Was bedeutet der Rücktritt von Humboldt-Präsidentin Sabine Kunst für die "#IchbinHanna"-Initiative? Und wie lässt sich die Berliner Misere ums neue Hochschulgesetz anderswo vermeiden? Eine Bestandsaufnahme.
DER ANGEKÜNDIGTE RÜCKTRITT von Sabine Kunst hat bundesweit Aufsehen verursacht. Die Präsidentin der Humboldt-Universität (HU) will nicht mehr, weil sie das neue Berliner Hochschulgesetz für eine massive Gefährdung der HU und des Wissenschaftsstandorts Berlin hält.
Die Novelle wurde Anfang September vom Berliner Abgeordnetenhaus beschlossen, schon Monate vorher hatten sich Kunst und ihre Kollegen der anderen großen Universitäten mit Kritik und Warnungen vor dem Gesetz an die Öffentlichkeit gewandt. Allerdings ging es da stets um andere Punkte, vor allem um die Einschränkung einer seit vielen Jahren bestehenden Experimentierklausel.
Den Grund für Kunsts Rücktritt, wie sie ihn darstellt, hat die Berliner Landespolitik dagegen erst auf der Zielgeraden geliefert. Indem die rot-rot-grünen Regierungsfraktionen auf Betreiben einzelner Abgeordneter in letzter Minute einen weiteren neuen Passus ins Gesetz einfügten.
Der legt fest, dass Postdocs, Juniorprofessor:innen und Hochschuldozenten grundsätzlich Anspruch auf eine unbefristete Beschäftigung haben sollen. Eine Revolution sei das, feierten sich die beteiligten Abgeordneten selbst – in einer Wissenschaftsszene, in der je nach Zählart über 90 Prozent der Jobs befristet vergeben werden (wenn man die Promovierenden nicht mitrechnet, sind es weniger, aber immer noch die große Mehrheit).
Auf dem falschen
Fuß erwischt
Das mit der Revolution sieht auch Kunst so – nur dass sie glaubt, dass darauf die Universitäten weder strukturell noch finanziell vorbereitet sind.
Nicht vorbereitet, ja auf dem falschen Fuß erwischt wurde auch der Berliner Senat, allen voran der Regierende Bürgermeister Michael Müller und sein Wissenschaftsstaatssekretär Steffen Krach (beide SPD), die lange als Dreamteam der Berliner Wissenschaftspolitik gefeiert wurden. Müller soll den Hochschulleitungen sogar einmal in einer internen Runde gesagt haben, dass es eine solche Regelung nicht geben werde.
Doch im August und September waren Müller und Krach beide anderweitig beschäftigt: Müller kandidierte für den Bundestag, Krach wollte neuer Regionspräsident in Hannover werden, inklusive mehrmonatigem Wahlkampf und Stichwahl. Beide haben ihr Ziel übrigens erreicht. Krach hat heute seinen offiziell letzten Tag, am 1. November tritt er sein neues Amt an.
Doch nachdem vor allem er jahrelang extrem fleißig, ehrgeizig und mitunter pushy die Wissenschaftspolitik gesteuert hatte, entstand im Spätsommer ein Vakuum. Man könnte die These aufstellen, dass auch das Gerangel in der FU-Führungsetage sonst so nicht gelaufen wäre. In jedem Fall aber nutzte ein Bündnis rot-rot-grüner Wissenschaftspolitiker im Abgeordnetenhaus das Vakuum geschickt aus.
Ergebnis: Der neue Paragraf 110 des Hochschulgesetzes, ein wissenschaftspolitisches Tribut an die "#IchbinHanna"-Bewegung, die seit Monaten an Kraft gewinnt und die eben jene Revolution – weg von Kettenverträgen, hin zu mehr Dauerstellen, zu transparenten und verlässlichen Karrierewegen – fordert.
Auch eine Revolution muss man
handwerklich ordentlich machen
Das Problem ist nur: Auch eine Revolution muss man handwerklich ordentlich machen, und genau diese Präzision liefert der neue Paragraf 110 nicht. Was er stattdessen gebracht hat: jede Menge Verwirrung und Rechtsunsicherheit. Ab wann gilt die neue Regelung, und für wen? Welche Leistungen müssen Wissenschaftler vorweisen, um eine Dauerstelle zu erhalten? Und überhaupt, wie muss diese Stelle beschaffen und dotiert sein?
Die Gesetzesexegese in den Verwaltungen von Hochschulen und Senatskanzlei lief die vergangenen Wochen auf Hochtouren, HU-Präsidentin Kunst hat sie für sich bereits abgeschlossen. Ihre Schlussfolgerung: So kann das nicht klappen. Zumal, worüber sie sich sichtlich am meisten ärgerte, die Politik den Hochschulen zwar die Neuregelung beschert hat, sie aber nicht mit der nötigen Zusatzfinanzierung kombiniert.
Was irgendwie auch logisch ist, denn die Hochschulfinanzierung wird mit dem Senat ausgehandelt, mit dem Paragrafen 110 hatte der aber, siehe oben, gar nichts zu tun.
Natürlich kann man umgekehrt zu Recht fragen, ob die Berliner Hochschulen mit einem garantierten jährlichen 3,5-Prozent-Budgetplus, das bundesweit Seltenheitswert hat, nicht schon an sich genug Spielraum (und Verpflichtung!) erhalten haben, um an ihren Karrierestrukturen zu schrauben. Kunst und ihre Kollegen bestreiten das mit der genügenden Luft natürlich, doch gehört eben auch dies zur Wahrheit: Die Schaffung besserer Beschäftigungsbedingungen ist schon länger Teil der Vereinbarungen zwischen Land und Hochschulen, auch dafür haben sie das Extra-Geld bekommen.
Doch hat eben auch Kunst Recht, wenn sie jetzt offenbar keine graduelle Entwicklung erwartet, sondern eine sprunghafte, die noch dazu, solange das Gesetz so nebulös formuliert ist, widersprüchlich und kaum steuerbar ausfallen könnte. Offenbar wollte die Ingenieurwissenschaftlerin nicht den Kopf hinhalten für die Politik, wenn in einem Jahr oder etwas mehr die Hochschulen mit Vorwürfen konfrontiert werden sollten, dass die Umsetzung des Gesetzes derart schiefgehen konnte.
Anderswo ist nicht Berlin,
aber überall ist "#IchbinHanna"
Dabei machte die Noch-Präsidentin in ihrer Rücktrittserklärung rhetorisch geschickt deutlich, dass sie die breite Unterstützung der "#IchbinHanna"-Initiative auch an der HU wahrnehme und darüber hinaus ja selbst die dringende Notwendigkeit von Veränderungen sehe – aber eben nicht so wie im gegenwärtigen Gesetz. Und auch nicht umgesetzt durch sie als HU-Chefin.
Was lässt sich aus all dem für den Rest der Republik lernen? Vor allem dies: Die Konstellationen, die zu der Berliner Novelle geführt haben, mögen besondere gewesen sein. Manchem mögen sie typisch für die vermeintlich so chaotische Hauptstadt erscheinen. Doch sollte man sich vor der Schlussfolgerung hüten, dass der Veränderungsdruck, den die "#IchbinHanna"-Initiative verkörpert, außerhalb Berlins geringer ist. Anderswo ist nicht Berlin, aber überall ist "#IchbinHanna". Es könnte sogar sein, dass eine neue Ampelkoalition auf Bundesebene eine Gesetzesinitiative starten wird.
Es wird also darauf ankommen, es besser zu machen als in Berlin. Politik, Hochschulen und Wissenschaftler müssen jetzt gemeinsam nach gangbaren Lösungen suchen, aus denen praktikable (und finanzierbare!) Personalmodelle entstehen. Denn so, wie der Versuch von Wissenschaftsministerien, das Thema zu verschleppen, am Ende mit hemdsärmligen Eigeninitiativen von Parlamentariern bestraft werden kann, diskreditieren halbgare gesetzliche Regelungen das Anliegen von "#IchbinHanna", weil es dadurch illusorisch und wissenschaftsfremd aussieht.
Genau deshalb ist der Rücktritt Kunsts so gefährlich für "#IchbinHanna", darum reagieren einige Unterstützer der Initiative (nicht die Initiatoren!) so angefasst und stellen die Motive der HU-Präsidentin in Frage. Weil ihre Entscheidung ein Symbol werden könnte: eine Hochschulpräsidentin als mutige Kämpferin für die Wissenschaft und die gute Sache. Dabei sollen doch eigentlich die "#IchbinHanna"-Leute die Kämpfer:innen für die gute Sache sein. Hochschulrektorenkonferenz, Deutscher Hochschulverband und zahlreiche Hochschulchefs haben den Ball schon aufgenommen.
Zurück nach Berlin. Eine ironische Wendung besteht darin, dass einer der treibenden Akteure hinter dem neuen Paragrafen 110 als möglicher nächster Wissenschaftssenator gehandelt wird. Tobias Schulze, bisher wissenschaftspolitischer Sprecher der Linken. Möglicherweise muss er ja dann demnächst mit dem Gesetz leben, das er selbst so formuliert hat. Und dessen problematischsten Passagen reparieren, was viele als Abschwächung wahrnehmen könnten. Es dürften interessante Monate werden.
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Doreen Samtens (Freitag, 29 Oktober 2021 16:33)
Es stimmt schon, daß eine solche Panne nur im "Berliner Vakuum" passieren kann. Es ist aber schade, daß sich der Kandidat für die Nachfolge des Senators für eine derartige
handwerkliche Nachlässigkeit hergibt. Man kann diese
schwierige Frage eben nicht mit "links" machen
Noch 'ne Hanna (Sonntag, 31 Oktober 2021 11:38)
"Das Problem ist nur: Auch eine Revolution muss man handwerklich ordentlich machen, und genau diese Präzision liefert der neue Paragraf 110 nicht. Was er stattdessen gebracht hat: jede Menge Verwirrung und Rechtsunsicherheit. Ab wann gilt die neue Regelung, und für wen? Welche Leistungen müssen Wissenschaftler vorweisen, um eine Dauerstelle zu erhalten? Und überhaupt, wie muss diese Stelle beschaffen und dotiert sein?"
Das kann und darf ein Gesetz nicht leisten. Das Gesetz kann nur den politischen Rahmen setzen und den Hochschulen gegenüber verdeutlichen, was politisch gewollt ist - das inhaltliche Ausfüllen muss den Hochschulen überlassen bleiben und der Rücktritt von Frau Kunst drückt den Unwillen aus, diese Verantwortung tatsächlich zu übernehmen. Ich persönlich empfinde ihren Rücktritt als unangenehm kindisch, u.a. weil ich diese ständige Forderung nach mehr Geld so problematisch finde: Die Hochschulen hätten es bei den Befristungen gar nicht so weit kommen lassen müssen und beschweren sich jetzt darüber, dass die Politik ihnen nicht zusätzliche Mittel zur Verfügung stellt, um eigene Versäumnisse aus der Vergangenheit wieder zu beheben.
Ein Postdoc einer Berliner Uni (Sonntag, 31 Oktober 2021 18:45)
Nunja, wenn so war, dass erst das von Herrn Wiarda m.E. schlüssig beschriebene Machtvakuum im Spätsommer ermöglichte, dass wider Erwarten kurzfristig doch noch eine Umsetzungsschance im Punkt Entfristungen im Zuge der Hochschulgesetznovellierung entstand (nachdem zuvor Maßnahmen wie die in den Hochschulverträgen festgelegten Entfristungsquoten kaum von Erfolg gekrönt waren): Dann kann ich durchaus verstehen, wenn möglicherweise bei der kurzfristigen Formulierung Ungenauigkeiten entstanden. Parlamentarier sind schließlich auch nur Menschen, das sollte man nicht vergessen. ;-)
Wie wäre es daher gewesen, wenn die Senatsverwaltung hierzu entspr. Vorarbeiten geleistet hätte (hätte dürfen)? Dann wäre das möglicherweise vermeidbar gewesen. Dies war aber offenbar nicht so. Aber lange genug diskutiert und sogar in Hochschulverträge geschrieben hatte sie die Entfristungsquoten. Nur die verbindliche Festlegung eines "Follow up" bei der Umsetzung durch die Hochschulen wurde seitens der Senatsverwaltung wohl irgendwie "vergessen"...? Jedenfals ist die Überprüfung und Sanktionierung der Vertragsziele offenbar ein größeres Problem.
Daher schien es auch nach den letzten Hochschulverträgen (die eben keine finanziellen Vor- oder Nachteile bei Erfüllung oder Nichterfüllung der Entfristungsquoten vorsahen) so, als müsse man allein auf den guten Willen UND - ggf. - die Durchsetzungsfähigkeit der Hochschulleitungen auch ggü. ihren Kanzler*innen und Personaldezernaten setzen. Und dies war nach allen bisherigen Erfahrungen beim Thema Entfristungsquote eben nicht erfolgreich.
Dies kann eigentlich nicht verwundern, wenn eine Hochschule bei Nichterfüllung von Vereinbarungen des Hochschulvertrages keine konkreten Vorteile oder Abstriche in der Finanzierung zu erwarten hat (z.B. wenn sie die 35% Entfristetenquote bzw. die +5 Prozentpunkte nicht erreichte, sondern sagen wir um 2,5 Prozentpunkte verfehlt? Von einer Übererfüllung brauchen wir hier wohl gar nicht erst reden, obwohl eine Regelung hierfür möglicherweise nicht schlecht wäre...).
Daher ist absolut nachvollziehbar, dass der Weg über die Gesetzesnovelle versucht wurde zu nutzen.
Dabei hätte es durchaus Mittel und Wege gegeben, den gemeinsam vereinbarten Hochschulvertragszielen Nachdruck zu verleihen: Durch eine Recherche in einem anderen Zusammenhang stieß ich auf einen Zeitungsbericht, wonach in Sachsen zwei Hochschulen die Ziele der dortigen Verträge in vollem Umfang erreichten - und dort nur dann auch in vollem Umfang die Zielvereinbarungsmittel erhielten. Andere Hochschulen mussten dagegen mit je nach ihrer Zielerreichung entsprechend weniger Geld auskommen, wie z.B. die Hochschule Zittau-Görlitz mit 600.000€ weniger und die TU Bergakademie Freiberg mit 3,4 Millionen Euro weniger. Das Geld geht dem Landes-Hochschulsystem allerdings nicht verloren: "Sie fließen in ein sogenanntes Initiativbudget, über dessen Verwendung das Wissenschaftsministerium zusammen mit der Landesrektorenkonferenz entscheidet." (URL: http://www.sz-online.de/nachrichten/hochschule-buesst-600000-euro-ein-3825909.html).
So etwas könnte dann wiederum zweckgebunden verwendet werden, z.B. für diejenigen Hochschulen, die das mit der Schaffung entspr. leistungsbezogen zu vergebenden entfristeten noch einmal überlegt haben und nun ernsthaft angehen wollen... ;-)
Jan Berlens (Montag, 01 November 2021 10:57)
Bei kaum erhöhbarer Finanzierung muss die Verbesserung von Beschäftigung und Bezahlung im Mittelbau zu Lasten der bestens abgesicherten und bezahlten Professorenschaft gehen. Wenn schon Flexibilität, dann bitte überall.
Übrigens zeigt der Mischmasch von Gendersprache und herkömmlicher generischer Bezeichnungen im Artikel sehr gut die Idiotie der Gendersprache an.
Gerold Feist (Montag, 01 November 2021 17:36)
@Jan Berlens:
Das ist m.E. kein wirklich sinnvoller Vorschlag. Die wirklichen Probleme liegen in der zunehmenden Rolle der Drittmittelforschung und der viel zu großen Zahl von Doktoranden. Stattdessen sollte die Grundfinanzierung der Hochschulen wieder verbessert werden. Das Antreiben der
Hochschullehrer über Drittmittel-Quoten führt nur zu deren Entsolidarisierung und nicht zur Kooperation. Wahre
Exzellenz entsteht aus einer produktiven Umgebung und
ist nicht planbar.
Laubeiter (Freitag, 05 November 2021 19:39)
Wem es beim Kochen in der Küche zu stickig wird, der geht, statt zu kochen, an die frische Luft. Wenn die Präsidentin einer Universität ihren Rücktritt einreicht mit der Begründung, sie sähe sich außerstande, die Regelungen eines neuen Gesetzes in ihrer Universität anzuwenden, dann ist das für mich nicht kämpferisch, sondern das Eingeständnis einer Unlust, eine noch ungelöste Situation auszuhalten. Wozu gibt es denn Gerichte, vor denen man die Anwendung von Gesetzen prüfen lassen kann auf ihre Konformität mit GG und anderen Normen, wenn nicht für eine ungelöste Situation? Vor Gericht hätten in diversen Konstellationen Universitäten als Arbeitgeber und WissenschaftlerInnen als Arbeitnehmer_innen um die Anwendung des Gesetzes streiten können.