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Deutschland, seine Nobelpreisträger und die Lehren für die Wissenschaft

Schwach in der Anwendung, dafür aber Weltspitze in der Grundlagenforschung? Die Statistik der Nobelpreisträger zeigt: So richtig kommt das Narrativ nicht hin. Was das für die nächste Bundesregierung bedeutet.

BENJAMIN LIST. Klaus Hasselmann. Reinhard Genzel. Drei deutsche Nobelpreisträger in den vergangenen zwei Jahren. Alles ehemalige oder aktive Max-Planck-Forscher. Und, auch das gehört zur Bilanz: alles Männer.

 

Von einer "großen Ehre für unser Land" sprach Bundesforschungsministerin Anja Karliczek, die beiden Preise in diesem Jahr zeigten: "Unser Wissenschaftssystem bringt exzellente Wissenschaftler hervor."

 

Was aber lässt sich, abgesehen von dieser trivialen Erkenntnis, tatsächlich anhand der aktuellen Zahl neugekürter Nobelpreisträger über den Zustand der Wissenschaft in Deutschland aussagen?

 

Erstens: Exzellenzstrategie, Pakt für Forschung und Innovation oder das Erreichen des 3-Prozenz-Ziels, in den vergangenen fast 20 Jahren haben Bund und Länder wesentlich mehr in Forschung investiert. Wer aber glaubt, dies spiegele sich schon irgendwie in den Nobelpreisträger-Statistiken wider, der irrt. In den vergangenen zehn Jahren erhielten sechs Deutsche die höchste wissenschaftliche Auszeichnung. Im Jahrzehnt davor: fünf. Und noch ein Jahrzehnt früher: sieben.

 

Tatsächlich hat Deutschland im Jahrzehnt von 1982 bis 1991 am stärksten abgesahnt: 13 Auszeichnungen. Hinzu kommt: Früher wie auch in den vergangenen Jahren arbeiteten etliche der Preisträger gar nicht in Deutschland, sondern anderswo. In den USA vor allem.

 

Deutschland: 5. Großbritannien: 12. USA: 50.

 

Zweitens: Während in den vergangenen 60 Jahren im Schnitt vier bis fünf Deutsche pro Jahrzehnt geehrt wurden, waren es 12 bis 13 Briten und rund 50 Amerikaner (wobei die dort Forschenden aus dem Ausland nicht mitgezählt sind). Und die 22 Nobelpreisträger, die die Max-Planck-Gesellschaft nun in ihren Reihen zählt? Allein die Stanford-Universität kommt auf 35.

 

All das macht die individuellen Leistungen der Geehrten nicht geringer, aber es ordnet die Leistungsfähigkeit und Dynamik des deutschen Wissenschaftssystems ein – zumindest, wenn man hierfür die Nobelpreise als Gradmesser heranzieht.

 

Woraus drittens folgt: Die häufig zu hörende These, Deutschland hinke zwar bei der Umsetzung von Forschungsergebnissen in Innovationen hinterher, dafür aber sei die Grundlagenforschung hierzulande auf Weltniveau, stimmt so nur für den ersten Teil. Es gibt Grundlagenforschung auf Weltniveau, doch anderswo ist auch diese Spitze breiter.

 

Einige Medien sind übrigens bei ihrer Bilanz der deutschen Nobelpreisträger der vergangenen zwei Jahre auf vier gekommen – weil sie die an einem Max-Planck-Institut forschende Französin Emmanuelle Charpentier mitgezählt haben. Das ist zwar falsch, aber nachvollziehbar: eine Frau, die sich auch noch an der Grenze zwischen Grundlagenforschung und Anwendung bewegt mit ihren spektakulären Arbeiten an der CRISPR-Cas-Technologie, der sogenannten Genschere.

 

Die entscheidenden Durchbrüche erzielte sie allerdings noch vor ihrer Zeit in Deutschland. Und ihre Firma zur Verwertung hat sie in der Schweiz aufgemacht.

 

Woran es Deutschland am Ende fehlt, außer an der realistischen Einschätzung seiner selbst und einer stabileren Forschungsfinanzierung auch an den Hochschulen? Die Stichworte sind alle da in der Debatte: mehr Offenheit in der Wissenschaft für Themen und Persönlichkeiten abseits des Mainstreams. Weniger Hierarchie und dafür bessere, planbarere Karrierechancen. Mehr Risikobereitschaft und -förderung. Weniger Regulierung von Forschenden und Forschung. Genug Stoff für die kommenden Koalitionsverhandlungen.

Dieser Kommentar erschien heute zuerst im ZEIT-Newsletter Wissen3.




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Kommentare: 3
  • #1

    Leander K (Montag, 18 Oktober 2021 19:32)

    Die Leistungsfähigkeit eines Wissenschaftssystems anhand der Anzahl der Nobelpreisträger zu bewerten halte ich für schwierig. Zum einen ist da ein großer Lag, meist ist die eigentliche Arbeit der Nobelpreisträger ja Jahre her und Bemühungen der letzten 10 Jahre haben meist noch keinen Einfluss. Jedoch ist die pure Nationalität auch irreleitend, ein Deutscher kann seine relevante Arbeit in den USA getan haben, ein Franzose in Deutschland. Ein bessere Möglichkeit ist meiner Meinung nach die Anzahl der ERC Grants im Vergleich zum Beitrag zu messen, jedoch ist hier das Bild nicht wirklich rosig.

  • #2

    Robert Belitz (Dienstag, 19 Oktober 2021 09:39)

    Punkt 1 des Kommentars zur Exzellenz-Strategie etc. paßt da schon. Der Finanzrahmen ist freilich wichtig, aber eine
    exzellente Forschung auf Spitzen-Niveau ist eben nicht planbar. Es wäre wichtig, wenn dieser Punkt in der künftigen Besetzung des BMBF beachtet und der Rahmen der sogenannten Exzellenz-Strategie endlich modifiziert würde.

  • #3

    Klaus Diepold (Freitag, 22 Oktober 2021 13:23)

    Es ist für die Entwicklung der Spitzenforschung nicht dienlich, wenn bei allen Investitionen und Maßnahmen zu Gunsten der (Grundlagen-)Forschung stets gefordert wird, dass dies gefälligst auch Innovationen abwerfen soll.

    Das Innovationsgeschäft ist anders gelagert als die Spitzenforschung. Beide Themen korrelieren, sind aber nur sehr schwach kausal miteinander verbunden.

    Sowohl die Spitzenforschung als auch das Innovationsgeschäft profitieren von Freiheit und Deregulierung sowie vom Fehlen des zwanghaften Strebens alles planen und vorgeben zu können (z.B. Zielvereinbarungen o.Ä.).