In einer Resolution fordern die Mitglieder des Historikerverbands einen grundlegenden Systemwandel, um die prekären Arbeitsbedingungen im Fach zu bekämpfen. Doch bei der Benennung konkreter Lösungen bleiben auch sie vage. Ein Gastkommentar von Ariane Leendertz.
Das ist Hanna aus dem Erklärvideo des BMBF. Auch der Historikerverband fordert eine Zukunft für sie im Wissenschaftssystem. Doch wie genau könnte die aussehen? Foto: Screenshot des Videos.
DIE HISTORISCHE ZUNFT ist nicht unbedingt als Speerspitze der Modernisierung bekannt. Das althergebrachte Lehrstuhlprinzip, das durch die Juniorprofessur und Forschungsgruppenleitungen eigentlich relativiert werden sollte, hat sich im Fach ebenso hartnäckig gehalten wie die monographische Habilitationsschrift, die in anderen Disziplinen von alternativen Qualifizierungsleistungen abgelöst worden ist. Um so bemerkenswerter ist der Vorstoß, den der Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands (VHD) mit seiner vergangene Woche auf dem 53. Historikertag verabschiedeten Resolution für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Karrierewege in der Wissenschaft unternimmt. Der Verband ruft darin zu nichts Geringerem als einem Systemwandel auf, in dessen Zuge die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen sowie die Personalstrukturen grundlegend reformiert werden müssen.
Die Diskussion mit dem Hashtag "#IchbinHanna", im Juni diesen Jahres von wenigen Aktivist:innen angestoßen, hat somit auch einen der größten wissenschaftlichen Fachverbände in Deutschland erfasst und zu einer klaren Positionierung bewogen. Schon im Sommer initiierte der VHD einen offenen Brief an Bundesforschungsministerin Anja Karliczek mit, dem sich mehr als 20 andere Fachgesellschaften anschlossen, um eine Außerkraftsetzung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) zu fordern.
Man kann dem BMBF für sein
Erklärvideo nur dankbar sein
Für sein missratenes Erklärvideo zum inkriminierten Gesetz kann man dem Bundesministerium für Bildung und Forschung insofern kaum dankbar genug sein – bildete es doch letztlich den Auslöser für eine breite öffentliche und politische Debatte, die sich nicht einfach wieder von heute auf morgen erledigen wird. Die prekären Arbeitsbedingungen, die ausgeuferte Befristungspraxis und die düsteren Karriereperspektiven promovierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an den Universitäten in Deutschland sind auch für die Mehrzahl der sicher verbeamteten Professorinnen und Professoren, die im VHD wie in so vielen anderen Fachverbänden die Zügel in der Hand halten, nicht mehr hinnehmbar.
Die Berufsperspektiven in der Geschichtswissenschaft stünden oft in keinem erkennbaren Zusammenhang mehr mit den erbrachten Leistungen in Forschung und Lehre, so der Verband. Selbst eine herausragende Habilitationsschrift, wahrlich eine überaus aufwendige und voraussetzungsreiche Forschungsleistung, biete keine kalkulierbare Aussicht auf eine Professur, ebenso wenig – noch nicht einmal das – auf eine feste Mitarbeiterstelle. Mit anderen Worten: Selbst Personen, die im Fach etabliert sind und in Forschung, Lehre und Administration alle Voraussetzungen für eine Professur erworben haben, laufen Gefahr, im fünften Lebensjahrzehnt vor dem beruflichen Nichts zu stehen. Sie gehen der Wissenschaft ebenso verloren wie diejenigen, die nach einer hervorragenden Promotion die Universität verlassen haben, weil sie sich, und für diese Weitsicht ist ihnen eigentlich zu gratulieren, nicht auf das große Glückspiel und Abnutzungsrennen um die wenigen festen Stellen einlassen wollten.
Längst geht es also nicht mehr nur um die soziale Dimension der Misere. Vielmehr zeigt die Resolution, dass auch den Fachverbänden bewusst wird, wie kontraproduktiv die arbeitsrechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen mittlerweile für die Originalität und inhaltliche Qualität der wissenschaftlichen Arbeit sind. Das von allen anderen gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen Belangen zunächst unabhängige Ziel der Wissenschaft soll eigentlich die Vermehrung der wissenschaftlichen Erkenntnis, die Mehrung des Wissens, der (ja, es gibt ihn) wissenschaftliche Fortschritt sein. Kurz getaktete Verträge, die Logiken der Drittmittelförderung mit ihrer Projektförmigkeit und die verbreitete Beschäftigungsunsicherheit erhöhen jedoch, sagt der VHD, den Anpassungsdruck, verstärken bereits gängige Trends und verhindern damit Innovation. Damit sind die Interessen des Faches in seiner inhaltlichen Substanz berührt – und die Freiheit der Wissenschaft gleich mit dazu.
Als Niklas Luhmann Ende der 1960er Jahre nach seinem Forschungsprojekt gefragt wurde, lautete seine berühmte Antwort: "Thema: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine." Damit ist auf den Punkt gebracht, was Wissenschaftsfreiheit eben auch bedeutet: Die Freiheit, jenseits befristeter, immer wieder neu einzuwerbender und von Dritten zu bewilligender Mittel an grundlegenden Forschungsfragen zu arbeiten. In den Geisteswissenschaften, die nicht auf teure Apparaturen und Großverbünde angewiesen sind, erfordert das vor allem eines: Zeit.
Wer gestaltet aber jetzt die
konkreten Veränderungen?
Zeit ist der kostbarste Freiraum, den man zum Nachdenken, Überprüfen, Revidieren und Weiterdenken so dringend benötigt, wenn man grundlegend neue Ansätze, Methoden und Theorien entwickeln will. Zeit ist jedoch in vielen Fächern zu einem Luxus geworden, den sich nur wenige leisten können, am allerwenigsten das befristete Personal. Das Bangen, Buhlen und Bewerben für den nächsten befristeten Vertrag, der das akademische Überleben sichert, sprich: Existenzangst und Prekarität, sind keine guten Voraussetzungen für freies Denken, Sprechen und Arbeiten.
Außerdem haben die Bedingungen der Drittmittelförderung, an deren Tropf weite Teile der Geschichtswissenschaft hängen, die Art und Weise verändert, Forschung zu denken. Anders als Luhmann schneiden wir unsere Forschungsfragen und -themen heute für die kurz getakteten Zyklen der Projektförderung und die verfügbaren Förderformate zurecht. Wo eine neue Geldquelle zu sprudeln verspricht, schreiben wir emsig Anträge, um sie anzuzapfen. Wir passen unser Verhalten und unser wissenschaftliches Denken in die strukturellen Vorgaben ein – doch sollte es doch eigentlich genau anders herum sein!
Nur was würde das konkret bedeuten?
In der Beantwortung dieser Frage liegt eine der wichtigen Aufgaben der Fachverbände im unumgänglichen Strukturwandel, der kommen wird, der kommen muss: In allen Fächern gilt es Positionen dazu zu beziehen, wie genau Personalstrukturen, Arbeits- und Personalrecht und die Hochschul- und Forschungsfinanzierung umgestaltet werden müssen, um inhaltlich gute wissenschaftliche Arbeit in Forschung und Lehre zu ermöglichen und die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen des mehrheitlich prekären Mittelbaus substanziell zu verbessern.
Der VHD bleibt hierzu noch eher vage: Mehr feste Stellen müssen her; das WissZeitVG sollte abgeschafft werden. Doch eine Kernfrage ist ja, wo die festen Stellen herkommen sollen. Wird die Professorenschaft bereit sein, dafür ihre sorgsam gehüteten Assistentenstellen in Mittelbaupools abzugeben? Werden die drittmittelstarken Personen und Organisationen beispielsweise eine Umschichtung von Projektmitteln der DFG, der Exzellenzstrategie und des BMBF in den Zukunftsvertrag mittragen?
Die Resolution kann nur
ein erster Schritt sein
Wie kann man die Länder dazu bewegen, endlich ihrer Verantwortung in der Grundfinanzierung der Hochschulen gerecht zu werden? Muss das WissZeitVG restlos abgeschafft werden, oder ist es sinnvoller, es für die Jahre bis zur Promotion beizubehalten? Wie kann man eventuelle Härten durch Übergangsregelungen auffangen und den gegenwärtigen Überhang aus Hochqualifizierten abbauen, etwa durch Sonderprogramme mit "kw"-Stellen? Werden sich Promovierende und Postdocs künftig, als Preis für größere Sicherheit und bessere Bedingungen, mit einer stärkeren Selektion kurz nach der Promotion anfreunden müssen?
Das sind alles Fragen, denen sich auch die Fachverbände zu stellen haben, und der hierfür notwendige Verständigungsprozess wird nicht ohne Schmerzen und Konflikte, Kompromisse und Konzessionen abgehen.
Wollen die Fachverbände die Gestaltung der anstehenden Weichenstellungen nicht nur der Wissenschaftsbürokratie, den Hochschulleitungen und den Großorganisationen wie der Hochschulrektorenkonferenz, DFG oder Max-Planck-Gesellschaft überlassen, setzt das die Bereitschaft voraus, fachinterne Konflikte auszufechten und sich im wissenschaftspolitischen Geschehen zu exponieren.
Die Verbände vermögen fachspezifische Perspektiven in die Reformdebatte einzubringen. Vor allem aber sind sie die Repräsentanz aller täglich in Forschung und Lehre Tätigen: der Promovierenden, Postdocs, Lehrkräfte für besondere Aufgaben, Juniorprofessor:innen, Habilitierten und der Professorinnen und Professoren auf Lebenszeit. Jetzt gilt es, konkrete politische Lösungswege und Instrumente zu benennen, sich gegenüber der Politik dafür einzusetzen und zugleich in der eigenen Praxis an den Lehrstühlen, Instituten und Fakultäten nachhaltige Veränderungen umzusetzen. Die Resolution ist ein erster wichtiger Schritt. Nun müssen weitere folgen.
Ariane Leendertz ist Zeithistorikerin in München und war viele Jahre lang Mitarbeitersprecherin im Senat der Max-Planck-Gesellschaft. Sie ist Autorin der Studie "Wissenschaftler auf Zeit" und Mitglied des VHD.
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Michael Liebendörfer (Samstag, 16 Oktober 2021 00:06)
"Personen, die im Fach etabliert sind und in Forschung, Lehre und Administration alle Voraussetzungen für eine Professur erworben haben, [...] gehen der Wissenschaft ebenso verloren wie diejenigen, die nach einer hervorragenden Promotion die Universität verlassen haben."
Wie soll es denn bei dieser Analyse konkret werden können? Die einzige Lösung wäre Geld für alle. Für mich klingt das nach einem Text, auf den man sich leicht einigen kann, weil man eben keine praktische Lösung ableiten kann.
Hart wird die Debatte z.B., wenn man fordert, dass es in seinem Fach in Zukunft keine Drittmittel mehr geben soll, nur noch Dauerstellen nach der Promotion, und keine flexiblen Mittel, die man zur Anwerbung exzellenter Professor:innen bereithält - dafür aber eine breitere Grundfinanzierung will. Man müsste schon sagen, wem man weh tun würde.