Ein Corona-Expertengremium hätte schon vor vielen Monaten gegründet werden müssen. Doch auch jetzt noch bedeutet der Rat eine große Chance für Politik und Gesellschaft – aber auch für die Wissenschaft selbst.
GESTERN, KNAPP 24 MONATE nachdem das Virus erstmals Deutschland erreichte, hat zum ersten Mal der Corona-Expertenrat getagt.
Wissenschaftler wie der World-Summit-Präsident Axel Radlach Pries hatten dessen Einrichtung schon vor einem Jahr und länger gefordert. Beharrlich und immer wieder. Doch mussten erst die Grünen und die FDP in die Bundesregierung kommen, bevor diese so naheliegende wie dringliche Idee umgesetzt wurde. Das kann, das muss man der alten Koalition von Union und SPD vorwerfen, die ja aktuell gern die Ampel als Corona-leichtsinnig brandmarkt.
Sei es drum. Jetzt ist der Pandemierat da, und er bietet große Chancen. Für die Politik und für die Wissenschaft, vor allem aber für die Gesellschaft.
Für die Politik, weil die 19 Ratsmitglieder gezwungen sein werden, für ihre Stellungnahmen eine gemeinsame Haltung zu entwickeln, so unterschiedlich ihre individuellen Perspektiven als Forscher auch manchmal sein mögen. Schaffen sie das nicht, wir das Gremium wirkungslos bleiben. Schaffen sie es aber, bedeutet das für die Regierungschefs von Bund und Ländern eine enorme Komplexitätsreduktion, weil sie sich nicht mehr entscheiden müssen, auf welche Stimmen einzelner Wissenschaftler sie im Zweifelsfall hören. Diesen Konflikt müssen jetzt die Wissenschaftler selbst austragen.
Doch auch für die Expertenrat-Mitglieder ist das keine Zumutung, sondern es ermöglicht ihnen, in einem geregelten Setting zu einem für alle wissenschaftlich tragfähigen Ratschlag an die Politik zu kommen. Anstatt wie bisher in einigen Medien gern mal zum Schaden der Wissenschaft insgesamt vorgeführt zu werden, wenn es offensichtlich divergierende Sichtweisen gab zu dem, was der Politik zu empfehlen sei. Sichtweisen, die alle ihre Berechtigung hatten und sich größtenteils aus den jeweiligen Fachdisziplinen erklärten. Was jedoch einige in der Verkürzung dazu missbrauchten, Stimmung gegen die Wissenschaft als solche oder gar gegen einzelne Wissenschaftler zu machen.
Kein Chaos, sondern ein
ganzheitliches epidemiologisches Bild
Den größten Nutzen aber hat die Gesellschaft. Weil die Ratschläge an die Politik künftig einen anderen Grad der Verbindlichkeit haben werden und insofern die Aussicht größer ist, dass die Politik auf dieser Grundlage ihre Corona-Maßnahmen ausrichtet. Und weil die Breite an Persönlichkeiten und Disziplinen im Expertenrat verspricht, dass die vermuteten Nutzen und Schäden möglicher Corona-Maßnahmen gleichermaßen in seine Stellungnahmen einfließen werden. Wenn Virologen wie Christian Drosten oder Hendrik Streeck, Kindermediziner wie Jörg Dötsch oder Reinhard Berner mit der Modelliererin Viola Priesemann, der Ethikern Alena Buyx oder dem STIKO-Vorsitzenden und Virologen Thomas Mertens zusammentreffen und sich untereinander verständigen müssen, dann ergibt das kein Chaos, sondern ein ganzheitliches epidemiologisches Bild.
Kurzfristig wollen die 19 sich zu Omikron äußern, ihre Stellungnahme dazu soll noch vor Weihnachten vorliegen. Das eilt am meisten, keine Frage. Der Rat muss bald darauf aber auch den Finger in andere große Wunden der deutschen Corona-Politik legen. Er muss zum Beispiel thematisieren, dass Deutschland beim massenhaften Sequenzieren immer noch hinterherhinkt und deshalb beim Entdecken und Verfolgen neuer Varianten zu oft auf die Schnelligkeit anderer Länder wie Großbritannien angewiesen ist. Der Rat muss bemängeln, dass es immer noch kein repräsentatives Corona-Panel gibt, in dem regelmäßig viele tausend Menschen auf das Virus getestet werden, um ein wahres Bild der Infektionsdynamik und der sozialen Zusammenhänge der Pandemie zu erhalten. Schließlich sollen sich die Experten (unter ihnen auch RKI-Chef Wieler) auch mit der Frage beschäftigen, wie das Robert-Koch-Institut zu einer modernen, schlagkräftigen und selbstbewussten Wissenschaftseinrichtung werden kann. Als Speerspitze der Corona-Bekämpfung hat das RKI oft genug schlecht ausgesehen.
Der Corona-Expertenrat hätte früher gegründet werden müssen. Viel früher. Doch deshalb kommt er noch lange nicht zu spät.
Hinweis: Ich habe den falschen Vornamen von Viola Priesemann korrigiert. Ich bitte um Entschuldigung!
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