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Mission: Bildung für das 21. Jahrhundert

Wie die Transformation der Schulen aus der Corona-Krise heraus gelingen kann. Ein Gastbeitrag von Ekkehard Thümler.

Illustration: Gerd Altmann / Pixabay.

DIE BEVORSTEHENDE BILDUNG einer neuen Regierung löst große Hoffnungen auf einen Aufbruch aus, gerade im Bereich der Schulpolitik. Diese Erwartungen können nur enttäuscht werden. Darauf deuten schon die Programme der künftigen Regierungsparteien hin: Im Vergleich zu anderen Politikfeldern finden sich im Bildungsbereich deutlich weniger ambitionierte Ansätze. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem echten Aufbruch kommt, ist aber vor allem deshalb so gering, weil bislang völlig unklar ist, wie er überhaupt zu organisieren wäre. 

 

Der Versuch, einen Wandel des Schulsystems herbeizuführen, ist nicht neu: Vor 20 Jahren löste der PISA-Schock große Anstrengungen aus, um die Schulen in Deutschland besser und gerechter zu machen. Doch zeigt die Corona-Krise in aller Deutlichkeit, wie wenig erfolgreich diese Maßnahmen in ihrer Summe waren. Wesentliche Probleme wie die soziale Schlagseite des Schulsystems sind weiter ungelöst, nach wie vor kann am Ende der neunten Klasse fast jeder vierte Jugendliche nicht richtig lesen, schreiben und rechnen, dazu haben sich die Schulen in der Krise als wenig widerstandsfähig erwiesen – nicht zuletzt, weil Zukunftsthemen wie die Digitalisierung nicht rechtzeitig angepackt wurden. 

 

Es braucht einen

fundamentalen Strategiewechsel

 

Nach Jahrzehnten wenig erfolgreicher Reformen ist daher ein Eingeständnis unumgänglich: Das übliche Handlungsrepertoire ist für eine Bewältigung der altbekannten Probleme der Schulen ebenso ungeeignet wie für die anstehende Entwicklung eines zukunftsfähigen oder gar international führenden Schulsystems. Ein echter Aufbruch erfordert einen echten Strategiewechsel. Und der muss fundamental sein.


Ekkehard Thümler ist Senior Fellow am Centrum für Soziale Investitionen und Innovationen. Von 2008 bis 2016 leitete er am CSI das Forschungsprogramm "Strategies for Impact in Philanthropy" Er ist Gründer der Initiative "Tutoring for All" und hat vorher für verschiedene Stiftungen gearbeitet. In seiner Dissertation untersuchte Thümler Wirkungs- und Innovationsstrategien philanthropischer Organisationen. Foto: Gerrit Meier.



Doch wo sollen neue Strategien herkommen? Die Quellen, aus denen sich in der Vergangenheit die Ideen für eine Veränderung des Bildungssystems gespeist haben, sind weitgehend versiegt. Sei es die Orientierung an den erfolgreichsten PISA-Ländern oder die Empfehlungen der empirischen Bildungsforschung. Alle bisherigen Lösungsansätze haben sich als unzureichend erwiesen, und neue Vorschläge für vielversprechende Alternativen fehlen. Daher dreht sich die Diskussion seit Jahren im Kreis. 

 

Ein vielversprechender Ansatz

aus der Innovationsforschung

 

Höchste Zeit, dass die Bildungspolitik den Blick über den Zaun wagt – auf die aktuellen Entwicklungen in der Innovationsforschung und der Innovationspolitik. Hier ist in den vergangenen Jahren ein neuartiges politisches Instrument ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: die sogenannten Missionen. Ein Ansatz, der besonders von der Innovationsforscherin Mariana Mazzucato bekanntgemacht worden ist. Internationale Organisationen wie die OECD, aber auch die Europäische Union und das Bundesministerium für Bildung und Forschung sehen ihn als vielversprechend an, um wirksame und umfassende neue Lösungen für die größten und komplexesten Probleme moderner Gesellschaften zu finden. Probleme, die nicht durch einzelne Instrumente aus dem herkömmlichen Werkzeugkasten repariert werden können.

 

Missionen zeichnen sich durch drei wichtige Merkmale aus: In ihrem Zentrum stehen besonders schwerwiegende Herausforderungen wie der Klimawandel, die mit ambitionierten und klar formulierten Zukunftsvisionen und Zielen – zum Beispiel der Klimaneutralität der EU bis 2050 – verknüpft werden. So bieten sie Orientierung, in welcher Richtung neue Lösungen zu suchen sind. 

 

Zweitens eröffnen Missionen einen Raum der Möglichkeiten, in dem viele verschiedene Problemlöser aus dem öffentlichen und privaten Sektor sowie der Wissenschaft auf unterschiedlichen Wegen neue und auch unkonventionelle Ideen experimentell erproben und dauerhaft an der Entwicklung von Lösungen arbeiten können, die auf die gemeinsamen Ziele hin ausgerichtet sind. 

 

Drittens unterscheidet sich auch die Umsetzung missionsorientierter Politik von herkömmlichen Förderprogrammen. Eine wichtige Rolle spielen Agenturen, die nach dem Vorbild der US-amerikanischen Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) gestaltet sind. Ausgestattet mit hohem eigenem Budget, besonders qualifiziertem Personal und beträchtlicher Autonomie haben sie den Auftrag, erfolgversprechende Entwicklungen frühzeitig aufzuspüren und ihnen durch vielfältige Unterstützungsmaßnahmen zum Durchbruch zu verhelfen.  

 

Derartig gestaltete Missionen kommen bereits heute in den unterschiedlichsten Bereichen zum Einsatz, von der Energiepolitik über die Medizin bis hin zum Umweltschutz. Lediglich der Bildungsbereich blieb bislang völlig ausgeklammert. Damit aus der aktuellen Krise heraus eine neue Entwicklungsdynamik entfaltet werden kann, sollte sich das ändern. 

 

Wie müsste eine Mission konkret gestaltet sein, damit sie mit Aussicht auf Erfolg einen wirksamen Beitrag zur Entwicklung des Schulsystems für das 21. Jahrhundert leisten kann? Das Beispiel einer Mission "Lesen, Schreiben und Rechnen für alle Kinder" zeigt, wie eine solche Strategie aussehen könnte und wie sie sich von herkömmlichen Politikansätzen unterscheiden würde, ich will es einmal in dem Dreiklang Herausforderung – Problemlöser – Förderagentur durchspielen.

 

Schlechte schulische Leistungen sind

kein unvermeidliches Schicksal

 

Herausforderung: Eine der größten Schwächen unserer heutigen Schulen besteht wie bereits erwähnt in dem Umstand, dass trotz aller Gegenmaßnahmen der vergangenen Jahre fast jeder vierte Schüler in der 9. Klasse nur sehr schlecht lesen, schreiben und rechnen kann – was nachweisbar überaus negative Konsequenzen für das Leben der Betroffenen, den Zusammenhalt der Gesellschaft und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands mit sich bringt. Eine nationale Mission "Lesen, Schreiben und Rechnen für alle Kinder" würde das deutliche Signal setzen, dass dieser Zustand nicht länger hingenommen wird. 

 

Denn schlechte schulische Leistungen sind kein unvermeidliches Schicksal. Den erfolgreichsten Schulen gelingt es schon heute, praktisch alle Kinder zum Erfolg zu führen. Statt wie bisher zu versuchen, die Zahl der leistungsschwachen Schüler um einige Prozentpunkte zu verringern, würde eine solche Mission sich ein sehr viel ambitionierteres Ziel setzen, zu dem es auf die Dauer ohnehin keine Alternative gibt: mindestens 95 Prozent, also praktisch alle Schüler, müssen am Ende ihrer Schulzeit gut lesen, schreiben und rechnen können. 

 

Vielfältige Lösungswege und Problemlöser: Ein solches Ziel ist offenbar nicht über Nacht und ganz sicher nicht mit herkömmlichen, als Projekte organisierten Maßnahmen zu erreichen. Eine ambitionierte Innovationspolitik müsste die Entwicklung einer Vielzahl verschiedener Lösungsansätze über einen Zeitraum von 25 Jahren hinweg ermöglichen. Zudem darf sich die Förderung nicht länger auf die Zusammenarbeit von staatlichen Schulen und der Bildungsforschung konzentrieren, weil sich dieser Ansatz in den vergangenen Jahrzehnten als wenig erfolgreich bei der Entwicklung praxisfähiger und wirksamer Lösungen erwiesen hat. Stattdessen müssten gezielt auch die Beiträge des privaten Sektors mobilisiert werden. Digitale Bildungsunternehmen und innovative Nonprofit-Organisationen sollten künftig eine viel größere Rolle bei der Entwicklung praxisnaher neuer Lösungen spielen, um so die Lücke zu füllen, die bislang noch zwischen angewandter Wissenschaft und der Umsetzung in der schulischen Praxis klafft.

 

Eine Mission "Lesen, Schreiben und Rechnen für alle Kinder" könnte günstige Voraussetzungen dafür schaffen, weitaus ambitioniertere Maßnahmen umzusetzen als bislang üblich. Zu diesen Maßnahmen könnte ein Netzwerk aus 100-Prozent-Schulen zählen, die den Auftrag erhalten, wirklich allen Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Weil noch unklar ist, wie dies zuverlässig gelingen kann, würden diese neuartigen Schulen eng mit forschungsstarken Universitäten zusammenarbeiten. Doch anders als herkömmliche Labor- oder Universitätsschulen würden sie Schulentwicklung mit dem klaren Ziel betreiben, wirksame neue Unterrichtsmodelle zu entwickeln, die sich für den Einsatz in vielen Schulen eignen.  

 

Zwangsläufig würde eine solche Mission zum Ausbau und dem massiven Einsatz neuer digitaler Technologien führen, intelligenten Lernsystemen für Lesen, Schreiben und Rechnen etwa, die sich automatisch an Wissensstand und Wissensentwicklung der Schüler anpassen, die gleichzeitig so attraktiv und spielerisch gestaltet sind, dass die Arbeit mit ihnen motivierend ist und Spaß macht. Auf dieser Grundlage würden digitale Unternehmen neue Lernprogramme entwickeln, um dem Lehrpersonal in Schulen zunehmend besser erprobte und immer wirksamere Instrumente an die Hand zu geben.

 

Warum nicht eine Agentur

für schulische Sprunginnovation?

 

Eine Agentur für schulische Sprunginnovation: Eine Mission in der Bildung würde nicht länger auf nachgeordnete Behörden setzen, die für diese Aufgabe niemals gedacht waren und sich dafür als nicht sonderlich geeignet erwiesen haben. Stattdessen würde eine neuartige Agentur für Bildungsinnovation ins Leben gerufen. Sie müsste ähnlich wie die Agentur für Sprunginnovation mit einem ernstzunehmenden Budget und großen Entscheidungsspielräumen ausgestattet sein, um erfolgversprechende neue Ansätze zügig vorantreiben und dauerhaft unterstützen zu können.

 

Die Anleihen, die der vorgeschlagene Ansatz aus der Welt der technologischen Innovation macht, sind vielen in Schulen, Bildungsforschung und Bildungspolitik gewiss eher fremd. Doch wenn sich nichts an den Methoden ändert, mit denen Wandel in den Schulen organisiert wird, ändert sich auch nichts an den Ergebnissen. Eine neue Bundesregierung sollte den Mut haben, auch in der Bildungspolitik Missionen zu erproben. Dann könnte es ihr tatsächlich gelingen, die Weichen zu stellen für ein chancengerechtes, leistungsfähiges und modernes Schulsystem im 21. Jahrhundert.



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Kommentare: 3
  • #1

    Mike Tango (Donnerstag, 04 November 2021 12:11)

    Oh, bitte keine solche Agentur für Sprunginnovationen! Keine Agentur, die 16+1 Ministerien stetig neue Konzepte vorschlägt, die dann bis zur Unkenntlichkeit zerredet werden, um schließlich, Jahre später, den Schulen von ihren jeweiligen Ministerien und Schulbehörden ohne nennenswerte strukturelle oder gar finanzielle Hilfe oktroyiert zu werden. Davon und von der inhaltlichen und finanziellen Engführung der Schulen hatten wir in den vergangenen Jahrzehnten genug.

    Gebt den Schulen endlich den inhaltlichen Freiraum, den sie brauchen und eine finanzielle Ausstattung, die ihrer politisch so oft beschworenen Bedeutung angemessen ist! Beendet die Gängeleien und Besserwissereien durch die Politik, deren pädagogische Kenntnisse meist allein auf dem eigenen damaligen Schulbesuch gründet. Gebt den Lehrer(inne)n ihre Laptops, einen festen Arbeitsplatz im Schulgebäude und ein strukturelles Arbeitsumfeld, das ihre Arbeit schützt und wertschätzt. Gebt den Schulen die Möglichkeiten, für sich selbst die besten Konzepte zu finden. Darin sollten sie nämlich die wirklichen Profis sein.

    Im Gegenzug für mehr Geld und mehr Freiheit kann und muss(!) man mehr vergleichbare Belege für den pädagogischen Erfolg verlangen. Kaum ein anderer Zweig staatlichen Handelns eignet sich besser dafür, als der Schulbetrieb. Tag für Tag, Halbjahr für Halbjahr werden Noten für den individuellen Erfolg der Schülerinnen und Schüler vergeben. Statistisch gesehen, sind das traumhafte Bedingungen. Was leider vollkommen fehlt, ist solche Bewertungsmaßstäbe auch an die Lehrerinnen und Lehrer sowie die jeweilige Schule insgesamt anzulegen. Halbjährliche nationale Vergleichstests, die nicht nur den Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler, sondern auch die Lehr- und Vermittlungsqualität der Schulen und ihres Lehrkörpers erfassen, wären hierfür ein essenzieller Schritt. Ein Landesvergleich wäre in unserem föderalen System immerhin schon mal ein Anfang.

    Wichtig wäre es allerdings, einem solchen Vergleich mittelfristig auch Konsequenzen folgen zu lassen. Erfolge müssen erkennbar werden. Bislang tragen nur die Lernenden die Konsequenzen ihrer vielleicht nicht immer objektiven Bewertung und Benotung. Die Lehrenden und ihre Arbeitgeber stellen sich diesem Qualitätswettbewerb nicht. Manche sind engagiert und freuen sich über die Erfolge ihrer Schützlinge, wenn diese auf neue Methoden positiv reagieren. Andere machen über Jahre ihren Dienst und quälen Generationen von Kindern mit ihrem immer gleichen uneffektiven Konzept. Nicht erst seit den Arbeiten von John Hattie (2009) weiß man, dass es in erster Linie auf die pädagogische Qualität der Lehrperson ankommt, ob Schülerinnen und Schüler in der Schule erfolgreich sind. Unterrichtskonzepte, soziales Umfeld und Klassengrößen sind weit weniger relevante Faktoren.

    Passiert ist seitdem wenig. Wo bleiben, analog zu den Hochschulrankings, gut fundierte Schulrankings? Wo bleiben die gezielten Förderprogramme, um Schulen und Lehrende gezielt zu fördern? Wo bleiben die Auszeichnungen für die besten Konzepte zur Verbesserung der Lehre und für die beeindruckendsten Aufsteiger? Was wir viel eher brauchen als bürokratische Interventionen oder staatliche Innovationsagenturen, ist eine unabhängige „Bundesstiftung Bildung“, die einen solchen trimagischen Wettbewerb zur Bewertung und zur Förderung von Schüler(inne)n, Lehrer(inne)n und Schulen länderübergreifend und frei von politischen Vorgaben und Proporzen organisiert. Jeder Schule ist dann freigestellt, sich in diesem Wettbewerb, der nicht allein auf den Köpfen der Schülerinnen und Schüler ausgetragen wird, zu verhalten und sich situationsgerecht zu verbessern. Jedes Ministerium kann daraus dann die entsprechenden Konsequenzen ziehen, kann ggf. zusätzlich honorieren oder notfalls reformieren.

  • #2

    Birte Schleglich (Freitag, 05 November 2021 10:52)

    @Mike Tango:
    Die Vorschläge zur "Bewertung" von Schulen und Lehrern könnten auch von Margot Honecker stammen. Davon sollte man wirklich die Finger lassen. Allerdings ergäbe eine wirklich vorurteilsfreie geschichtliche Bewertung, daß die
    Schulbildung im Osten in vielen Aspekten einfach solider
    war.

  • #3

    Michael Fritz (Freitag, 12 November 2021 16:28)

    @Mike Tango:
    Sie möchten der einzelnen Schule große Freiräume geben - einverstanden. Sie möchten die Leistung auch der Lehrkräfte messen und vergleichend bewerten - auch einverstanden. Jetzt fehlt nur noch eines: Lassen Sie die Kollegien in ihrer Schulentwicklug und die Lehrkräfte in ihrer Kompetenzentwicklung nicht allein! Bringen sie beide, die Organisationseinheit Schule und jede Lehrkraft, in einen Dialog mit Menschen aus der Lern- und Bildungsforschung. Wenn beide - Forschung und Praxis - ihr Wissen und ihre Erfahrung zusammenbringen, kann besseres Neues entstehen. Im Idealfall findet der Dialog in einem iterativen Prozess statt: Reflexion des IST, Defintion eines besseren SOLL auf der Basis des Wissens der Lernforschung, gemeinsame Entwicklung von Schritten zum besseren, rasche gemeinsame Erprobung und Reflexion. Was sich nicht bewährt, wird schnell verändert, was funktioniert. wird vertieft und dann evaluiert. Diesen Weg kann man, in Anlehnung an das design based learning der Informatik design based research nennen und kommt, so meine ich, dem Vorschlag von Herrn Thümler recht nahe.