Rekordinzidenzen in der Corona-Pandemie: Was steckt hinter den aktuellen Zahlen? Eine Analyse über ein doppeltes Schisma, die Welle der Alten und die Entwicklung in den Krankenhäusern.
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JEDEN TAG EIN NEUER REKORD. Auch heute Morgen meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) eine bundesweite 7-Tages-Inzidenz, die es in der gesamten Pandemie noch nicht gegeben hat: 213,7. Und der Trend ist so eindeutig im Moment, dass es auch morgen, übermorgen und die Tage danach so weitergeht: Jeden Morgen ein neuer Höchststand.
Bliebe das derzeitige Wachstumstempo bei den gemeldeten Neuinfektionen, wie es ist, würde nächste Woche Mittwoch die 300er-Marke überschritten werden, in acht Tagen also. Und die 400er-Marke in genau 14 Tagen, heute in zwei Wochen. Nur dass die Dynamik zuletzt wieder zugenommen hat. So stiegen die registrierten Neuinfektionen in der gesamten vergangenen Kalenderwoche um 27,4 Prozent. Heute aber lag die 7-Tages-Inzidenz schon wieder mit 39,0 Prozent über dem vergangenen Dienstag. Und das Online-Portal Risklayer, dessen Zahlen meist aktueller sind als die des RKI, meldete gestern sogar 81 Prozent mehr Neuinfektionen als vor einer Woche.
Es wird immer deutlicher, dass das kleine Luftholen zwischendurch nur der bekannte Ferieneffekt war, weil in den Bundesländern nach und nach Herbstferien waren und die Kinder und Jugendlichen währenddessen keine Pflichttests hatten. Da es bei Erwachsenen bislang aber kaum verpflichtende Reihentests gibt, bieten die Schultests den einzigen halbwegs verlässlichen Blick ins aktuelle Infektionsgeschehen hinein. Der ist jetzt mit dem Ende der Schulferien Stück für Stück wieder da. Und er ist wenig ermutigend. Was lässt sich sonst noch aus den aktuellen Corona-Zahlen herauslesen? Die wöchentliche Analyse.
1. Das doppelte Schisma
In Sachen Corona ist Deutschland doppelt geteilt. Einmal, wenn auch nicht ganz so eindeutig, in Nord und Süd. Zwei Bundesländer im Norden, Bremen (+2,1 Prozent) und Schleswig-Holstein (+9,1 Prozent) kamen in den vergangenen sieben Tagen auf einstellige Wachstumsraten bei den gemeldeten Neuinfektionen, es sind auch die zwei einzigen Bundesländer, die bei der 7-Tages-Inzidenz noch bei unter 100 liegen. Ansonsten gilt: Das Fall-Wachstum steigt erneut von Norden nach Süden tendenziell an. Hamburg: +20,3 Prozent. NRW: +21,6 Prozent. Niedersachsen: +32,3 Prozent. Hessen: +21,8 Prozent. Rheinland-Pfalz: +47,4 Prozent. Saarland: +50,2 Prozent. Baden-Württemberg: +35,7 Prozent. Bayern: +39,0 Prozent. Keine perfekter Zusammenhang, aber doch auffällig.
Unübersehbar und krass ist indes die Teilung zwischen Ost und West. Vier von fünf neuen Bundesländer liegen im Vergleich zur Vorwoche an der Spitze der bundesweiten Coronadynamik-Tabelle. Brandenburg: +94,0 Prozent. Sachsen: +70,1 Prozent. Sachsen-Anhalt: +53,5 Prozent. Mecklenburg-Vorpommern: +50,6 Prozent. Thüringen erreicht mit +43,3 Prozent Platz 6 bei der Dynamik, aber dafür bei den absoluten 7-Tages-Inzidenzen mit 439,3 Platz 2. Nur noch, muss man sagen. Denn Sachsen (Inzidenz: 483,7) ist in den vergangenen Tagen an Thüringen vorbeigeschossen. Es folgen Bayern (348,0) und Baden-Württemberg (256,9), wobei Brandenburg (245,0), Berlin (220,8) und Sachsen-Anhalt (213,7) auch bereits jenseits der 200 liegen.
Nimmt man alle ostdeutschen Bundesländer zusammen, erreichten diese in der vergangenen Kalenderwoche 44 ein Fall-Plus von 58,5 Prozent. Die alten Bundesländer aber nur 19,7 Prozent. Und so ähnlich geht das seit Wochen. Spannend ist auch der Vergleich zum Vorjahr. Damals verzeichnete das RKI zum gleichen Zeitpunkt im November (Kalenderwoche 45) 14.059 Neuinfektionen im Osten. Dieses Jahr sind es 42.688. Dreimal so viele. Während in den alten Bundesländern vergangene Woche 131.267 Fälle gezählt wurden, knapp 22.000 bzw. 20 Prozent mehr als im Vorjahr.
Die Gründe für die beiden deutschen Teilungen und vor allem für das Ost-West-Gefälle sind sicherlich vielschichtig. Festzuhalten ist aber: Die Regionen mit besonders hohen Inzidenzen und Wachstumsraten gehören häufig zu denen mit besonders niedriger Impfbereitschaft und Impfquote. Während Bremen und Schleswig-Holstein an erster und vierter Stelle bei den Impfquoten liegen.
2. Vergleichsweise wenig Dynamik bei den Jungen,
massive Steigerungen bei den Älteren
Es ist ebenfalls das seit Monaten bekannte Bild: Die Corona-Zahlen bei den Kindern und Jugendlichen entwickeln sich unterdurchschnittlich, während sie bei den über 60-Jährigen rasant
steigen. Nur wird dies immer wieder aufs Neue übersehen, weil die meisten Beobachter nur auf die absoluten Fallhöhen starren. Konkret: In der vergangenen Kalenderwoche 44 gab es 21,4 Prozent mehr
gemeldete Neuinfektionen bei den 0- bis 4-Jährigen und 14,7 Prozent mehr bei den 5- bis 14-Jährigen. Während die registrierten Corona-Fälle bei den 60- bis 79-Jährigen um 37,9 Prozent kletterten
und bei den über 80-Jährigen um 34,5 Prozent.
Wie sehr die Entwicklung auseinanderläuft, lässt sich am Langzeittrend erkennen. Seit Anfang Juli sind die Corona-Zahlen bei den 0- bis 14-Jährigen um das 43-Fache gestiegen. Bei den über 60-Jährigen aber um das 70-Fache. In absoluten Zahlen: von 727 auf 32.295 bei den Kindern und Jugendlichen. Und von 415 auf 29.470 bei den über 60-Jährigen. Absehbar dürfte es in etwa zwei Wochen soweit sein, dass auch absolut mehr Ältere sich nachweislich infizieren als Kinder und Jugendliche. Und ich betone bewusst: nachweislich. Denn die Dynamik bei den Krankenhauszahlen deutet daraufhin, dass es bei den über 60-Jährigen eine massiv hohe Dunkelziffer gibt.
3. Deutlich mehr Intensivpatienten –
und der Anteil Älterer im Krankenhaus steigt weiter drastisch
Gestern zählte das bundesweite DIVI-Intensivregister 2.616 Patienten mit einer nachgewiesenen Corona-Infektion auf Deutschlands Intensivstationen. Das waren 27,1 Prozent mehr als am Montag vergangener Woche. Und so besorgniserregend der Anstieg ist, wenn man ihn im Verhältnis zum Vorjahr setzt, dann sieht man die Wirkung der Impfungen. Am 8. November 2020 mussten bereits 2.904 Coronainfizierte intensivmedizinisch behandelt werden, und das waren 40,9 Prozent mehr als eine Woche zuvor. Und das, obwohl die 7-Tages-Inzidenzen im vergangenen Jahr merklich niedriger lagen (am 9. November 2020 zum Beispiel bei 139,0 im Vergleich zu 213,7 aktuell).
Wenig hoffnungsvoll stimmt indes, dass am 9. November 2020 die 7-Tages-Inzidenz bereits nur noch 15,8 Prozent im Plus lag, dieses Jahr aber bei besagten 39,0 Prozent, Tendenz steigend. Entsprechend ging 2020 auch das Wachstum bei den Intensiv-Patienten in der Folgewoche runter, so dass die 3385 Behandelten am 15. November 2020 nur noch 16,5 Prozent mehr waren als am 8. November. Dieses Jahr dürften die Intensivzahlen bis zum 15. November dagegen stärker steigen, weil sie weiterhin den Inzidenzen folgen.
Erschreckend sind auch die Statistiken des RKI zu den Krankenhauseinweisungen. Absolut gesehen sind sie erst mit vielen Wochen Verzögerung wirklich belastbar, und noch dazu stammen die neusten verfügbaren Zahlen bereits aus Kalenderwoche 43, die am 25. Oktober begann. Doch verlässlich (und dramatisch) ist auch hier der Trend bei den über 60-Jährigen. Sie stellten zu dem Zeitpunkt bereits 62,5 Prozent aller ins Krankenhaus eingewiesenen Patienten. Vier Wochen zuvor, in Kalenderwoche 39, waren es noch 48,6 Prozent. Und acht Wochen davor 36,6 Prozent.
Zum Vergleich der Anteil der Krankenhauseinweisungen bei den 0- bis 14-Jährigen in Kalenderwoche 43: 3,3 Prozent. Vier Wochen vorher: 4,7 Prozent. Acht Wochen vorher: 4,6 Prozent.
Immerhin rechnet das RKI inzwischen die Gesamtzahlen der gemeldeten Krankenhauseinweisungen mit einem statistischen Verfahren hoch. Folgt man dieser Hochrechnung für die Kalenderwoche 43 und legt die oben erwähnten Prozentwerte an, so dürfte es bereits in der letzten Oktoberwoche über 1.800 60- bis 79-Jährige und rund 1.900 über 80-Jährige gegeben haben, die ins Krankenhaus mussten. Was in etwa dem Stand von Ende Oktober 2020 (2.113 bzw. 1.701) entspräche.
Trotz Impfungen, mögen einige jetzt sagen. Doch muss man auch hier bedenken, dass die gleichen Krankenhauszahlen 2020 auf der Grundlage von deutlich weniger registrierten Neuinfektionen entstanden. Nimmt man den Zeitraum zwei Wochen zuvor für die Ansteckung an, lag die entsprechende 7-Tages-Inzidenz 2020 bei gemittelt 35 (Zeitraum 12. bis 18. Oktober). 2020 aber bei 70,5 (Zeitraum 11. bis 17. Oktober). Was hieße, dass aus jedem Inzidenzpunkt derzeit halb so viele Krankenhauseinweisungen folgen wie vor einem Jahr.
4. Und jetzt?
Wenn alles so bleibt, wie es derzeit ist, dürfte die vierte Welle in den nächsten Wochen von drei beschriebenen Trends bestimmt werden. Erstens: Weiter stark steigende Meldezahlen, neue Rekordinzidenzen und die entsprechend hektische öffentliche Debatte darüber. Zweitens: Ein fortgesetztes Auseinanderdriften von Ost und West und (mit Abstufungen) Süd und Nord mit der Folge regional stark unterschiedlich belasteter Gesundheitssysteme. Drittens: Eine besondere Infektionsdynamik unter Älteren mit einem weiter steigenden Anteil an allen gemeldeten Infektionsfällen und inzwischen auch absolut sehr hohen Zahlen, die wiederum in mehr Krankenhauseinweisungen pro gesamtgesellschaftlichen Inzidenzpunkt resultieren.
Derzeit ist keine Trendänderung erkennbar, und der Blick auf 2020 zeigt: Damals nahm trotz bestehendem Teil-Lockdown in der zweiten Novemberhälfte das Fall-Wachstum noch einmal stark zu. Mal sehen, was das für dieses Jahr bedeutet.
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Müder Statistiker (Dienstag, 09 November 2021 11:41)
Man kann sich wirklich die täglichen Mitteilungen in Presse und Fernsehen schenken und sich auf die Analyse bei
Herrn Wiarda beschränken.
PB (Dienstag, 09 November 2021 11:49)
Wie hoch ist denn der aktuelle Anteil der Ungeimpften an den
- Infizierten über 60 Jahre
- Hospitalisierungen?
PB (Dienstag, 09 November 2021 12:16)
@ Müder Statistiker #2 (Lob@Wiarda)
Volle Zustimmung!
Ich würde mir wünschen, die offiziellen Stellen & Presse würden regelmäßig solche Analysen veröffentlichen _und_ auch danach handeln.
MK (Mittwoch, 10 November 2021 12:46)
Inhaltlich stimme ich meinen Vorkommentierenden voll und ganz zu. Einen Kommentar zu den gewählten Formulierungen von Herrn Wiarda möchte ich mir aber noch erlauben. Einem so gebildeten und reflektierten Wissenschaftskommunikator würde ich durchaus zutrauen die Bezeichnung "alte" und "neue" Bundesländer nach mehr als 30 Jahren Wiedervereinigung endlich aus dem eigenen Wortschatz zu streichen. Herr Wiarda nutzen Sie Ihre Einflussmöglichkeiten!
Henning Krause (Mittwoch, 10 November 2021 19:58)
Dein Beitrag, lieber Jan-Martin, hat mich zu etwas Widerspruch getriggert. Da der Text für einen Blog-Kommentar zu lang war, habe ich ihn mal drüben in meinem Blog aufgeschrieben: https://divergent.de/2021/11/10/kinder-infektionsschutz-buchstaeblich-als-ziel/
Wie immer danke für Deine lesenswerten Perspektiven!
David J. Green (Donnerstag, 11 November 2021 11:26)
Ich sehe die Gefälle als Südost – Nordwest.