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Ein Weckruf für die deutsche Wissenschaft

Trotz kontinuierlich gewachsener Budgets lahmt Deutschlands Wissenschaftssystem. Was sich ändern muss: ein Gastbeitrag von Michael Baumann, Thomas Hofmann, Norbert Sack und Georg Schütte.

FÜR DIE POLITIK bleibt Wissenschaft ein Nischenthema. Gewiss, man freut sich, dass es sie gibt. Nur leider zu komplex, zu teuer, zu undurchschaubar und vor allem nicht geeignet, um Sympathiepunkte beim Wahlvolk zu sammeln. Im Bundestagswahlkampf hat sich keine politische Spitzenkraft mit Leidenschaft für eine fundamentale, zukunftsgewandte Stärkung des Wissenschaftsstandortes Deutschland eingesetzt.

 

Immerhin, beflügelt vom sagenhaften Biontech-Erfolg formulieren die Parteien im Koalitionsvertrag: "Wir können unser Innovationspotenzial heben, wenn wir unsere Ressourcen bündeln und einsetzen." Dem Aufbruchsignal des Vertrags muss jedoch noch die Vision zur Realisierung folgen. Dass Deutschland eine weltweit führende Wissenschaftsnation werden müsse, fordert die Politik seit Jahren – und ignoriert die zunehmend belastende Realität: Überregulierung, eine unzureichende Grundfinanzierung der Hochschulen und Änderungen im Kleinen statt mutiger Befreiungsschläge. Deutschlands Wissenschaftssystem lahmt. 

 

Es sind andere Nationen, deren Wissenschaft 
besonders dynamisch vorangeht

 

Trotz kontinuierlich gewachsener Budgets stagniert in internationalen Vergleichen die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit. Zwar stoßen die großen deutschen Forschungsorganisationen mit ihren Veröffentlichungen inzwischen regelmäßig auf vordere Listenplätze vor und auch bei der Vergabe der Nobelpreise werden Wissenschaftler aus Deutschland berücksichtigt. Doch sind es andere Nationen, die mit ihren Wissenschaftseinrichtungen in der internationalen Wahrnehmung besonders dynamisch voranmarschieren. Hierzulande bremst das System zu oft jene aus, die ein Ökosystem für disruptive Forschung, innovative Lehre und dazu passende Strukturen installieren wollen. Die Regierungsbildung gibt nun den Anlass für einen Weckruf an die Politik und die Entscheider im Wissenschaftssystem!

 

Kein Zweifel: Das deutsche Wissenschaftssystem ist leistungsstark. Doch im globalen Wettbewerb um die besten Köpfe geben andere den Ton an: Etwa Länder wie die USA und China, die, auch aufgrund ihrer geopolitischen Konkurrenz, massiv in Forschung und Innovation investieren. Oder die großen Tech-Unternehmen, die mit ihrem Geld Talente aus der öffentlich finanzierten Forschung abwerben. Deshalb ist das Signal der neuen Bundesregierung richtig und wichtig, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen.

 

Doch Geld alleine reicht nicht. Noch entstehen innovative Instituts- und Universitätskonzepte viel zu selten in Deutschland, viel öfter hingegen in der Schweiz, den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich oder jenseits des Atlantiks und bieten Freiräume für Kreativität, internationale Vernetzung, Unternehmertum oder die Übernahme gemeinschaftlicher Verantwortung. Völlig zu Recht heißt es im Koalitionsvertrag: "Nie war internationale Kooperation wichtiger." Aber was hat Deutschland anzubieten, um für Institutionen und Personen in der Spitzenforschung anderer Länder attraktiv zu sein?

 

Welche Schwächen 
die Pandemie offenlegte

 

Schonungslos hat die Corona-Pandemie Schwächen des Wissenschaftssystems offengelegt. Stichwort Föderalismus: Bundes- und Landesmittel setzen in der Wissenschaft widersprüchliche Anreize. Gerade auch, aber nicht nur den Hochschulen fehlt es an grundlegender Finanzierung. Ihre Gebäude verkommen. Für moderne digitale Ausstattungen fehlt das Geld.

 

Stichwort Regulierung: Eine überbordende Dichte an Regelungen und Steuerungsvorgaben bringt das Leitungs- und Verwaltungspersonal in der Wissenschaft ans Limit ihrer Leistungsfähigkeit – mit Folgen für die Strategiefähigkeit der Institutionen und für die Leistungskraft und Kreativität von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Ein starres Gehaltskorsett gerade in diesem Bereich bedroht zusätzlich die Leistungsfähigkeit all der Serviceeinheiten, ohne die Wissenschaft nicht funktioniert. Stichwort Internationalisierung: Für deutsche Hochschulen wird es zunehmend schwieriger, talentierte internationale Studierende für die so produktive Schaffensphase während und nach der Doktorarbeit in Deutschland zu halten.

 

Für die "High Potentials" aus dem In- und Ausland sind Deutschlands Universitäten oftmals nur die zweite Wahl. Stichwort Fördermittel: Mehr als zehn Jahre nach dem Start der Exzellenz-Wettbewerbe, in denen deutsche Universitäten um zusätzliche Forschungsmillionen konkurrieren, werden nun auch die unbeabsichtigten Nebenwirkungen sichtbar. Bisweilen steht nicht mehr die abgestimmte strategische Weiterentwicklung der einzelnen Hochschule im Mittelpunkt des Interesses, sondern nur noch die Frage, wie das Geld auch weiterhin in die Hochschule kommt – Strategie hin und Entdeckungslust her.

 

Was muss geschehen? Wir sehen zehn Handlungsfelder.

 

1. Mehr Geld für Studierende

Die chronisch darbende Grundfinanzierung der Hochschulen muss sich ändern. Hier sind in erster Linie die Länder gefordert. Doch ohne den Bund, das wird seit Jahren deutlich, können sie es nicht schaffen. Ganz im Gegenteil! Die Folgen der Corona-Lockdowns führen zu erheblichem Stress auf die Landeshaushalte und schränken den Gestaltungsspielraum der Länder im Hochschulbereich weiter ein. Hier macht der Koalitionsvertrag Mut: Der "Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken" soll dynamisiert werden, also mit jährlichen Steigerungsraten mehr Bundesgeld in die Hochschulen bringen.

 

Aber hat der Bund hier eine Rechnung ohne den Wirt, die Länder, gemacht? Am Ende sind auch die Taschen der lautesten Rufer in den Ländern nach Eigenständigkeit im wissenschaftlichen Wettbewerb angesichts der Schuldenbremsen in den Landesgesetzen nicht gut genug gefüllt. Und eine bundesweite Gestaltung der Wissenschaft, die in der jüngsten Vergangenheit eher durch Zufälligkeiten und taktisches Agieren von Haushaltspolitikern bei nächtlichen Schlussverhandlungen um Bundesmittel bestimmt wurde als durch strategische Zielsetzungen, wird dem Anspruch einer Führungsnation der Wissenschaft ebenfalls nicht gerecht.

 

Klar ist: Wir müssen dem akademischen Nachwuchs unseres Landes bessere Bedingungen und Perspektiven bieten und die Hochschulen besser ausstatten. Dabei sollte es keine Denkverbote geben. Einige oft gestellte Fragen: Ist ein Bausanierungsprogramm des Bundes für die Universitäten denkbar? Wie ist das BAFöG reformierbar? Könnte ein sozial verträgliches Modell von Studienbeiträgen, die erst nach dem Eintritt ins Berufsleben und bei entsprechendem Einkommen in moderaten Raten erstattet werden, einen, wenn auch kleinen, Beitrag leisten? Nicht als Ersatz für die staatliche Finanzierung, sondern komplementär? 

 

2. Effizienz durch Profilbildung

Das vorhandene Geld muss strategischer eingesetzt werden! Müssen alle Hochschulen einer Region alles machen? Müssen alle den Anspruch nach Exzellenz in einem breiten Portfolio verfolgen? Oder lässt sich nach ehrlicher Analyse des eigenen Potentials durch Profilbildung und Kooperation das verfügbare Geld besser einsetzen?

 

3. Überregulierung entschlacken

Überkomplizierte Regeln müssen fallen! Das Steuer- und Haushaltsrecht etwa muss so angepasst werden, dass Risiko honoriert und nicht im Keim erstickt wird. Auch das Baurecht muss reformiert werden. Jahrzehntelange Planungszeiträume und Kostenexplosionen beim öffentlichen Bauen sind systemisch bedingt. Hier muss sich etwas ändern. "Für Krisensituationen" sieht der Koalitionsvertag "vereinfachte und beschleunigte Verfahren der Forschungsförderung" vor. Wir brauchen sie aber auch im Normalbetrieb. Mehr Flexibilität, etwa auch bei der Vergütung, ist dringend erforderlich, um gerade auch die Wissenschaftsadministration nicht zum Leidtragenden des Wettbewerbs auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt zu machen und damit letztlich dem Erfolg von Wissenschaftseinrichtungen zu schaden.

 

4. Chancen der Digitalisierung nutzen

Die Corona-Krise hat die Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeit von Lehrenden und Studierenden unter Beweis gestellt. Neue Formen digitaler Lehre haben sich in kürzester Zeit etabliert – mal schnell und erfolgreich, mal holprig und schwierig. Deutlich aber wird: Die Potenziale digitaler Technologien können und müssen nicht nur in der Lehre und der Forschung, sondern auch der Wissenschaftsadministration besser genutzt werden. Hier gibt es Raum für eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Ländern.  

 

5. Freiheit gewähren, Eigenständigkeit fördern

Der politische Mut, der mit diesen Forderungen eingeklagt wird, macht Gegenleistungen der Akteure im Wissenschaftssystem zwingend. Dafür brauchen Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen an erster Stelle die Freiheit, eigenständig und innovativ zu handeln. Ministerien des Bundes und der Länder müssen nicht nur Geld in die Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft investieren, sondern auch Vertrauen in deren Fähigkeit, sich selbst zu organisieren. Ein Bund-Länder-Prozess zur Weiterentwicklung des Kapazitätsrechts, wie ihn der Koalitionsvertrag vorsieht, kann hier ein erster Schritt sein – wenn er denn freiheitsstiftend ist.

 

6. Governance der Hochschulen reformieren

Hochschulen müssen aktiv und kreativ werden, um nicht nur herausragende Forschungsleistungen zu honorieren, sondern auch Spitzenleistungen in der Lehre, in der Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und Unternehmen sowie bei der Entwicklung kreativer Formate, um dem Bildungsauftrag von Hochschulen gerecht zu werden. Größere Freiräume für die Selbstorganisation und -steuerung müssen einhergehen mit einer klaren Aufgaben- und Verantwortungsteilung innerhalb der Hochschulen und Forschungseinrichtungen: Wissenschaftsfreiheit und Gemeinschaftsinteressen müssen klug austariert werden. Sie dürfen nicht im Dauerdiskurs von Gremien zerredet werden. Leitungs- und Verwaltungspersonal müssen sich – nicht zuletzt, um international noch kooperationsfähiger zu werden – weiter professionalisieren. 

 

7. Vernetzung fördern

Eine breitere Vernetzung der Hochschulen und Forschungseinrichtungen in der Zivilgesellschaft und mit den Unternehmen der Region könnte weitere Identifikation stiften. Aus gemeinsamen Zielen und gemeinsamen Handeln kann bürgerschaftliches Engagement für Wissenschaft in der jeweiligen Stadt und der jeweiligen Region entstehen. Zahlreiche Universitätsstiftungen zeigen den Weg. Kooperationen, auch mit Unternehmen, die auf transparenten und klaren Regeln beruhen, können Entwicklungs- und Anwendungschancen heben. Ob die von der Koalition angestrebte "Agentur für Transfer und Innovation", die Fördergelder "insbesondere an Hochschulen für angewandte Wissenschaften sowie kleine und mittlere Universitäten gibt", zum ersehnten Impulstreiber wird oder zum Zankapfel darüber, wer von den neuen Fördermillionen profitieren darf, bleibt abzuwarten.

 

8. Gesamterfolg statt Eigeninteresse

Sehr gut finanzierte außeruniversitäre Wissenschaftsorganisationen müssen stärker als bislang von einem Wettbewerbsmodus zwischen den Organisationen auf ein Handeln umstellen, das den Erfolg der gesamten Wissenschaftslandschaft in den Blick nimmt. Einschließlich der Hochschulen, die noch zu oft am Rande stehen.

 

9. "Weiche Öffnung" durch Pilotmaßnahmen

Viele der angesprochenen Probleme haben eine lange Tradition. Umso beherzter sollten sie angegangen werden. Welche Akteure sind jetzt gefordert? Das Plädoyer hier: eine "weiche Öffnung". Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen sollte die Möglichkeit gegeben werden, Pilotmaßnahmen zu entwickeln und umzusetzen. Ideen und Knowhow sind im Wissenschaftssystem zuhauf vorhanden. Sie können genutzt werden, um vom Denken und Reden ins Handeln zu kommen. Bund und Länder müssten sich hier auch auf eine schnelle und unkomplizierte Finanzierung und Regelungsgrundlage einigen. Kleine Blockaden mit großer Wirkung, etwa im Steuerrecht, lassen sich zudem mit dem notwendigen Gestaltungsmut lösen. Hier ist die Politik gefragt, die sich auf ein beherztes Handeln mehrerer Ressorts einlassen und auch hier den Mut zu Pilotmaßnahmen entwickeln muss.

 

10. Mehr Dialog

Auch kleine Schritte brauchen Vertrauen und große Schritte Mut und Vorstellungskraft. Deshalb braucht es den Dialog: unmittelbar zwischen den Akteuren des Wissenschaftssystems und der Wissenschaftspolitik in Bund und Ländern, darüber hinaus aber auch mit weiteren gesellschaftlichen Gruppen. Hierzu müssen die entsprechenden Foren geschaffen werden. Stiftungen und Think Tanks etwa können hier politisch neutrale Plattformen für einen derartigen ergebnisorientierten Dialog anbieten.

 

Der Regierungswechsel bietet die Chance, die Debatte über das Wissenschaftssystem aus den Verstrickungen der Geldverteilung zu lösen und auf die Frage zu richten, wie wir ein Wissenschaftssystem erhalten, das wissenschaftlicher Neugier und Entdeckermut Raum gibt. Das Beiträge liefert, um die großen Veränderungen der Gesellschaft – von der ökologischen Krise bis zur Zukunft von Demokratien – zu verstehen und zu gestalten. Und das eine Ressource für Krisenbeständigkeit und Erneuerungsfähigkeit ist.

 

Michael Baumann ist Wissenschaftlicher Vorstand und Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg. Thomas Hofmann ist Präsident der Technischen Universität München. Norbert Sack ist Gründer der Personalberatung "Leadership Advisors for Academia" in Berlin. Georg Schütte ist Generalsekretär der VolkswagenStiftung.



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Kommentare: 1
  • #1

    René Krempkow (Mittwoch, 08 Dezember 2021 15:28)

    Danke für diesen "Weckruf", vielen der Forderungen kann auch ich zustimmen. Insbesondere denen nach "Mehr Flexibilität (...), um gerade auch die Wissenschaftsadministration nicht zum Leidtragenden des Wettbewerbs auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt zu machen und damit letztlich dem Erfolg von Wissenschaftseinrichtungen zu schaden" und "Leitungs- und Verwaltungspersonal müssen sich (...) weiter professionalisieren." kann ich mich anschließen.

    Wie letzteres konkret gefördert werden könnte, dazu wurden im #kawum-projekt gemeinsam mit der Praxis einige konkrete Empfehlungen erarbeitet (https://kawum-online.de/wp-content/uploads/2021/10/KaWuM_LLP2_PE_Okt2021.pdf). Sie basieren zudem auf den in einem BMBF-finanzierten Survey erhobenen empirischen Ergebnissen, die kürzlich auch in einem Themenheft zur BMBF-Förderlinie veröffentlicht wurden (www.researchgate.net/publication/356128189).

    Derzeit läuft übrigens gerade die 2. Erhebung des KaWuM-Survey an, die nun die Situation 2 Jahre nach der ersten Erhebung erfasst und Schwerpunkte u.a. auf berufliche Veränderungen, Arbeiten in der Corona-Situation und digitale Kompetenzen legt. Wer dem Wissenschaftsmanagement angehört und teilnehmen möchte, kann dies noch bis Anfang 2022 über einen für diesen Zweck freigeschalteten Link tun: https://survey.institut-istat.com/s/kawum2021/?q=online