Vor einem Jahr brach die zweite Corona-Welle mit voller Kraft los. Wie wird es dieses Jahr? Über Ähnlichkeiten und Unterschiede – und warum die nächsten Wochen Aufschluss geben könnten über den Verlauf im Winter.
So sah die Kurve vergangenes Jahr aus: Die Entwicklung der Corona-Zahlen von Anfang September bis 31. Oktober. Screenshot aus dem RKI-Dashboard.
DIE NÄCHSTEN WOCHEN werden entscheidend. Bis Ende Oktober werden wir sehr viel klarer sehen, wie der Corona-Winter verlaufen wird.
Der Herbst ist da, das soziale Leben verlagert sich nach innen, und vergangenes Jahr war das der Moment, in dem die zweite Welle so richtig abhob. In den ersten beiden Oktoberwochen 2020 kletterte die Zahl der täglichen Neuinfektionen von durchschnittlich 2.300 auf 6.000 (+164 Prozent), bis Ende Oktober ging es weiter hoch auf 15.800 (noch einmal +163 Prozent). In 7-Tages-Inzidenzen ausgedrückt: 14,9 am 1. Oktober 2020. 27,5 am 12. Oktober, also vor exakt einem Jahr. 35,1 am 15. Oktober. 56,2 am 22. Oktober. Und 110,9 am 31. Oktober. Im selben Zeitraum, vom 1. Oktober, verfünffachte sich die Zahl der auf Intensivstationen behandelten Patienten mit nachgewiesener Corona-Infektion von 362 auf 1.944.
Was ist ähnlich, was ist anders dieses Jahr, und was lässt sich daraus ableiten?
1. Höherer Ausgangspunkt, aber bislang keine vergleichbare Dynamik
Heute Morgen lag die bundesweite 7-Tages-Inzidenz bei 65,8. Mehr als doppelt so hoch wie vor genau einem Jahr – wobei die absoluten Höhen wegen der veränderten Testhäufigkeiten vor allem bei Kindern und Jugendlichen nicht direkt vergleichbar sind. Die wöchentlichen Wachstumsraten bei den gemeldeten Neuinfektionen sind es aber schon. Im Vergleich zur Vorwoche dieses Jahr: +1,8 Inzidenzpunkte (+2,8 Prozent). Vergangenes Jahr am 12. Oktober im Vergleich zur Vorwoche: +10,7 Inzidenzpunkte (+63,8 Prozent). Sinnvoll vergleichen lassen sich auch die Intensiv-Patienten. Gestern im Vergleich zur Vorwoche: +5 auf 1.354 (+0,4 Prozent). 12. Oktober 2020 im Vergleich zur Vorwoche: +143 auf 590 (+24,2).
2. Wieder sind die Alten besonders gefährdet, wieder wurde die Dynamik in dieser Altersgruppe zu lange unterschätzt
Es sind frappierende Parallelen. In der Kalenderwoche 41 des vergangenen Jahres, die am 5. Oktober 2020 begann, stiegen die Corona-Zahlen insgesamt um krasse 64 Prozent, die gemeldeten Neuinfektionen bei den über 60-Jährigen kletterten aber noch stärker: um 68 Prozent. Ihr Anteil an allen Neuinfektionen erhöhte sich auf 15,4 Prozent. Vier Wochen vorher hatte er noch 11,5 Prozent betragen.
Und dieses Jahr: In der Kalenderwoche 40, die am 4. Oktober 2021 begann, stiegen die Corona-Zahlen insgesamt nur um 0,8 Prozent, doch die registrierten Neuinfektionen bei den über 60-Jährigen um 14,3 Prozent. Ihr Anteil an allen Neuinfektionen erhöhte sich auf 12,6 Prozent. Vier Wochen vorher lag er noch bei 8,5 Prozent.
Ebenfalls sehr ähnlich, was sich bei den Krankenhaus-Einweisungen tut. In der Kalenderwoche 39 dieses Jahres, das sind die neusten vom RKI gelieferten Zahlen, erhöhte sich der Anteil der über 60-Jährigen an allen hospitalisierten Covid-19-Infizierten auf 50,9 Prozent. Vier Wochen davor: 36,7 Prozent. In der Kalenderwoche 38 des vergangenen Jahres: 50,7 Prozent Anteil. Vier Wochen davor: 34,7 Prozent.
3. Dieses Jahr liegt der Fokus noch stärker auf den Kindern und Jugendlichen
Allein die Kinder und Jugendlichen in den meisten Bundesländern müssen seit dem Frühjahr wöchentliche Pflichttests machen. Dadurch haben sich ihre Meldezahlen stark erhöht. Ihr relativer Anteil an allen Neuinfektionen ist natürlich auch dadurch gestiegen, dass allein für die unter 12-Jährigen bislang kein zugelassener Corona-Impfstoff vorliegt und ihre Impfquote folglich sehr niedrig ist. Aktuell beträgt der Anteil der 0- bis 14-Jährigen an allen gemeldeten Neuinfektionen 23,1 Prozent. Vergangenen Oktober: 9,3 Prozent.
Doch sind die Anteile wiederum nicht vergleichbar – wegen des hohen Impfanteils der Älteren, vor allem aber auch wegen der Verzerrung durch die einseitigen Pflichttests. Das zeigt wiederum der Blick auf die Krankenhauseinweisungen. Hier lag der Anteil der 0- bis 14-Jährigen dieses Jahr zuletzt bei 5,6 Prozent. Vergangenes Jahr in Kalenderwoche 38: 2,6 Prozent. Ein höherer Anteil, ja. Aber kein so extremer Faktor wie bei den Inzidenzen. Und absolut gesehen ist die Zahl der Krankenhauseinweisungen bei Kindern und Jugendlichen wie im vergangenen Jahr verhältnismäßig niedrig.
Zumal der Anteil der Kinder und Jugendlichen an allen Neuinfektionen, seit wieder Schule ist, deutlich gesunken ist. Anfang September lag er – trotz insgesamt deutlich höherer Infektionszahlen in der Gesamtgesellschaft – bei 25,2 Prozent.
Also keine Entwarnung bei den Schülerinnen und Schülern. Doch im Vergleich zu den absoluten Einweisungszahlen bei den Älteren, aber auch zur Dynamik bei deren Fallwachstum, ist unverständlich, dass wie im Vorjahr vor allem über die Corona-Sicherheit in den Schulen diskutiert wird. Über Maskenpflicht, Pflichttests und Luftfilter. Persönlich halte ich es für sinnvoll, die Maskenpflicht bei älteren Schülern und die Pflichttests für alle beizubehalten derzeit. Doch sollten wir nicht die meiste Zeit darüber diskutieren, wie wir die Alten, geimpft wie ungeimpft, besser schützen können in ihrem Alltag?
4. Dieses Jahr ist der Osten früher
dran als 2020
Schon in der späten zweiten und dann in der dritten Welle waren es die östlichen Bundesländern, die bei den Inzidenzen und den Todesfällen dem Westen enteilten. Was damals für viele überraschend kam, denn lange Zeit hatte der Osten deutlich weniger Neuinfektionen vermeldet. So auch noch vergangenes Jahr um diese Zeit: Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen waren damals noch die fünf Länder mit den bundesweit niedrigsten gemeldeten Neuinfektionen.
Dieses Jahr ist die Lage schon jetzt völlig anders: Zwei der fünf Bundesländer mit den höchsten Inzidenzen liegen im Osten (Thüringen: 97,1; Sachsen: 85,3). Und seit Wochen ist die Dynamik im Osten viel höher als im Westen. Das zeigt der Blick auf das Wachstum bei den gemeldeten Neuinfektionen in den vergangenen zwei Kalenderwochen: +43,2 Prozent und +19,1 Prozent für die fünf östlichen Länder zusammengenommen. Für die übrigen Bundesländer inklusive Berlin: +1,1 Prozent, -2,1 Prozent.
Was das mit der niedrigeren Impfquote zu tun hat? Schwer zu sagen. Im Frühjahr geschah eine ähnliche Abkopplung der neuen Länder, obwohl es damals auch im Westen kaum doppelt Geimpfte gab. Ist das Verhalten im Alltag anders? Hat es mit der Entwicklung in benachbarten Staaten zu tun? Im Frühjahr zumindest lagen die Inzidenzen bei Sachsens Nachbar Tschechien extrem hoch.
5. Wie geht es kurzfristig weiter?
Schon hier ist eine Prognose schwierig. Fest steht: Die gemeldeten Neuinfektionen bei den Kindern und Jugendlichen dürften zunächst weiter fallen, zumindest relativ – was daran liegt, dass in vielen Bundesländern Herbstferien sind und nicht getestet wird. Woraus folgt, dass es in etwa zwei Wochen wieder einen Sprung nach oben bei den Kindern und Jugendlichen geben wird, wenn die Pflichttests weitergehen. Herrscht dann wieder große Überraschung? Hält sich dann die Debatte wieder mit den Schulen auf, anstatt auf die Alten zu schauen?
Denn absehbar ist auch: Wenn keine Überraschung passiert, geht die überdurchschnittliche Entwicklung bei den Alten weiter. Das war 2020 so, und hier folgt die Entwicklung beim Anteil der über 60-Jährigen an allen Neuinfektionen bislang sehr genau dem Vorjahr.
Absehbar ist auch, dass es nach den Ferien insgesamt zu einem Schub bei den Neuinfektionen kommen könnte. So war es nach den Sommerferien, so war es vergangenes Jahr nach den Herbstferien. Man musste sich in den vergangenen Tagen nur die Berichte vom Trubel an den Flughäfen ansehen – etwa in Berlin – um ermessen zu können, dass da etwas nachkommen wird in ein, zwei Wochen. Die Frage ist, wie stark dieser Schub überdeckt wird dadurch, dass Corona-Tests für ungeimpfte Erwachsene jetzt kostenpflichtig sind – was sich als großer Fehler herausstellen könnte, weil sich so weniger testen lassen können. Was die Melde-Inzidenzen dämpften würde.
6. Wie werden der Herbst und der Winter?
Ich sagte es am Anfang: Die nächsten zwei Wochen werden wir hier klarer sehen – solange die Umstellung auf kostenpflichtige Tests den Blick nicht zu sehr vernebelt.
Wenn die Corona-Zahlen bis Ende Oktober nicht abheben sollten wie im Vorjahr, wäre das ein enorm gutes Zeichen – solange dies auch für die Zahl der Krankenhauseinweisungen und Intensiv-Patienten gilt, also nicht nur eine testbedingte Schein-Stabilität bei der 7-Tagesinzidenz ist.
In den vergangenen Tagen stiegen die Wachstumsraten bei den gemeldeten Neuinfektionen im Wochenvergleich allmählich an, aber immerhin nur Prozentpunkt für Prozentpunkt, in keiner Weise so dramatisch wie schon im Vorjahr zu dieser Zeit. Bliebe es bei einem solchen moderaten Wachstum – allerdings bei dem weiter steigenden Anteil der älteren Covid-19-Patienten, so wäre die Entwicklung nicht gut, doch sie bliebe deutlich hinter dem Vorjahr zurück.
Würde das Wachstum hingegen wieder stärker an Fahrt aufnehmen, kombiniert mit einer deutlich überdurchschnittlichen Dynamik bei den Älteren, drohte es schwierig zu werden im Winter: Zwischen Mitte Oktober und Mitte November 2020 vervierfachte sich die Zahl der ins Krankenhaus eingewiesenen Patienten mit Corona-Infektion bundesweit auf 5.143. Zum Vergleich: Derzeit liegen wir bei knapp 1000. Die bundesweite 7-Tages-Inzidenz stieg 2020 innerhalb eines Monats ebenfalls um das Vierfache. Und aus 590 Intensiv-Patienten am 12. Oktober 2020 wurden sogar 3.186 am 12. November 2020 – die höhere Wachstumsrate ergab sich aus der überdurchschnittlichen Dynamik bei den ganz Alten.
Wir können zuversichtlich sein, dass es dank Impfungen so extrem nicht kommen wird dieses Jahr. Aber das sind die Vergleichszahlen, auf die wir in den nächsten Wochen schauen sollten. Und dass viele geimpfte Ältere denken, für sie sei die Pandemie vorbei, weil die Politik es ihnen so über Monate suggiert hat, kann schon sorgenvoll stimmen. Ihr Sozialverhalten ist dieses Jahr ein anderes. Die Frage ist, wieviel von der zusätzlichen Impf-Sicherheit sie das kosten wird. Und wann die Politik dies erkennt und ihre Bemühungen auf den Schutz der Älteren fokussiert – anstatt auf Einschränkungen für die viel weniger gefährdeten Kinder und Jugendlichen.
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