- und Bildungsrecht der Schüler und auf ihre soziale, emotionale und körperliche Entwicklung. An wen sich die Kultusminister mit diesem Plädoyer widmen, bleibt ein wenig unklar: an ihre eigenen Regierungschefs? An die Schulen und Lehrkräfte? An die Gesellschaft insgesamt? An die Medien? Ans RKI?
Widersprüchliche
Quarantäne-Forderungen
Fest steht: Das RKI sollte dringend die Qualität seiner Kommunikation reflektieren. Und die Medien tun gut daran, die RKI-Zahlen richtig einzuordnen. Und lieber auf andere Erkenntnisse zu setzen. Die der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC womöglich, die heute die FAZ zitierte – wonach in Schulen ohne Maskenpflicht das Risiko für Infektionen fast viermal höher war? Allerdings ist auch die Aussagekraft dieser Studie umstritten. In jedem Fall sollten diejenigen Kultusminister, die die Aufhebung der Maskenpflicht in den Herbst hinein beschlossen haben, besonders aufmerksam auf die Entwicklung der Infektionszahlen schauen – trotz guter Argumente, die durchaus für ein Ende der Pflicht bei nicht zu hohen Inzidenzen sprechen.
Derweil hat sich die KMK in ihrem Beschluss um eine Verständigung auf einheitliche Kriterien zur Aussetzung oder Anordnung der Maskenpflicht erneut herumgedrückt. Fragwürdig erscheint es auch, wenn die Kultusminister von den Gesundheitsämtern fordern, selbst bei einer Abschaffung der Maskenpflicht die Quarantäne auf die infizierte Person und deren enge Kontaktpersonen zu begrenzen. Das passt nicht wirklich zusammen, wenn doch die Masken so stark eine mögliche Weiterverbreitung des Virus im Raum vermindern.
Die Impfdosen nachgezählt
Laut Robert-Koch-Institut (RKI) könnten deutlich mehr Erwachsene gegen das Coronavirus geimpft sein als bislang bekannt. Um vier bis fünf Prozentpunkte könnte die Quote zum Stichtag 5. Oktober höher gelegen haben, berichtet das Institut – was auf bis zu 84 bei den Erstimpfungen und bis zu 80 Prozent bei den Zweitimpfungen hinauslaufen würde.
Überraschend kommt das nicht. Schon im August hatte das RKI gemeldet, dass es eine Differenz zwischen den offiziell registrierten Impfzahlen und Umfragen zur Impfquote bei den Unter-60-Jährigen gebe. So hätten 79 Prozent der 18- bis 59-Jährigen angegeben, bereits mindestens eine Impfung erhalten zu haben – 20 Prozentpunkte mehr, als das Impfmonitoring zu dem Zeitpunkt verzeichnete.
Überraschend hingegen ist, wie das RKI auf die Misere reagierte. Nämlich ziemlich passiv. Zuletzt Anfang September hatte ich bei der Pressestelle des Instituts nachgefragt, auf wie groß es die Diskrepanz zu diesem Zeitpunkt einschätzte und welche Bestrebungen es gebe, die tatsächliche Impfquote – eine entscheidende Grundlage politischer Entscheidungen – künftig genauer zu bestimmen. Ob es zum Beispiel darüber nachdenke, bestimme Meldeprozesse anders zu organisieren?
Die Antwort damals lautete: Das Thema Diskrepanz zwischen den zwei
Erfassungssystemen des RKI, dem "Digitalen Impfquotenmonoitoring DIM" und der "Befragungsstudie COVIMO" sei bereits im August "ausführlich eingeordnet und erläutert" worden.
Darüber hinaus gebe es keinen neuen Sachstand. Untererfassungen seien in Meldesystemen generell nicht unüblich. "Wichtig ist, dass die Untererfassung im Digitalen Impfquoten-Monitoring (DIM) für die Erstimpfungen nach Altersgruppen angenommen wird, nicht für die vollständigen Impfungen, deren Quote für die Bewertung der Situation entscheidend ist."
Nur dass das RKI jetzt einräumt, dass es offenbar auch für die – nach eigener Darstellung entscheidende – Quote der vollständigen Impfung eine Untererfassung gibt.
Durch welche Verfahrensänderungen und Prozesse das RKI jetzt doch zu seiner Schlussfolgerung einer um vier bis fünf Prozent höheren Impfquote gekommen ist? Ganz einfach: Es hat einfach alle bislang ausgelieferten Impfdosen zusammengerechnet.
Eine regelmäßige, repräsentative Bevölkerungsstudie, die zuverlässig die Verteilung der Neuinfektionen auf die einzelnen Altersgruppen ermitteln würde, dazu Infektionsorte, den Antikörperstatus und vieles mehr, hat das RKI derweil immer noch nicht auf die Beine stellen können.
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Birger Horstmann (Freitag, 08 Oktober 2021 16:04)
Ist es denn so einfach, aus der Zahl der ausgelieferten Impfdosen auf die Zahl der Impfungen zu schließen? Denn schließlich werden ja bestimmt mittlerweile bei den niedrigen Impfraten Impfstoffgläser nicht vollständig ausgenutzt. Und vor allem ist es ja unklar, ob fünf, sechs oder sieben Impfdosen aus einer Ampulle gewonnen werden. Hier gibt es doch Unterschiede je nach Zeitpunkt und Ort der Impfung. Mich würden die Annehmen des RKI dazu interessieren. Könnte eine Bevölkerungsstudie nicht direkt das Antikörperniveau in verschiedenen Altersgruppen messen?
Gens una sumus (Samstag, 09 Oktober 2021 20:07)
Das Trauerspiel des RKI bezüglich belastbarer Zahlen bei den Impfungen ist ein echter Skandal. Das hatte derartige gravierende Folgerungen für die Politik, daß es einfach erstaunt, wie man hier Harakiri gespielt hat. Ist Herr Wiehler eigentlich ein CDU-Mann? Neues Spiel, dann hoffentlich mal eine belastbare Zählerei.