War es falsch, das Wintersemester in Präsenz zu starten? Nein – auch wenn viele Studierende jetzt doch in Distanz lernen müssen.
EINIGE HATTEN von Anfang an gewarnt: Öffnet die Hochschulen nicht in die vierte Welle hinein, sagten sie. Sonst müsst ihr sie mitten im Semester wieder schließen. Und dann auf Online-Lehre umzuschwenken, ist viel komplizierter, als wenn man die Kurse von Semesterbeginn an digital konzipiert hätte. Und warum viele Studierende in die teuren Hochschulstädte zurücklocken, wenn ihre Hoffnungen dann enttäuscht werden?
Die Realität in den Hochschulen Anfang Dezember und bei einer bundesweiten 7-Tages-Inzidenz von über 400 stellt sich so dar: In den vergangenen Wochen hat ein Standort und Bundesland nach dem anderen den Vorlesungsbetrieb auf 2G umgestellt. Nachdem die Universität Erlangen-Nürnberg mit ihrer diesbezüglichen Entscheidung vor vier Wochen noch eine aufgeregte deutschlandweite Debatte ausgelöst hatte.
Doch nicht nur das: Hinter der Fassade offizieller Präsenz-Beschwörungen sieht es noch ganz anders aus. Viele Dozierende treffen sich mit ihren Studierenden, ob geimpft oder nicht, längst nur noch online. Wo sie das offiziell nicht dürfen, hängen sie es nicht an die große Glocke.
Drei Argumente geben für sie den Ausschlag. Erstens: der Infektionsschutz und kaum durchführbare Zugangskontrollen. Zweitens: Es sei schwer bis unmöglich, parallel zu einer hochwertige Präsenzveranstaltung akzeptable Online-Angebote für die bereitzustellen, die nicht kommen wollen oder dürfen. Drittens: Immer mehr Studierende wollten nicht kommen.
Hatten die Mahner also Recht? War der Start in ein Wintersemester in Präsenz vom ersten Tag an zum Scheitern verurteilt? Sind die Hochschulen, getrieben durch politischen Druck und öffentliche Meinung (auch transportiert in Blogs wie diesem), sehenden Auges in ein Schlamassel hineingelaufen?
Das Unternehmen Präsenzsemester
war und ist ein großer Erfolg
Meine Antwort: Im Gegenteil! Das Unternehmen Präsenzsemester war und ist ein großer Erfolg. Was die Hochschulen und vor allem die Lehrenden damit für die Studierenden geleistet haben, ist bemerkenswert.
Nach drei Digital-Semestern liefen die psychosozialen Beratungsstellen für Studierende voll. Die Berichte vieler Studienanfänger, die noch nie einen Seminarraum von innen gesehen hatten, waren bedrückend. Einige drohten, wenn sie nur noch ein Semester in Isolation und Einsamkeit verbringen müssten, würden sie abbrechen, und nicht wenige haben abgebrochen. Und ja, es gab Corona-Ausbrüche an Hochschulen. Doch dank der enorm hohen Impfquote von meist weit über 90 Prozent blieben sie meist ohne schlimme Folgen.
Sicher: Viele mögen online gut klargekommen sein – vor allem diejenigen, die aus Akademikerhaushalten stammen. Doch so eingeschränkt es vielerorts gewesen sein mag: Für Hunderttausende war das Präsenzsemester ein Lichtblick, mitten in der Corona-Krise ein Durchhalte-Signal.
Alle Lehrende, die in diesen Tagen überlegen, auf Online-Lehre umzuswitchen – ob unter dem Radar oder mit offizieller Erlaubnis – sollten darum nicht nur auf die Lauten hören, die dies fordern. Sondern auch auf die Leisen, die online wieder verloren zu gehen drohen. Es würde sich lohnen, bei all der Mühe, die das bedeutet, und trotz der hohen Inzidenzen zumindest einen Teil einer Lehrveranstaltung in Präsenz zu belassen.
Zumal ein bisschen Optimismus selbst in diesen Tagen nicht verboten ist. Vielleicht sinken die Inzidenzen bis zum neuen Jahr wieder merklich. Dann wäre zumindest Genesenen und Geimpften kaum das Studium in Präsenz zu verwehren – wenn Diskos und Clubs laut Bund-Länder-Beschlüssen mit 2G-Regeln auch bis zu einer Inzidenz von 350 offenbleiben dürfen. Also nicht besser doch gleich dabei bleiben? Ein achselzuckendes "Jetzt sind wir online, jetzt bleiben wir online" darf es dann auf jeden Fall nicht geben.
Nein, das Wintersemester in Präsenz ist nicht gescheitert. Es gehört zu den größten bildungspolitischen und sozialen Verdiensten der Hochschulen seit Jahren.
Dieser Kommentar erschien heute zuerst im ZEIT-Newsletter WISSEN DREI.
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David Bosold (Montag, 06 Dezember 2021 09:34)
Als ein weiterhin in Präsenz (mit Hybrid-Option für Studis zu Hause) Lehrender freut mich diese Art von Rückenwind. Die Hygienekonzepte inkl. Meldewege sind klar und funktionieren, die Inzidenz (weitgehend) entkoppelt vom Rest des Bundeslandes. Warum sollte man also alles wieder in den virtuellen Raum verfrachten?
Ein weiteres Argument, Herr Wiarda, habe ich jedoch vermisst. Warum in aller Welt sollte man gerade an Unis mit Impfquoten von >90% (bei unseren Stichproben eher 95-100%) die Präsenz runterschrauben, wenn das Risiko dort objektiv geringer ist, als in jeder Schule (die zurecht auch offen bleiben, so lange es möglich ist).
Insofern: ja, immer auch auf die Leisen hören. Das sind nach meiner Einschätzung sehr viele Studierende.
Dozent (Montag, 06 Dezember 2021 09:50)
Sehr geehrter Herr Wiarda,
ich lese Ihre Texte ohnehin immer gerne, da Sie den Dingen mit dem erforderlichen breiten Hintergrundwissen auf den Grund gehen und sich nicht von den schnellen Reflexen der social-media-Kommunikation leiten lassen. Heute haben Sie mir in besonderer Weise aus der Seele gesprochen mit Ihrem Text über die Präsenzlehre, wofür ich Ihnen sehr herzlich danken möchte.
Ich habe zu Beginn des Semesters erschütternde Gespräche mit Studierenden geführt, die völlig aus dem Tritt gekommen sind, weil bei allen Anstrengungen ein reines Online-Studium für ganz viele Studierende nicht das Richtige ist. Unter diesen Studierenden waren motivierte und kluge junge Menschen, die uns als Universität während der drei Online-Semester irgendwann weggerutscht sind.
Eine unangekündigte Vollkontrolle aller Studierenden in einer Vorlesung hat bei mir eine Impfquote von ca 95% ergeben, viele der Studierenden waren sogar schon geboostert. Diese Studierenden des dritten Semesters sehen die Universität seit einigen Wochen erstmals von innen; sie haben – im Wesentlichen für andere – große Opfer gebracht. Man ist aus meiner Sicht wahrlich kein Corona-Leugner, wenn man die Mutlosigkeit vieler Akteure an den Hochschulen beklagt, den Studierenden jetzt etwas zurückzugeben. Und leider verbindet sich diese Mutlosigkeit bisweilen auch mit einer gehörigen Portion Eigennutz, wenn die Pandemie als Vorwand dafür dient, die Vorlesung wieder vom heimischen Schreibtisch aus zu halten oder die Podcasts des letzten Jahres einfach wieder ins Internet stellen zu können. Hier droht uns auf mittlere Sicht leider eine hochschulpolitische Debatte darüber, wie Lehrverpflichtungen zu erfüllen sind und ob nicht ein einziger Podcast oder ein einziger MOOC als Ersatz für Vorlesungen an gleich mehreren Unistandorten ausreicht. Die Sparpotentiale sind natürlich erheblich. Aber wie Sie heute richtig schreiben, es ginge auch ganz viel verloren. Ich bin außerordentlich froh, dass Sie diese Perspektive in der Diskussion stärken.
Steffen Prowe (Montag, 06 Dezember 2021 11:34)
Lieber Herr Wiarda und liebe Präsenz-Lehrende,
danke, dass Sie würdigen, was sehr viele der Kolleg:innen hier täglich trotz der pandemischen Großlage leisten. Es sind nicht nur die Lehrkräfte, auch unsere Mitarbeiter:innen in den Laboren die uns sehr aktiv unterstützen, aber auch einige Studierende, die sich aktiv für Präsenz aussprechen. Und auch kommen. Und einfach toll interagiert haben. Dem Gefühl (und einigen Gesprächen) der Dozierenden & Mitarbeiter:innen nach war das bitter nötig, die Präsenz wurde förmlich aufgesaugt, auch dankbar angenommen.
Online kann sehr viele Übungen nicht ersetzen. Wir mussten dort bereits inhaltliche Abstriche machen, da deutlich weniger Personen in die Übungen konnten (Abstand etc). Aber eine aktive Teilhabe an praktischen Inhalten im Kontext zu seminaristischen Inhalten (die Online ja durchaus auch wertvoll klappen können!) ist unersetzlich.
Der Rahmen der Politik war äußerst zögerlich und hat uns in Berlin bisher 2G kaum ermöglicht (nur "körpernah"), obgleich man damit sehr viele aktive Menschen an der Hochschule hätte halten können. Jetzt erst eingeführt führt das bei einigen Lehrenden zu einer Frust-Reaktion und Rückzug ins Online.
ABER: wir haben unermesslich viel gelernt, im Turbodurchlauf, erfahren was noch geht außer Tafel und Beamer mit PPT. Feedback durch Studierende, partizipatives Lernen und auch "laute" Studierende, die uns Mut gemacht haben, weiter Neues zu probieren. Wann durfte man das in Hörsälen bisher erleben?? Mal ehrlich?
Nehmen wir doch im Sinne des Kommentars von Hr Wiarda das POSITIVE mit und lassen uns als Wissenschaftler:innen NIE von lautem "das geht nicht" verunsichern. Denn #machenstattmeckern ist "geil", "Geiz ist geil" war noch nie ein Wahlspruch für eine innovative Wissenschaft.
Danke nochmals an M. Wiarda dieses schöne Türchen am heutige Adventskalender geöffnet zu haben, möge es nie mehr zu gehen!
Uni-Prof (Montag, 06 Dezember 2021 12:29)
Ein sehr guter Beitrag, es war so was vonnöten, wieder in Präsenz zu lehren, für die Studierenden auf jeden Fall. Allerdings ist es auch so, dass Kontrollpflichten und Verantwortungen von den Uni-Leitungen auf das Lehrpersonal delegiert werden und manche Voraussetzungen, die in Dienstanweisungen formuliert werden (z.B. an Raumgrößen und entsprechende Belegungen) gar nicht erfüllbar sind. Ich möchte aber dem Kommentar 2 Recht geben: das größte Problem sind die Dozenten, die sich schön in ihrem Home Office gemütlich gemacht haben und Gefahren sehen , die es nicht gibt. Bei uns wird zum Beispiel völlig offen gesagt, in einer "Pendler-Uni" (was immer das sein soll) könnte man so was ja nicht verlangen - sprich, die Dozenten, die alle nicht am Hochschulort wohnen, haben mehr Angst, sich im ÖPNV anzustecken als in der Uni, und begrüßen das Online-Gehen. Die Uni-Leitung soll hier mehr Rücksicht nehmen auf die Lehrenden, die nicht bereit sind umzuziehen usw. Besonders dreist ist ein solches Verhalten, wenn man das mit der Situation der Lehrer vergleicht - diese mussten während der gesamten Corona-Zeit bis auf wenige Wochen immer in Präsenz unterrichten, wo Schüler ja kaum geimpft sind, während es auch z.B. an unserer Uni eine Impfquote bei Studierenden und Lehrenden von über 90% gibt. Ich sehe das panische Umstellen auf Online-Lehre daher kritisch, insbesondere, wenn man es wie an den Uni mit Erwachsenen zu tun hat und die regionale Corona-Situation auch sehr unterschiedlich sein kann. Auf Dauer schadet dies nur den Universitäten, wenn irgendwann politisch argumentiert wird, man bräuchte ja weniger Räume und Lehrpersonal angesichts der tollen Online-Möglichkeiten...
Sabine B. (Montag, 06 Dezember 2021 13:39)
Lieber Herr Wiarda,
vielen Dank für Ihren wichtigen Text. Die Debatte um die aus meiner Sicht dringend erforderliche Beibehaltung und Wiederaufnahme von Präsenzveranstaltungen an den Universitäten in Zeiten der Pandemie fehlt aus meiner Sicht fast vollständig. Es ist eine grobe Fehlentscheidung, junge Erwachsene über Monate und Jahre an den Schreibtisch zuhause (in teuren Städten oft noch im Kinderzimmer) zu verbannen. Diese jungen Erwachsenen haben sich früh impfen und jetzt boostern lassen, gehören in der großen Mehrheit keiner Risikogruppe an und sind eine der wichtigsten Grundlagen für die Zukunft unserer Gesellschaft, unseres Landes und darüber hinaus. Die deutschen Universitäten beschränkten sich auch in Niedriginzidenzzeiten auf ein Mindestmaß an Präsenzveranstaltungen während zehntausende in den Fußballstadien und bei Schlagergroßveranstaltungen vor Ort jubelten. Man darf die Frage stellen: was ist wichtiger für unsere Zukunft? Ganz abgesehen von dem fehlenden wissenschaftlichen Diskurs, dem fehlenden Kennenlernen und Zusammentreffen von Studentinnen und Studenten unterschiedlicher Herkunft und gleicher oder unterschiedlicher Fachrichtung und einem einigermaßen geregelten Tagesrhythmus bringt ein solcher Alltag Einsamkeit, psychische (wieviele Studentinnen und Studenten saßen fremd in einer kleinen Wohnung in einer neuen Stadt ohne sozialen Anschluss zuhause?) und auf Dauer auch physische Probleme ("Sitzen ist das neue Rauchen") sowie eine in unseren digitalen Zeiten ohnehin gegebene problematische Sozialisierung am Bildschirm mit sich.
Gespräche mit einzelnen lehrenden Professoren machten mir allerdings sehr deutlich, dass das Homeoffice zuhause oder im Ferienhaus sehr begrüßt wird ("könnte von mir aus immer so bleiben..."). Aber kein Wunder, das volle Gehalt wird ja zuverlässig weiterbezahlt, die lästige Lehre kann auf ein Mindestmaß mit willkommener Distanz reduziert werden. Dankbar nehme ich in den Kommentaren hier zur Kenntnis, dass es auch andere gibt.
Studentinnen und Studenten haben aber genauso wie Schülerinnen und Schüler das allererste Recht auf so viel gute Präsenzveranstaltung wie irgend möglich - gepaart mit einem Hybridangebot, so dass keiner außen vor bleiben muss, solange die Pandemie noch Einschränkungen mit sich bringt!
2G oder auch 2Gplus sollten auch in Hochinzidenzzeiten eine ausreichende Grundlage für einen praktisch vollständigen Präsenzbetrieb sein. Soweit ich weiß, wurde z.B. an der ETH Zürich auch weitgehend der Präsenzbetrieb aufrechterhalten. Anders als bei uns.
Insofern: ein reines Onlinestudium ist unmenschlich, die geimpften Studentinnen und Studenten haben ein Recht auf Präsenzveranstaltungen und die Politik und die Hochschulleitungen sollten dringend ihre Verantwortung und Fürsorgepflicht gegenüber ihren Studentinnen und Studenten wahrnehmen. Es war insofern das einzig Zulässige, den Präsenzbetrieb zum WS 21/22 wieder aufzunehmen und jede einzelne Veranstaltung sollte nur im absolut unabwendbaren Ausnahmefall zur Onlineveranstaltung gemacht werden. Selbst jetzt in der vierten Welle. In kleineren Städten spielt z.B. auch der Weg in die Uni überhaupt keine Rolle, da keine öffentlichen Verkehrsmittel genutzt werden müssen. Die Reduktion der Inzidenzwerte muss in anderen Bereichen bewerkstelligt werden, insbesondere natürlich durch die Impfung aller Menschen über 18 Jahre.
Recht gebe ich meinem Vorkommentator: die Studentinnen und Studenten sind sehr leise.
Ich hoffe sehr, dass diese Debatte endlich in Schwung kommt und wir nicht Studentengenerationen haben werden, die weitgehend online und frustriert und vom Schreibtisch (oder Bett) aus, die Uni absolviert haben.
Was mir noch wichtig ist: ich habe die Pandemie von Anfang an ernst genommen, habe mich impfen und boostern lassen, Kontaktbeschränkungen eingehalten und jegliche Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mitgemacht, darüber hinaus versucht, auch bei anderen Verständnis für die Maßnahmen und das Impfen zu bestärken oder zu wecken, meine Mitmenschen bei guter Laune zu halten und gemeinsam alles zu tun, um auch psychisch gesund zu bleiben. Dass dann andere einen so schlechten Job machen (hier die Politik und die Universitäten) macht mich hilf- und sprachlos. Insofern bin ich dankbar für diesen Blog.
Mahner (Montag, 06 Dezember 2021 16:53)
Bei aller Freude und Selbstlob meiner Vorredner*innen bitte ich jedoch auch um ein wenig wissenschaftliche Sorgfalt in der Darstellung ihrer deskriptiven Erfahrungswerte.
Es ist kaum verwunderlich, dass in ihren Veranstaltungen vor Ort 90-95% Geimpfte sitzen. Selbstselektion findet sich eben nicht nur in theoretischen statischen Abhandlungen, sondern insbesondere vor Ort. Gerade die, die sich nicht impfen lassen wollen oder können sind doch vermutlich diejenigen, die dann auch nicht zu ihren Veranstaltungen kommen. Rechnen Sie doch einfach mal die ganzen unbeobachteten Ereignisse ("Studierende, die nicht da sind") in Ihre Erfahrungen ein, dann kommen Sie vermutlich zu etwas anderen Ergebnissen.
Ich zumindest habe andere Erfahrungen gemacht und auch von anderen gehört. Gerade Studierende melden sich immer wieder und bitten darum, Veranstaltungen auf Online-Formate umzustellen. Dass sie sich dort dann allerdings meistens hinter ausgeschalteten Bildschirmen verstecken, ist noch einmal ein anderes Problem ...
O. Falada (Montag, 06 Dezember 2021 22:37)
Ich stimme meinem*meiner Vorredner*in "Mahner" zu - meinen Beobachtungen zufolge waren hörbar (ich würde nicht sagen: laut) vor allem diejenigen, die sich nach der Präsenz des Campus zurücksehnten, sowohl unter den Studierenden als auch unter den Lehrenden: da ist die Universität letztlich ein Spiegelbild der Gesellschaft. Die Vorsichtigen, diejenigen, die zu Hause Angehörige in Risikogruppen haben oder selbst einer angehören, diejenigen, die sich nicht rechtzeitig ein Zimmer vor Ort gesichert hatten, weil sie die vierte Welle kommen sahen (und das war ja nicht schwer vorherzusehen), zögerten, sich in öffentliche Verkehrsmittel zu begeben, schraken vor Professor*innen zurück, die Corona für eine Art Grippe hielten (die gibt es leider auch an Hochschulen), hinterfragten die Sinnhaftigkeit von Präsenzveranstaltungen, die genau so gut oder besser digital liefen ... Es gab und gibt beide Seiten, dass nun aber ausgerechnet an Universitäten die Vorsichtigen lauter gewesen wären, kann ich nicht erkennen bzw. widerspricht zumindest meiner Erfahrung.
Mitarbeiter (Dienstag, 07 Dezember 2021 01:07)
Auch wenn ich die oft zitierte Studierenden-Impfquote aus den von "Mahner" genannten Gründen für zu hoch halte, so sind die Universtäten vermutlich in der Tat nicht die "Pandemietreiber". Allerdings ist das m.E. auch gar nicht der springende Punkt. Wenn ich Studierende zwinge, an die Universität zu fahren, so müssen sie ja irgendwie dorthin gelangen. Zumindest in Großstädten bedeutet das oft lange Fahrzeiten in überfüllten Verkehrsmitteln. Hier in Berlin heißt dies für viele morgens und abends über eine Stunde (wer kann sich schon eine Unterkunft in Uni-Nähe leisten?) in dicht gepackten Bussen und Bahnen mit Kunden, die sich durchaus nicht alle an die Hygiene-Regeln halten und de facto nicht-existenten Kontrollen. Und damit fühlt sich so mancher dann doch sehr unwohl in seiner Haut, selbst wenn er geimpft ist - insbesondere, wenn er mit Kindern oder Pflegebedürftigen in einem Haushalt lebt.
Ich finde es super, dass offenbar statistisch so wenig Pandemie-Geschehen an den Hochschulen stattfindet, auch wenn ein Kollege gerade das 3. Mal von der Corona-App gewarnt wurde, weil er in der großen Mensa irgendwo Kontakt mit einem bestätigten Corona-Fall gehabt hätte. Der Aspekt der (erzwungenen und eigentlich zu minimierenden) Mobilität kommt mir allerdings in den Diskussionen ein wenig zu kurz - falls er nicht sogar komplett fehlt. Man muss ja nicht zwangsläufig zu anderen Schlüssen bzw. Entscheidungen kommen, aber mit bedenken sollte man es schon.
Auch die (ja durchaus begründete) Hoffnung, dass gepimpte Studierende nur leicht erkranken, greift - zumindest im vielen Fällen - etwas kurz. Für viele dieser Studierenden dürfte das Semester dennoch "gelaufen" sein, wenn man Anwesenheitspflichten einerseits und das durchaus länger andauernde Auftreten von Konzentrationsproblemen o.ä. andererseits mit berücksichtigt. Zusätzlich scheint ja auch bei weniger schweren Verläufen "Long COVID" durchaus eine Rolle zu spielen. Insofern ist das m.E. genauso wenig zu vernachlässigen wie auf der anderen Seite die psychischen Probleme.
Dass Laborpraktika, bestimmte Übungen usw. nur in Präsenz sinnvoll erfolgen können, steht außer Frage - wurde aber von den meisten Hochschulen auch in den vergangenen Corona-Semestern in irgendeiner Form realisiert (anders als von der Politik suggeriert). Die schon nahezu mantrahafte Überbetonung der Präsenz hatte jedoch einen erheblichen Nachteil: Fehlende Planungssicherheit. So einige Dozierende haben aufgrund der Ansage "Alles wieder in Präsenz" verständlicherweise auf die (de facto ja unbezahlte) zusätzliche Erstellung eines Hybrid-Konzepts verzichtet.
Wenn sich z.B. Politik oder HRK im Sommersemester darauf verständigt hätten, das Wintersemester im Grundsatz nochmal hybrid zu veranstalten und dies mit entsprechenden Ressourcen unterfüttert worden wäre, so hätte so einiges an Mehrfacharbeit beim unterstützenden Personal (Raumverwaltung, Lehrplanung, Prüfungsbüros und -ausschüsse, IT-Support, ...), aber auch bei en Dozierenden vermieden werden können. Weniger Hin- und Her, jetzt kein hastiges, unkoordiniertes Zurückrudern ("neuer Hygieneplan, besorgen Sie mir sofort einen doppelt so großen Raum!" "Ach, die Leute brauchen zwischen den beiden Präsenz-Vorlesungen eine Möglichkeit, an dem Online-Seminar teilzunehmen?" )...
Die Kolleginnen und Kollegen helfen natürlich gerne mit, die Organisation des Lehr- und Forschungsbetriebs auch unter Pandemiebedingungen am Laufen zu halten, keine Frage. Allerdings waren sie oftmals schon "vor Corona" mehr als gut ausgelastet und sind jetzt seit anderthalb Jahren nur noch dabei, Buschbrände auszutreten und von einer neuen Anforderung in die nächste zu stolpern. Da frustriert es dann doch ganz schön, wenn es zumindest den Eindruck erweckt, so einige der Buschbrände hätten mit einem kühlen Kopf durchaus auch verhindert werden können.
Uniprofessorin (Dienstag, 07 Dezember 2021 15:37)
Danke für diesen Beitrag. Ich bemühe mich seit Oktober, hybride Lehre stattfinden zu lassen, um meinen Drittsemestern Präsenz zu ermöglichen und gleichzeitig denen, die nicht kommen wollen oder dürfen (in Bayern gilt ja seit 24.11. 2G an den Hochschulen) das Semester weiterhin möglich zu machen. Und es läuft, selbst in diesen dunklen Wochen vor Weihnachten, wo schon vor 2020 oft die Hörsäle leerer blieben als sonst, ist der Hörsaal bis zur zulässigen Höchstzahl gefüllt und eine anonyme Umfrage letzte Woche ergabe, dass die Studierenden auch nicht auf komplett online umstellen wollen. Für mich ist es mehr Aufwand, es bedarf eines zusätzlichen Technik-Hiwis, der live aus dem Hörsaal streamt, ich muss daran denken, alle Fragen und Antworten im Hörsaal nochmal in das Mikrofon zu sprechen, und klar, man verliert ein wenig diejenigen, die nur online dabei sind. Aber es tut uns allen gut, die Option des Austausches zu haben. Und solange es mir keiner verbietet, werde ich es auch weiter machen (auch wenn ich pendeln muss, aber ich kann da ja auch notfalls auf ein Auto zurückgreifen...).
Angehöriger einer Universität die gerne wieder eine Rolle spielen würde (Dienstag, 07 Dezember 2021 21:56)
Vielen Dank für den tollen Text! Leider hat sich an meiner Fakultät wieder die Online Lehre vollständig durchgesetzt, obwohl Veranstaltung bis zu 50 Leuten erlaubt sind. Wenn man weiß dass die Professor:innen überwiegend in anderen Städten wohnen, frustriert einen die Situation umso mehr. Ich freue mich schon darauf, wenn der ein oder andere von denen sich in ein paar Jahren über das geringe Bildungsniveau in der FAZ aufregt…
Sabine B. (Mittwoch, 08 Dezember 2021 14:00)
Ich fahre seit zwei Jahren statt mit dem ÖV 10,3 km mit dem Fahrrad zu meinem Arbeitsplatz - es hat mir nicht geschadet. Ärzte und Lehrer, Angestellte des Einzelhandels usw müssen auch an ihren Arbeitsplatz kommen.
Hybrid würde auch denjenigen entgegenkommen, die aus welchen Gründen auch immer, nicht in Präsenz teilnehmen können.
Man kann Corona auch mit Präsenzveranstaltungen kontrollieren: 2G oder auch 3G. Wir haben mit der Pandemie gelernt und nun stehen die Mittel (Impfen, Testen, FP2 Maske) zur Verfügung, damit umzugehen. Was zu Beginn der Pandemie völlig richtig war (nämlich Vorsicht und daher online Vorlesungen und Schulschließungen) ist jetzt nicht mehr angebracht.
Echtes Leben und lebendige Ausbildung ist für junge Studierende essentiell. Sie gehören, ich wiederhole mich, in der großen Mehrheit keiner COVID Risikogruppe an - haben aber durchaus höhere Anfälligkeit für psychische Störungen.
https://www.studicare.com/single-post/panel-ergebnisse-teil-2