Offiziell meiden Bund und Länder alle Diskussionen über Schulschließungen. Doch viele Eltern trauen der Politik nicht mehr. Dabei ließe sich die vierte Welle auch so brechen – wenn erstmals die Erwachsenen den Großteil der Einschränkungen tragen würden.
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ES IST GESPENSTISCH. Offiziell redet kein Ministerpräsident von flächendeckendem Distanzunterricht, die Ampel-Verhandler haben ihn sogar ausgeschlossen. Auch Wechselunterricht steht explizit auf keiner politischen Agenda, um die vierte Welle zu brechen. Doch würde ein Medienwissenschaftler zählen, wie oft das Wort "Schulschließungen" in Zeitungsartikeln, sozialen Medien und auf Online-Nachrichtenportalen auftaucht, hätte er für die vergangenen sieben Tage ein Hochschnellen der Kurve zu berichten.
Warum meinen so viele Leitartikler, etwa die von Tagesspiegel und Süddeutscher Zeitung plötzlich, vor etwas warnen zu müssen, das offiziell gar nicht droht? Eigentlich gar nicht drohen kann, solange zwar die Corona-Inzidenzen bei Kindern und Jugendlichen enorm hoch sind und weiter steigen, zuletzt wieder schneller als die der Erwachsenen – aber die Kinder- und Jugendärzte nicht parallel vor einem massiven Anstieg bei den schweren Erkrankungen warnen?
Aktuell bestehe "im Austausch mit vielen Chefärzten von Kinderkliniken in Deutschland" der Konsens: "Schulen und Kitas müssen offenbleiben", twitterte Matthias Keller, der Ärztliche Direktor und Chefarzt der Kinderklinik Dritter Orden Passau, vor dem Wochenende. Tatsächlich sind viele Kinderkliniken voll – aber nicht wegen Corona, sondern wegen Infektionen mit dem RS-Virus.
Auch Charité-Chefvirologe Christian Drosten sagte in der ZEIT, er hoffe, "dass man nicht wieder Schulen schließt". Auch im vergangenen Winter, so Drosten, hätte man sagen können: "Die Schulen bleiben offen, aber wir setzen richtig harte Homeoffice-Kriterien im Dienstleistungsbereich durch. Wir nehmen die Wirtschaft in die Pflicht, nicht die Schulen." Viele seiner Wissenschaftlerkollegen sehen das ähnlich, kaum ein Forscher macht sich öffentlich stark dafür, die Klassenräume zuzusperren.
Wei die dramatischen Auswirkungen von Schließungen auf die geistige und körperliche Gesundheit vieler Kinder und Jugendlichen inzwischen vielfach belegt sind. Von aufreißenden Bildungslücken und sozialen Verwerfungen ganz zu schweigen. Und weil die meisten Experten all das zusammengenommen für schwerwiegender halten als die Folgen vermehrter Corona-Infektionen bei Minderjährigen – weil diese so selten schwerwiegend verlaufen und auch Langzeitschäden nur in Ausnahmefällen beobachtet werden.
Die sich immer aufs Neue wiederholende
Ironie des politischen Versagens
Handelt es sich also doch eher um eine Gespensterdebatte? Schön wär's, würden viele Eltern und Bildungsexperten vermutlich antworten. Das Problem ist: Nach den Erfahrungen von 20 Monaten Corona-Pandemie trauen sie der Politik nicht mehr.
Sie spüren, wie der Handlungsdruck auf die Regierungschefs immer weiter zunimmt, parallel zu den explodierenden Inzidenzen. Die Politik hat nicht gehandelt, als sie hätten handeln können. Jetzt handelt sie nicht, weil sie weiß, dass nur noch drastische Maßnahmen helfen, und vor denen schrecken die Verantwortlichen noch zurück.
Es ist die sich immer aufs Neue wiederholende Ironie des politischen Versagens in dieser Pandemie: Weil nur unpopuläre Maßnahmen helfen, wartet man mit ihnen, bis noch unpopulärere Maßnahmen nötig werden. Und aus Angst, diese umzusetzen, wartet man immer weiter. Bis es irgendwann gar nicht mehr geht. Bis statt einer planvollen Reaktion nur noch ein zielloses" Jetzt machen wir alles auf einmal" übrig bleibt. Und dieses "Jetzt machen wir alles auf einmal" hat in der Vergangenheit stets dazu geführt, dass vor allem die Rechte der Kinder und Jugendlichen unverhältnismäßig beschnitten wurden.
Warum, fragen viele Eltern und Bildungsexperten, sollte es diesmal anders sein? Wenn doch die Politik, angefangen mit dem zu späten Teil-Shutdown vom November 2020, es noch kein einziges Mal hinbekommen hat, angemessen zu reagieren? Angemessen würde bedeuten: die Erwachsenen stärker in die Verantwortung nehmen als die Kinder, die Wirtschaft stärker als das Bildungssystem. Denn je stärker die Erwachsenen sich einschränken, desto mehr bleibt für die Kinder möglich. Das ist genau das, was Drosten anmahnt.
Angemessen würde auch bedeuten, die Alten- und Seniorenheime so gut vor dem Einsickern des Virus zu schützen, wie es nur irgendwie geht, weil alte Menschen um ein Vielfaches stärker gefährdet sind als junge. Doch wer diskutiert zum Beispiel über Luftfilter in den Aufenthaltsräumen von Heimen?
Die gefährliche "2G"-Logik und
was sie für die Kinder bedeutet
Die Realität sah selbst in den vergangenen Wochen noch so aus: Die Fußballstadien waren so voll wie Kölns Straßen und Kneipen zum Karnevalsauftakt. Möglich ist dies bis heute sogar bei Höchstinzidenzen, weil Teile der Politik zu lange an "2G" als dem Goldstandard festgehalten haben – auch als längst klar war, dass Geimpfte mit zunehmendem Abstand von der Zweitimpfung immer schlechter vor einer Infektion geschützt sind. Aber "2G" ersparte eben den politischen Ärger, den Geimpften erklären zu müssen, dass sie sich weiter genauso in die Testschlangen einreihen müssen wie die Ungeimpften. Obwohl die Bundesregierung es absehbar doch wird tun müssen und bei Veranstaltungen laut Tagesspiegel bereits plant.
Die "2G"-Logik, so epidemiologisch gefährlich sie ist, rechtfertigte dann auch, Kinder anders zu behandeln, obwohl sie sogar im Gegensatz zu den Erwachsenen (geimpft oder nicht) in den Schulen regelmäßig pflichtgetestet werden. Deshalb wurde Kindern vielerorts empfohlen, auf die Halloween-Tour zu verzichten, deshalb wurden St.-Martins-Umzüge abgesagt. Deshalb will Bayern sogar 12- bis 17-Jährige ohne Impfung in ihrem Sozialleben einschränken – obwohl die STIKO sich dagegen ausgesprochen hatte.
Auf die Büros und Fabriken dagegen kommt jetzt zum ersten Mal seit Pandemiebeginn eine 3G-Pflicht zu, Gottesdienste bleiben weiter davon befreit, auch mit der Bahn kann man ohne Impfung oder Test durchs Land fahren. Während die öffentliche Aufregung schon hochkochte, als viele Bundesländer (aus meiner Sicht fälschlicherweise) die Maskenpflicht im Unterricht vorübergehend abschafften und Thüringen (auch das habe ich für falsch gehalten) bis zur höchsten Warnstufe die Testpflicht für die Kinder aussetzte.
Dass zu dem Zeitpunkt der Zugang zu den meisten Altenheimen noch ohne jeden Test möglich war, dass selbst Mitarbeiter, die Schwerkranke und Pflegebedürftige versorgen, nicht geimpft sein müssen, sorgte dagegen bis vor kurzem kaum für eine Schlagzeile. Obwohl schon im September und noch eindeutiger im Oktober absehbar war, dass eine erneute Corona-Katastrophe bei den Alten drohen würde, und nicht nur bei den ungeimpften Alten. Man musste nur in die wöchentlichen Corona-Statistiken schauen und, anstatt allein auf die absoluten Inzidenzhöhen der einzelnen Altersgruppen zu achten, die vom Alter abhängigen relativen Wahrscheinlichkeiten einer schweren Erkrankung einberechnen – und deren Bedeutung für die Krankenhaus-Einweisungen.
Ein Schutzring um die
Schwächeren herum
Die Jugendärzte tun das. Christian Drosten tut das. Und sie kommen deshalb zu dem oben erwähnten Ergebnis. Nur zweifeln eben viele Eltern und Bildungsexperten daran, dass auch die Politik in der Lage sein wird zu der nötigen Differenzierung, wenn sich demnächst der angestaute Aktionismus Bahn bricht. Passend dazu hat Noch-Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) gestern schon mal in der Welt am Sonntag verkündet, man sei gut beraten, nichts apodiktisch auszuschließen, auch Schulschließungen nicht.
Dabei würde es gehen: harte Maßnahmen gegen die Corona-Explosion ergreifen. Und die Kitas und Schulen trotzdem offen lassen. Die Kinder haben niedrigere Inzidenzen verdient – genau wie die alten Menschen. Und sie haben es verdient, gleichzeitig nicht wieder am stärksten von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen zu werden. Wie wäre es, wenn zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie die Starken, die Erwachsenen, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer, zusammenstehen würden, um einen Schutzring um die Schwächeren zu bilden? Die Ungeimpften lassen sich impfen, die Geimpften lassen sich testen, und sie alle gemeinsam schrauben ihre sozialen Aktivitäten zurück.
Umfassende Testpflichten, umfassende Konktaktbeschränkungen: Ohne die werden Bund und Länder nicht mehr auskommen. Besser, sie beschließen sie sofort. Und lassen die Kinder weiter zur Schule gehen.
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Martin Lommel (Montag, 15 November 2021 12:37)
Lieber Herr Wiarda,
vielen Dank für Ihre klaren Worte und die deutliche Position, die Sie ergreifen und die ich teile. Gerade bei jungen Menschen (und ich zähle die Studierenden auch noch einmal dazu) darf m.E. nicht vernachlässigt werden, dass eine (für die Hochschulen: vollständige) Schließung der Bildungseinrichtungen ggf. vor einer Ansteckung mit Corona-Virus schützt, aber viele andere - insbesondere psychische/mentale - "Nebenwirkungen" hervorruft, die im Vergleich zum i.d.R. milden Covid-Krankheitsverlauf bei jungen Menschen drastische Langzeitfolgen mit sich bringen wird, wenn wir die Aussagen von Kinder- und Jugendpsychologen ernst nehmen.
De facto vor die Wahl gestellt (Montag, 15 November 2021 15:23)
zwischen Ansteckung oder Home-Schooling werden die meisten U12-Eltern zum Schluss kommen, dass sie letzteres vorziehen, insbesondere dann, wenn sie sich in der Lage sehen, die vielbeschworenen psycho-sozialen Folgen weitgehend abzufangen. Dem wird sich die Politik nicht verschließen.
Django (Dienstag, 16 November 2021 09:21)
@ #2: Die Möglichkeit, psychosoziale Folgen (und Einbrüche im Bildungsweg) "weitgehend abzufangen", ist stark an die sozioökonomische Stellung gekoppelt, vulgo: Je besser das Familieneinkommen, je komfortabler die Wohnsituation, desto weniger gravierend sind die Auswirkungen. Machen Sie mal "Home-Schooling", wenn beide Elternteile ihrem Beruf als (nur so als Auswahl) Pflegekraft, Busfahrer, Einzelhandelsverkäufer, Fabrikarbeiterin, ... nachgehen müssen und Kinder sich selbst überlassen sind. Wir produzieren gerade eine neue Kohorte Bildungs- und Lebensverlierer, und nein, dem wird sich die Politik nicht verschließen. Bildungschancen sind diesem Land wurscht. Aber bloß keine Homeoffice-Pflicht oder Testpflicht am Arbeitsplatz.
Eine politische Klasse, die nicht einmal eine Testpflicht für Personal in der Altenpflege zustande bringt, wird uns nicht retten.
Working Mum (Dienstag, 16 November 2021 11:59)
@ #2: Ähnlich wie Django glaube ich nicht, dass die Mehrheit der Eltern sich diese Einstellung leisten kann, da nur ein bestimmter Ausschnitt des Berufslebens, nämlich homeofficefähige Berufe, eine Vereinbarkeit mit dem Homeschooling erlauben. Und selbst mit Blick auf homeofficefähige Berufe braucht es m.E. ein Bewusstsein dafür, dass Homeoffice keine Form der Kinderbetreuung ist. Wer stundenlang in Videokonferenzen gebunden ist, kann seine Kinder nicht beim Lernen unterstützen. Je nach Unterstützungsbedarf des Kindes ist das also auch kein gangbares Modell. Zumal selbst gutsituierte Eltern mit viel Zeit für Kinderbetreuung den Umgang mit Gleichaltrigen nicht ersetzen und daher die psychosozialen Folgen nur bedingt werden abfangen können.
JP (Donnerstag, 18 November 2021 14:07)
Ich war gestern Abend mit meiner Frau Essen, es war schwierig überhaupt ein Restaurant mit einem freien Tisch
ohne Reservierung zu finden. Als Anfang/Mitte 40jährige, wir waren mit Abstand die Jüngsten in allen sechs Restaurants und das Durchschnittsalter war deutlich über Ende 50. Ich kann wirklich nicht verstehen, wieso das Rollatorrennen in die Superspreader-Events ok ist und die Kinder die Folgen dann Ausbaden sollen...