Abseits der Norm und mittendrin: Hochschulen müssen mehr Studiengänge in Teilzeit ermöglichen - für jobbende Studierende jeden Alters. Ein Kommentar.
Wer neben dem Studium jobben muss oder will, ist für Teilzeitangebote an der
Uni dankbar.
Foto: StockSnap / Pixabay.
NOCH NIE HABEN so viele Menschen in Teilzeit studiert wie heute. Doch wenn man sich den Prozentwert anschaut, der für den Allzeit-Rekord genügt, mag man es kaum glauben: 7,7 Prozent. Das entspricht 223.000 Studierenden.
So berichtet es das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), ein von Bertelsmann-Stiftung und Hochschulrektorenkonferenz getragener Think Tank, mit Verweis auf den HRK-Hochschulkompass und Zahlen des Statistischen Bundesamts.
Seit Jahren beschwören Bildungswissenschaftler, Politiker, Hochschulexperten und Rektoren das Ideal einer für alle Talentierten offenen Hochschule, eines für unterschiedliche Lebensentwürfe und Lebensphasen flexiblen Studiums. Sie verkünden das Ende des Norm-Studenten als Orientierungspunkt hochschulischer Planung – und dann studieren 92,3 Prozent in klassischen Vollzeit-Modellen?
Nun könnte man sagen: Vielleicht war ja das ganze Gerede Humbug. Die meisten wollen und können eben auch heute noch klassisch studieren. Was, wenn die Corona-Pandemie vorbei ist, wieder bedeuten dürfte: vormittags in den Hörsaal, dann in die Mensa, nachmittags vielleicht ein Seminar oder die Studiengruppe, noch ein bisschen in die Bibliothek oder zu Hause pauken.
Start Up gründen und
weiterstudieren – fast unmöglich
Nur ist die Realität der Studierenden eine andere, und zwar schon lange. Die übergroße Mehrheit muss für ihren Lebensunterhalt jobben, viele leben in Partnerschaft, manche haben Kinder zu versorgen oder Eltern zu pflegen. Und die Realität der Studierenden könnte nochmal eine ganz andere sein, wenn offizielle Teilzeit-Angebote selbstverständlicher wären. Solange sie es nicht sind, werden nämlich ältere Berufstätige, alles Gerede über "lebensbegleitendes Lernen" hin oder her, gar nicht erst den Weg zurück an die Hochschulen finden. Und wer schon als junger Mensch eine Firma gründen will, kann das parallele Weiterstudieren auch meist vergessen.
Warum aber tut sich dann so wenig? Die Antwort ist vor allem für die staatlichen Hochschulen wenig schmeichelhaft: Zwar haben sie laut CHE für jeden sechsten Vollzeit-Studiengang eine Teilzeitoption im Angebot, doch sind viele davon weder lebensnah gestaltet noch unbürokratisch zu beantragen. Weil die staatlichen Hochschulen ihre Studiengänge eben auch ohne Flexibilisierung vollbekommen. Zumindest solange die Abiturienten-Jahrgänge groß genug bleiben und die meisten Abiturienten studieren wollen. Immer noch sind 40 Prozent der Studiengänge mit einem NC belegt.
Und so sind es die privaten Hochschulen, die Anlaufpunkte jener werden, die abseits der Norm studieren wollen (oder müssen). Folgende Zahlen in der CHE-Auswertung belegen das besonders drastisch: Nur zehn Prozent der deutschen Studierenden sind an privaten Hochschulen immatrikuliert, aber die Hälfte aller Teilzeitstudierenden. Und von denen, die an staatlichen Hochschulen in Teilzeit studieren, tut das wiederum fast die Hälfte an einer einzigen Hochschule: der Fern-Universität in Hagen.
Klar, offizielle Teilzeitangebote sind das eine. Es wird hunderttausende weitere Studierende geben, die versuchen, sich in Vollzeit-Studiengängen irgendwie ihr persönliches Teilzeit-Modell zurechtzuzimmern. Mit allen Problemen und Nachteilen, die das im Alltag bedeuten dürfte. Doch fehlen nicht nur die flexiblen Studiengänge. Wer offiziell in Teilzeit studiert, verliert noch dazu seinen Bafög-Anspruch. Politisch absurd.
So dass das CHE Recht hat, wenn es kommentiert: Wer in Deutschland berufsbegleitend studieren oder sein Studium aus persönlich-familiären Gründen reduzieren will, müsse Glück oder Geld haben. Glück, an einer der wenigen staatlichen Hochschulen mit großzügigen Teilzeit-Regelungen zu studieren. Oder Geld, weil das Studium an einer Privathochschule kostet und in jedem Fall kein Bafög-Geld fließt.
Vor allem aber müssen sich staatlich finanzierte Hochschulen fragen lassen, inwiefern sie ihren gesellschaftlichen Bildungsauftrag eigentlich noch erfüllen – wenn inzwischen viele private Hochschulen trotz Studiengebühren eine sozial diversere Studierendenschaft haben.
Der Kommentar erschien Montag in kürzerer Fassung zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
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Kopfkratzer (Sonntag, 21 November 2021)
"Und wer schon als junger Mensch eine Firma gründen will, kann das parallele Weiterstudieren auch meist vergessen."
Vielen Dank für den herzhaften Lacher, den dieser Satz mir gerade erlaubt hat. Ich lehne mich jetzt mal so weit aus dem Fenster, auch ohne Kenntnis diesbezüglicher Zahlen zu behaupten, dass die Anzahl von Menschen, die wegen der Gründung einer Firma ihr Studium abbrechen, im Vergleich zur Gesamtzahl der Studierenden verschwindendst gering ist. Um dieses Problem zu lösen braucht es keinen flächendeckenden Umbau der Teilzeitangebote aller Hochschulen. Die Fernuni Hagen ist im Übrigen eine tolle Einrichtung! Ich halte es durchaus für sinnvoll, berufsbegleitende Studiengänge und Teilzeitmodelle an bestimmten Hochschulen zu bündeln, die sich dann auch ganz dezidiert auf die Bedürfnisses der Studierenden in Teilzeit einstellen können.
René Krempkow (Montag, 22 November 2021 12:30)
@Kopfkratzer: Die Fernuniversität Hagen ist in der Tat eine tolle Einrichtung. Allerdings kann diese nicht genügen (und auch nicht ein paar weitere einzelne Hochschulen), um den bundesweiten Bedarf an Teilzeitstudienangeboten zu decken, hier ist deshalb Herrn Wiarda zuzustimmen.
Dafür ein paar Zahlen & Fakten (inkl. Quellen):
Allein an der Humboldt-Universität zu Berlin gab es bereits vor rund einer Dekade formal zwar nur knapp 2 Prozent der Absolvent(inn)en, die als Teilzeitstudent*in eingeschrieben waren; zusätzlich gaben allerdings mit gut 15 Prozent rund achtmal soviele von ihnen an unabhängig von formalen Regelungen de facto in Teilzeit studiert zu haben (und das sind nur die den Abschluss schafften).
Und es gibt auch empirische Analysen zu Zusammenhängen der Anteile von Teilzeitstudierenden in Studienfächern mit deren Studienerfolgsquoten, wonach dies deutlich und signifikant zusammenhängt - und zwar unter statistischer Kontrolle etlicher anderer Variablen (vgl. Kamm, R./Krempkow, R., 2013: Wie „gerecht“ ist leistungsorientierte Mittelvergabe für Hochschulen gestaltbar? In: Knoll, C. (Hrsg.): Gerechtigkeit. Multidisziplinäre Annäherungen an einen vieldeutigen Begriff).
Auch die Übergangsquoten vom Bachelor zum Master unterscheiden sich um ein Mehrfaches: So studieren nur ein Drittel der De-Facto-Teilzeitstudierenden nach dem Bachelor weiter - und dies ist unabhängig von ihren Studienleistungen und zahlreichen weiteren Kontrollvariablen, wie multivariate Analysen zeigen (https://www.researchgate.net/publication/340967267).
Welche Potenziale dies auch für die Finanzierung der betr. Hochschulen hätte, die z.B. in Berlin schon jetzt auch von der Einhaltung der Regelstudienzeit abhängt (und dies wird angesichts der Finanzierungsformel des Hochschulpakt-Nachfolgeprogramms in den nächsten Jahren für alle Hochschulen in Deutschland immer bedeutsamer), zeigen Berechnungen zu Determinanten der Studiendauer anhand bundesweiter Absolvent*innenstudien: Würde man für Studierende flexiblere Teilzeitstudienmöglichkeiten anbieten, resultierte daraus ein deutlich höherer Anteil Studierender in der Regelstudienzeit
(https://www.researchgate.net/publication/321670385).
Deshalb - unabhängig davon, ob es irgendwo Berechnungen zu Zusammenhängen von Gründung und Studienabbruch gibt (mir sind keine bekannt): Wer angesichts der vorliegenden Zahlen und Fakten über die Überlegungen Wiardas lacht, lacht vermutlich nicht als letztes... ;-)
Unklar (Donnerstag, 25 November 2021 09:03)
Mir ist tatsächlich der Inhalt des Artikels auch nicht ganz verständlich. Ich bin über die Lage in anderen Bundesöländern nicht genau informiert (die vielleicht im Fokus des Artikels stehen), aber jedenfalls in Berlin kann jeder Studierende so lange studieren, wie er will. Als Universität haben wir keinerlei Sanktionsmöglichkeiten, es gibt auch keine Fristen für Nachprüfungen oder für die Zeit zwischen Kursbesuch und Prüfung. Unsere Studierenden gründen fleissiug Firmen neben dem Studium, jonglieren viele Jobs, machen dies und das. Vor einer Masterarbeit müssen wir dann aushandeln, wie die Studierenden genügend Zeit für die Arbeit haben können, weil sie oft schon vertraglich anderweitig gebunden sind. Daher studiert hier auch praktisch niemand in Teilzeit - es würde sich ja nichts ändern.
Das einzige, was etwas Zeitdruck erzeugt, ist die Bafög-Regelung. Die liegt aber nicht in der Hand der Universitäten, passt also nicht zum Titel des Artikels.
Eine unbedachte gesetzliche Regelung zur Teilzeit birgt dafür aber für die Universitäten die grosse Gefahr, dass man aufgrund aufzustellender Studienpläne plötzlich viele Pflichtvorlesungen viel öfter anbieten muss, um den verschiedenen Geschwindigkeiten gerecht zu werden. Das ist komplett für die meisten Fakultäten unschaffbar, weil dafür schlicht die Kapazitäten fehlen. Wer das fordert, reduziert implizit den Wahlpflichtbereich, und das unter Umständen massiv.