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Was von Merkel bleibt

Die Ära der Wissenschafts- und Krisenkanzlerin endet. So viel sie für die Forschung getan hat: An Deutschlands Modernisierungsrückstand trägt sie eine Mitverantwortung.

Angela Merkel bei einer Wahlkampfveranstaltung 2013. Foto: Alexander Kurz / CC BY SA-3.0.

WENN HEUTE MORGEN Olaf Scholz seinen Amtseid ablegt und 9. Bundeskanzler der Bundesrepublik wird, wird Angela Merkel zur 8. Altkanzlerin.

 

16 Jahre und 16 Tage war sie im Amt. Womit sie zehn Tage unter der Rekordmarke von Helmut Kohl bleibt. Eine Ära geprägt haben sie beide. Etwas, wo Olaf Scholz erst noch hinwill: Schon zu Beginn der Ampel-Koalitionsverhandlungen hatten er und seine Ko-Verhandler die Losung ausgegeben, sie wollten ihre Zusammenarbeit auf mehr als vier Jahre anlegen.

 

Helmut Kohl, der promovierte Historiker, war Kanzler der Einheit. Er war aber auch Kanzler des gesellschaftlichen Stillstandes in den 80ern und der schwierigen Anpassungsjahre der 90er. Angela Merkel, die promovierte Physikerin, war Kanzlerin der Nach-Agenda-Jahre mit zunehmend hohen Staatsüberschüssen und Verteilungsspielräumen. Sie war aber auch Kanzlerin der Wissenschaft und der Krisen. Beides gehörte zusammen: Krisen prägten gut zwei Drittel ihrer Amtszeit, und Merkel versuchte, ihnen mit einer Nüchternheit und Sachbezogenheit zu begegnen, die ihrer Persönlichkeit, aber auch ihrer Ausbildung entsprach. 

 

Oft bemerkenswert und beindruckend –
und manchmal schwer erträglich

 

Oft war das bemerkenswert, ja beeindruckend. Manchmal war es schwer erträglich. Weil Merkel über ihrer ganzen Sachlichkeit manch großes gesellschaftliches Problem zwar brillant sezierte, dann aber ziemlich mutlos wegregierte. 

 

Das Scharfe, das Kantige, das Unpopuläre, so schien es, hatte sie sich bald nach dem Leipziger Parteitag 2003 abgewöhnt, auf dem sie die CDU auf einen radikalen Kurswechsel in der Sozialpolitik einschwor. Ein Kurswechsel, der ihr den Wurf der sozialen Kälte einbrachte. Was Gerhard Schröder 2005 fast gereicht hätte, um mit der Warnung vor der neoliberalen Merkel das Ruder noch einmal herumzureißen. 

 

Nur in wenigen Augenblicken blitzte die Entschiedenheit der Merkel von 2003 wieder auf, wohl am deutlichsten ausgerechnet am Ende ihrer Amtszeit. Eben hatte es noch so ausgesehen, als könne sie die verbliebenen Monate bis zur Bundestagswahl ohne Aufregungen und in gewohnter Manier wegregieren, da brach die Coronakrise über das Land her. Und Merkel zeigte, angefangen in ihrer berühmt gewordenen "Es ist ernst"-Ansprache, eine Entschlossenheit, die viele ihr kaum noch zugetraut hatten. 

 

An Deutschlands Modernisierungskrise trägt
die 16-Jahre-Kanzlerin eine Mitverantwortung

 

Und doch: Die Modernisierungskrise, in der Deutschland steckt und die durch die Pandemie in all ihren Facetten zu Tage getreten ist, ist über viele Jahre immer tiefer geworden, und daran trägt die 16-Jahre-Kanzlerin Merkel eine Mitverantwortung.

 

Zur Kanzlerin der Wissenschaft wurde Angela Merkel aber nicht nur durch ihren Umgang mit Krisen, sondern vor allem durch ihren Umgang mit der Wissenschaft selbst. 

 

Vor der Bundestagswahl 2017, der letzten, bei der sie als Spitzenkandidatin antrat, schrieb Nature von einem deutschen Wissenschaftswunder, das einen Namen habe: Angela Merkel. Ihre DDR-Herkunft habe Merkel zu der Erkenntnis geführt, wie grundlegend Bildung und Forschung für die Zukunft der Bundesrepublik seien. Wie genau Wurzeln und Wunder zusammenhingen, blieb ein bisschen neblig in dem umfangreichen Dossier, dafür stand die Grundthese umso strahlender: die Kanzlerin als Garant wissenschaftlicher Prosperität.

 

War sie wirklich so herausragend, die wissenschaftspolitische Bilanz Angela Merkels? Jahrelang hing die Antwort auf diese Frage entscheidend davon ab, mit wem man redete.

 

Golden die Forschung,
grau die Hochschullehre?

 

Den Chefs von Max-Planck-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft und Co, also der großen außeruniversitären Forschungsorganisationen, kamen die Lobeshymnen leicht über die Lippen: "Seit Bestehen der Bundesrepublik ging es Deutschlands Wissenschaft noch nie so gut wie heute", lautete einer der Textbausteine, die in keiner Rede fehlen durften, wenn die Kanzlerin oder ihre Wissenschaftministerinnen Schavan, Wanka oder Karliczek zu Besuch kamen. 

 

Kein Wunder, profitierten die außeruniversitären Einrichtungen und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) doch seit 2005 von jährlichen Zuwächsen von zuletzt drei Prozent, garantiert im so genannten Pakt für Forschung und Innovation (PFI). Macht aktuell fast elf Milliarden Euro Grundfinanzierung pro Jahr, wovon der Bund über sieben Milliarden trägt.

 

Redete man dagegen mit Hochschulrektoren, hörte sich die Beschreibung des Ist-Zustands anders an. Von maroden Hörsälen war dann die Rede, von überlaufenen Vorlesungen und von der Frage, warum der Zukunftsvertrag, das PFI-Pendant für die Hochschulen, nicht ebenfalls jährlich und garantiert erhöht werde.

 

Erst neulich wieder zeigten Zahlen des Industriestaaten-Clubs OECD, dass Deutschland bei den reinen Ausgaben für die Hochschullehre 2018 mit 10.793 pro Studierendem unter den OECD-Schnitt gerutscht war. 

 

Golden die Forschung, grau die Hochschullehre: So konnte man die Lage seit Jahren beschreiben, auch wenn Angela Merkel sich immer hervorragend herausreden konnte an der Stelle. Auch Anja Karliczek, die heute ebenfalls ihren Abschied aus der Bundesregierung nimmt, hat das immer mit Verve getan: Hochschulen seien eben Ländersache, sagte sie. Und mit der 2019 gefallenen Entscheidung, aus dem zeitlich befristeten Hochschulpakt den dauerhaften Zukunftsvertrag zu machen, habe die Bundesregierung längst weit mehr getan, als sie müsse. Von der Exzellenzstrategie ganz zu schweigen. 

 

Die Pragmatikerin Merkel führte
die Arbeit ihres Vorgängers fort

 

Dann konnten die Kanzlerin und ihre Wissenschaftsministerinnen noch mit demselben Recht anführen, dass sich der Etat des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) in den vergangenen 15 Jahren mehr als verdoppelt hatte. Und dass es nur so möglich wurde, die lang ersehnten drei Prozent Forschungs- und Entwicklungsanteil an der Wirtschaftsleistung in Merkels Amtszeit zu erreichen und Ziel zu nehmen auf die 3,5 Prozent, die jetzt im Koalitionsvertrag der Ampel stehen. 

 

Stimmt alles und ist doch nicht einmal die Hälfte der Geschichte. Zu der gehört nämlich, dass der Pakt für Forschung und Innovation genau wie die damalige Exzellenzinitiative beschlossen wurden, als nicht Merkel, sondern noch Gerhard Schröder Kanzler war. Und dass das BMBF-Budget in den vergangenen Jahren kaum noch gewachsen ist und das Ministerium wiederholt weniger ausgab, als im Haushalt veranschlagt war. Schließlich was den damit verbundenen politischen Mut angeht: Schröders von seiner schlauen Wissenschaftsministerin Edelgard Bulmahn induziertes Bekenntnis zu Spitzenforschung stammte aus einer Zeit, die nicht geprägt war von Rekordüberschüssen im Bundeshaushalt, die Merkel über viele Jahre ihrer Kanzlerschaft verbuchen konnte. Schröders Kanzlerschaft war bestimmt vom Reißen der Maastricht-Kriterien. 

 

Als Pragmatikerin, die Merkel ist, war sie in der Lage, den Wert der rot-grünen Initiativen zu erkennen und, in Zusammenarbeit mit Bulmahns nicht weniger schlauen Nachfolgerin Annette Schavan, die Logik der Pakte fortzuführen und zu erweitern. Das ist eine Leistung, und das verdient Anerkennung. Ebenso, dass es unter ihrer Kanzlerschaft gelungen ist, 2019 ein Rekord-Paket für die Wissenschaft im Wert von 160 Milliarden Euro bis 2030 zu schnüren. 

 

Das selbst in der Krise bislang nicht wieder aufgeschnürt wurde. Und das erst dazu führte, dass die neue Ampelkoalition, die sich selbst als "Fortschrittskoalition" tituliert, noch eine Schippe drauflegen musste. Indem sie jetzt, lange überfällig, auch den Zukunftsvertrag analog zum PFI jedes Jahr wachsen lassen will. 

 

Das deutsche Wissenschaftssystem bremse
Innovationen aus, warnen Experten

 

Die Anerkennung für diese Leistung des wegweisenden Pakt-Pakets von 2019 wird sich Merkel allerdings mit ihrer Wissenschaftsministerin Karliczek teilen müssen. Sowie mit ihrem damaligen Finanzminister, Olaf Scholz, der heute als Bundeskanzler eingeschworen wird. Und wiederum mit ihrem Vorgänger, Gerhard Schröder, mit dem zusammen Merkel es geschafft hat, die Wissenschaft aus der Nische politischer Bedeutungslosigkeit zu holen und international zum Strahlen zu bringen.

 

Tatsächlich erschien Deutschland bis zur Coronakrise wieder modern und innovativ. Ein Image indes, das die zweite, dritte und vierte Welle und ihr Handling durch Politik, Gesellschaft und Wirtschaft nicht überstanden hat. 

 

Gestern setzten vier Wissenschaftsexperten hier im Blog einen Warnruf ab: Trotz kontinuierlich gewachsener Budgets stagnierte in internationalen Vergleichen die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik. Zwar stießen die großen deutschen Forschungsorganisationen mit ihren Veröffentlichungen inzwischen regelmäßig auf vordere Listenplätze vor und auch bei der Vergabe der Nobelpreise würden Wissenschaftler aus Deutschland berücksichtigt. "Doch sind es andere Nationen, die mit ihren Wissenschaftseinrichtungen in der internationalen Wahrnehmung besonders dynamisch voranmarschieren", schrieben Michael Baumann, Thomas Hofmann, Norbert Sack und Georg Schütte, letzterer der BMBF-Staatsekretär, der 2019 die Paktverhandlungen geführt hat.

 

Hätten Merkel und ihre Wissenschaftsministerinnen all das Geld, was in die Forschung und in die Forschungsorganisationen floss, strategischer und fordernder einsetzen müssen? Jedenfalls ist das eine der Lehren, die der neue Ampel-Koalitionsvertrag zieht. Und in ihrem Blogbeitrag halten die vier Experten fest: "Hierzulande bremst das System zu oft jene aus, die ein Ökosystem für disruptive Forschung, innovative Lehre und dazu passende Strukturen installieren wollen."

 

Obgleich Merkel dies natürlich seit langem bewusst war und unter anderem veranlasste, dass 2019 eine – bis jetzt bürokratisch ziemlich ausgebremste – Bundesagentur für Sprunginnovationen entstand: Auch diese wenig schmeichelhafte Bestandsaufnahme gehört zu Merkels Bilanz als Wissenschaftskanzlerin. Und ist zugleich Aufgabe für Olaf Scholz. Dem Finanzminister, unter dem das BMBF-Budget kaum noch wuchs, der aber das 160-Milliarden-Wissenschaftspaket passieren ließ. Und für die neue Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger (FDP), die selbst Geschäftsführerin eines Forschungsinstituts war. Angela Merkel wird beiden mit analytisch-freundlichem Blick aus der Ferne zusehen.




Wechselreigen im BMBF

Mit Anja Karliczek verlassen auch zwei langjährige parlamentarische Staatssekretäre der CDU das Ministerium, und einer von beiden, Thomas Rachel, war genauso lange im Amt wie Angela Merkel. Rachel hatte sein Amt ebenfalls am 22. November 2005 angetreten, unter der damals neuberufenen BMBF-Chefin Annette Schavan. Kaum einer kennt das Ministerium so gut und so lange wie er. Michael Meister kam dagegen erst mit Anja Karliczek ins Amt, im März 2018. Die fünf Jahre davor fungierte der Strippenzieher als parlamentarischer Staatssekretär im Finanzministerium – bevor dies von Olaf Scholz übernommen wurde. 

 

Mit Bettina Stark-Watzinger richten nun die FDP-Politiker Thomas Sattelberger, 72, und Jens Brandenburg, 35, als Nachfolger von Rachel und 

 

Meister ihre Büros im Ministerium ein und werden Stark-Watzinger vor allem gegenüber dem Parlament vertreten.

 

Brandenburg ist Volkswirt und war in der vergangenen Legislaturperiode Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion für Studium, berufliche Bildung und lebenslanges Lernen. Sattelberger ist ehemaliger Spitzenmanager und deckte bisher als Sprecher die Bereiche Innovation, Bildung und Forschung ab. Dabei stellte Sattelberger, der sich einen Namen als Wissenschaftsexperte und hartnäckiger Oppositionspolitiker machte, zahlreiche – und häufig sehr kritische – parlamentarische Anfragen ans Ministerium. Solche Anfragen wird in Zukunft er selbst beantworten. So ändern sich die Perspektiven. 


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Kommentare: 1
  • #1

    Charles Canary (Donnerstag, 09 Dezember 2021 09:31)

    Danke für diesen Eintrag - aus einem anderen Blickwinkel als die üblichen Kommentare!
    Ich habe mich auch an einem eigenen Rückblick versucht:

    https://bullauge-blog.de/2021/11/09/bundesangie/