Die Maßnahmen seien "in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie" mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen. Heute Mittag beraten Bund und Länder über neue Schritte zur Corona-Eindämmung.
Der Sitz des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Foto: Nicola Quarz, CC BY-SA 2.0.
DAS BUNDESVERFASSUNGSGERICHT hat heute mehrere Verfassungsbeschwerden gegen die im April beschlossene Bundesnotbremse zurückgewiesen, darunter auch zwei, die sich gegen Schulschließungen und Wechselunterricht gewandt hatten.
Zwar erkenne das Verfassungsgericht "erstmals ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung" an, teilte der Erste Senat des Gerichts mit, und in dieses Recht hätten die Maßnahmen seit Beginn der Schulschließungen "in schwerwiegender Weise" eingegriffen. Doch habe zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Bundesnotbremse ein dynamisches Infektionsgeschehen geherrscht, außerdem habe die Impfkampagne damals erst begonnen gehabt – so dass die "überragende(n) Gemeinwohlbelange in Gestalt der Abwehr von Gefahren für Leben und Gesundheit und für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystem" so groß gewesen seien, dass nach der "seinerzeit vertretbaren Einschätzung des Gesetzgebers" auch Schulschließungen gerechtfertigt gewesen seien.
Schon heute Mittag sind Bundeskanzlerin Merkel, ihr designierter Nachfolger Scholz und die Ministerpräsidenten zu einer Telefonkonferenz verabredet, um erste Konsequenzen aus den Gerichtsbeschlüssen zu ziehen und möglicherweise eine neue Bundesnotbremse vorzubereiten. Dies hatten zumindest Regierungschefs wie Markus Söder (CSU) aus Bayern gefordert.
Welche Rolle spielten die
Test- und Hygienemaßnahmen?
Die Bundesnotbremse war im April zeitlich befristet in den Paragraph 28a des Infetionsschutzgesetzes eingefügt worden. Die darin enthaltene Anordnung von Wechselunterricht ab einer regionalen 7-Tagesinzidenz von 100 sowie das vollständige Verbot von Präsenzunterricht ab einer Inzidenz von 165 seien "formell und materiell verfassungsgemäß" und zum Schutz der Bevölkerung vor infektionsbedingten Gefahren von Leib und Leben und zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems erforderlich gewesen, heißt es in der Begründung des Gerichtsbeschlusses.
Dies wäre nur anders gewesen, betonen die Richter, "wenn eindeutig festgestellt werden könnte", dass Infektionen bei geöffneten Schulen mit regelmäßigen Tests und Hygienemaßnahmen "mindestens gleich wirksam hätten bekämpft werden können". Die wissenschaftliche Erkenntnislage hierzu sei jedoch "durch Unsicherheit" geprägt. Von den befragten Sachverständigen habe einer diese Auffassung vertreten, mehrere andere hätten jedoch gesagt, dass dazu eine fachwissenschaftlich fundierte Bewertung nicht möglich sei – "weil noch keine Daten zur Wirksamkeit der verschiedenen, bisher an Schulen ergriffenen Maßnahmen zur Infektionsbekämpfung erhoben und ausgewertet worden seien". Ein Sachkundiger, der Charité-Chefvirologe Christian Drosten habe demgegenüber ausgeführt, dass das Infektionsgeschehen seines Erachtens "jedenfalls mit Antigen-Schnelltests in Schulen nicht gleich wirksam eingedämmt werden könne und flächendeckende PCR-Tests aus Kapazitätsgründen nicht möglich seien".
Aus Sicht der Verfassungsrichter waren auch die im Frühjahr für zwei Monate eingeführten bußgeldbewehrten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen Teil eines Schutzkonzeptes des Gesetzgebers, das "in seiner Gesamtheit dem Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems als überragend wichtigen Gemeinwohlbelangen" gedient habe.
"Verbot von Präsenzunterricht bei einem Impfangebot
für alle könnte allmählich seine Rechtfertigung verlieren"
Zwar hätten die Maßnahmen "in erheblicher Weise" in verschiedene Grundrechte eingegriffen, doch sei das Bundesverfassungsgericht nach Prüfung der verfassungsrechtlichen Anforderungen zu dem Ergebnis gekommen: Alle Einschränkungen seien "in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie mit dem Grundgesetz vereinbar" und trotz des Eingriffsgewichts "verhältnismäßig" gewesen.
Allerdings stellt das Bundesverfassungsgericht keinen Freibrief für künftige Schulschließungen aus, im Gegenteil: "Vorbehaltlich unvorhersehbarer Entwicklungen wie einer gesteigerten Gefährdung auch von Kindern durch neuartige Varianten" musste der Gesetzgeber schon im April damit rechnen, "dass das Verbot von Präsenzunterricht bei einem Impfangebot an alle impffähigen Personen allmählich seine Rechtfertigung verlieren könnte. "Das gilt in noch stärkerem Maße, soweit sich das Verbot auf den Präsenzunterricht an Grundschulen erstreckt."
Wenige Minuten nach Veröffentlichung des Beschlusses berichtete das Ifo-Institut von einer internationalen Auswertung der Corona-Schulschließungen. So hätten die Schulen in den Niederlanden, in Spanien und in Schweden deutlich kürzer geschlossen gehabt als in Deutschland. Zudem seien in Deutschland die Einschränkungen für Schulkinder oft größer als für erwachsene Arbeitnehmende gewesen. In Frankreich etwa habe eine Homeoffice-Pflicht gegolten, wenn Arbeit von zuhause möglich war. Außerdem seien Ausgangsbeschränkungen für Erwachsene strenger als für Schulkinder gewesen. Auch eine Frage der Verhältnismäßigkeit?
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Working Mum (Dienstag, 30 November 2021 12:58)
In NRW werden flächendeckende PCR-Tests zumindest in den Grundschulen durchgeführt. Möglicherweise stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit dann noch einmal anders. Ich hätte zudem erwartet, dass eine nach Schulformen differenzierte Betrachtung erfolgt, das scheint aber nicht der Fall zu sein.