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Thüringer Scharmützel

Das Bildungsministerium in Erfurt twitterte zehn Gründe für die Offenhaltung von Schulen. In Folge dessen feuert der Minister von der Linkspartei seine zuständige Staatssekretärin. Gegner der Präsenzpflicht dürfen sich bestätigt sehen.

Thüringens Bildungsminister Helmut Holter. Foto: Kay Herschelmann

AM ENDE gab es noch einmal lobende Worte. Helmut Holter habe "die hervorragende Arbeit von Staatssekretärin Dr. Julia Heesen im Krisenmanagement während der Pandemie gewürdigt", teilte der Pressesprecher des thüringischen Bildungsministers mit. Kurz vorher hatte Holter (Linke) Heesens Entlassung beantragt. Der Grund: Seine Staatssekretärin habe am vergangenen Wochenende eine Reihe von Ministeriums-Tweets verantwortet, von denen einer "falsch" und "mindestens ein weiterer... missverständlich" gewesen sei.

 

So wichtig ihm die Kommunikation in den sozialen Netzwerken sei, erklärte der Minister, so wichtig sei ihm, "dass öffentliche Kommunikation von Seiten meines Ministeriums in Botschaft und Stil mit der erforderlichen inhaltlichen Klarheit und auch notwendigen Zurückhaltung geführt wird." Das sei "in der öffentlich kritisierten Kommunikation am Wochenende "nicht in dem von mir erwarteten und gewünschten Maße" der Fall gewesen.

 

"Öffentlich kritisiert" ist gut. Die Nachrichtenagentur dpa nannte es einen "Shitstorm", den es das Bildungsministerium erlebt hatte. Was, um Himmels willen, hatte Holters Behörde denn da, "verantwortet" durch Heesen, getwittert?

 

Erwachsene in die
Verantwortung nehmen

 

Es gebe derzeit wieder viele Debatten um Schulen in der Pandemie, so beginnt der inkriminierte Thread. "In Thüringen wollen wir die Schulen mit hoher Priorität offenhalten und die Ferien nicht verschieben, denn es sprechen viele Gründe dafür." Die zehn wichtigsten wolle man im Folgenden nennen. Zum Beispiel diesen: "Wir haben Kindern und Jugendlichen versprochen, dass sie nicht wieder in den Lockdown müssen." Oder diese: Man wolle nicht die Planungen an den Schulen umwerfen und auch nicht, dass alle Familien ihre Pläne wieder neu schreiben müssten. Oder auch diesen Grund: "Wir sehen den geringen Effekt von Schulschließungen." Die Pandemie sei in Ländern, die die Schulen immer offen hatten, nicht anders verlaufen als in Deutschland.

 

Kämpferischer klingen die folgenden Tweets: "Wir stellen sicher, dass die Thüringer Schüler*innen in den Tagen bis kurz vor Weihnachten verlässlich getestet werden." Wer Schulen schließe, "verlagert die Verantwortung für das Testen in die Familien". Außerdem schaffe das Ministerium mit offenen Schulen "keine neue Spaltung" in Kinder und Familien mit oder ohne Notbetreuung. "Denn wer Schulen schließt, muss auch sagen, welche Kinder und Familien nicht in Notbetreuung dürfen."

 

Und so geht es weiter. "Wir behandeln Kinder und Jugendliche nicht schlechter als Erwachsene", lautet Grund 8. "Denn sie erkranken noch seltener schwer als geimpfte oder genesene Erwachsene; es ist ungerecht, trotzdem alle Schüler*innen nach Hause zu schicken." Grund 9: "Wir nehmen die Erwachsenen in die Verantwortung." Es sei Aufgabe der Erwachsenen, das Gesundheitssystem durch Impfungen zu entlasten, "und nicht Aufgabe der Kinder, ungeimpfte Erwachsene vor Infektionen zu bewahren". Und schließlich Grund 10: "Wir halten uns an das Infektionsschutzgesetz." Denn dieses verbiete den Ländern die Schließung aller "Gemeinschaftseinrichtungen nach Paragraph 33", zu denen Schulen und Kindergärten gehörten.

 

Kämpferisch: ja. Zugespitzt: ja. Aber so ähnlich haben es viele Virologen, Kinderärzte und Bildungsexperten zig Male formuliert. Und dass das Infektionsrisiko in Schulen – unter Beachtung der Hygieneregeln – deutlich niedriger ist als im häuslichen Umfeld, hat eine unabhängige Studie im Auftrag der Kultusministerkonferenz gerade erst wieder belegt. Anlass genug, um eine Staatssekretärin feuern zu lassen?

 

Die größte Empörung entzündete sich allerdings an einem weiteren Tweet im Zusammenhang mit der Aufzählung, in dem das Ministerium behauptete: "Ob Kinder Long-Covid entwickeln, ist nicht geklärt." Was falsch ist. Richtig wäre gewesen, dass unklar ist, wie verbreitet Long-Covid unter Kindern ist, dass viele Kinderärzte aber von einem außerordentlich seltenen Phänomen sprechen. Doch der anschließende Versuch des Ministeriums, die Aussage richtigzustellen, scheiterte, am Ende entschuldigte es sich und löschte den Tweet.

 

Absichtliches
Missverstehen

 

Im Eifer des Twitter-Gefechts entstand dann auch noch diese Aussage des Ministeriums: "Fernunterricht belastet Kinder und Jugendliche, weil sie Freunde vermissen, weil der direkte Kontakt zur Lehrer*in unersetzlich ist, weil sie vielfältige Zugänge zum Lerngegenstand brauchen, weil ihnen die Tagesstruktur abhanden kommt, weil sie zu Hause Gewalt ausgesetzt sind."

 

Auch wenn es sich hier offensichtlich um eine Aufzählung möglicher Gründe handelt und kein einziger so gemeint war, dass er für alle Kinder und alle Familien gilt, ließ sich der letzte Halbsatz, wenn man wollte, so interpretieren, dass das Ministerium Eltern pauschal Gewalttätigkeit gegenüber ihren Kindern vorgeworfen habe. Allerdings musste man es schon auch so verstehen wollen.

 

So stellt sich erneut die Frage: Genügen selbst diese beiden Tweets, sind sie so daneben, so verachtend und solch eine Provokation, dass sie eine Entlassung rechtfertigen?

 

Auf die Nachfrage, welche Passagen der Ministeriums-Tweets genau ihn veranlasst hätten, seine Staatssekretärin feuern zu lassen, ging Holter gestern allerdings nicht ein. "Ausschlaggebend für die Entscheidung zur Entlassung war die Frage der politischen Krisenkommunikation und die Feststellung Minister Holters, dass das Vertrauensverhältnis gestört war", sagte sein Pressesprecher. Die Rolle von Behörden in sozialen Netzwerken bestehe aus Sicht Helmut Holters darin, "Fragen zu beantworten, Entscheidungen zu vermitteln und möglichst nicht zu weiteren Polarisierungen beizutragen."

 

Eine verwirrende
Geschichte

 

Keine Auskunft gibt Holters Sprecher, ob dem Minister vorab bekannt gewesen ist, dass seine Staatssekretärin die Tweets zu den zehn Gründen geplant hatte oder ob er sie erstmals nach der Veröffentlichung gesehen hat. Ebenso wenig beantwortet er die Nachfrage, ob das Vertrauensverhältnis zwischen Minister und Staatssekretärin erst seit dem Wochenende oder schon vor den Tweets gestört gewesen sei. Holter habe die Entscheidung "in der Gesamtbewertung der aktuellen Situation getroffen", heißt es lediglich.

 

So bleibt es am Ende eine verwirrende Geschichte. Es stellt sich die Frage, unter welchem öffentlichen Meinungsdruck ein Minister stehen muss, um in dieser Form zu agieren. Und sein Ministerpräsident gleich dazu: Bodo Ramelow (Linke) sagte, die Entlassung Heesens sei ihm nicht leichtgefallen, sie sei eine exzellente Juristin, habe mit ihren Äußerungen auf Twitter aber einen schweren Fehler begangen. Was er nicht sagte: dass er am Wochenende sämtliche der zehn Gründe-Tweets retweetet hatte. Hatte er damit zu der von Holter kritisierten Polarisierung beigetragen?

 

Auch der Minister selbst lag in der Vergangenheit inhaltlich nicht weit weg von seiner Staatssekretärin und betonte immer wieder, Kinder und Jugendliche seien nicht besonders durch das Virus gefährdet, sie gehörten nicht zu den vunerablen Gruppen. Woraufhin sein Ministerium zwischenzeitlich die Maskenpflicht und sogar die Testpflicht in den Schulen ausgesetzt hatte. Zentrale Hygienemaßnahmen – was von Virologen heftig kritisiert wurde, während die Corona-Inzidenzen unter Thüringer Schulen bundesweit an die Spitze kletterten.

 

Ramelow sagte gestern in Bezug auf die Herkunft seines Ministers lapidar: "Helmut Holter hat die mecklenburgische Gelassenheit, um den Druck auf einen Minister auszuhalten, der für etwa 250.000 Kinder in der Corona-Pandemie Entscheidungen treffen muss, die nicht immer allen Beteiligten gefallen."

 

Ob Holter und Ramelow sich durch die so demonstrative wie fragwürdige Entlassung der Staatssekretärin Luft verschafft haben? Unwahrscheinlich. Womöglich gilt ja genau das Gegenteil: Die Befürworter von Schulschließungen werden sich durch das Thüringer Scharmützel bestätigt und bestärkt fühlen.

 

Den nächsten Gefallen hat Holter ihnen bereits getan. Am Tag, an dem er die Entlassung seiner Staatssekretärin ankündigte, setzte er die Präsenzpflicht für die letzten drei Schultage vor Weihnachten aus. Dann können die Eltern selbst entscheiden, ob ihre Kinder in die Schule gehen sollen oder nicht.

 

Dies ist die aktualisierte Fassung eines Beitrags, der zuerst im Freitag erschien.



Infektionsstudie: Schulen regulieren das Corona-Risiko

"Schulen sind keine Treiber der Pandemie", titelte die FAZ, nachdem Wissenschaftler der Kinderklinik der Uniklinik Köln und des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung am Mittwoch eine von der Kultusministerkonferenz in Auftrag gegebene Studie vorgestellt hatten. Ihrer Analyse der Übertragungswege zwischen März 2020 und August 2021 zufolge lag das Infektionsrisiko in Schulen deutlich niedriger als zu Hause.  

 

"Ein Plädoyer für offene Schulen" hätten die Forscher abgegeben, befand die Süddeutsche Zeitung (SZ). "Zwingt Omikron wieder zum Distanzunterricht? Nein, sagen Experten - schließen aber nichts aus."

 

Vor allem die Maskenpflicht im Unterricht wirke sich dämpfend auf die Corona-Dynamik aus, berichteten die Forscher. Ebenso zentral seien die Teststrategien in den Schulen – die Thüringen zwischendurch ausgesetzt hatte.

 

Die FAZ zitierte den Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Jörg Dötsch, dass Schulen insgesamt eine 

regulierende Funktion für das Infektionsrisiko hätten – weswegen er dringend dafür plädierte, den Schulbetrieb während der gesamten vierten Welle aufrechtzuerhalten. Schulschließungen hätten enorme psychische, soziale und körperliche Folgen. 

 

Nach aktuellen Erkenntnissen aus südafrikanischen Daten, sagte Dötsch laut SZ, führe die neue Virusvariante Omikron nicht zu deutlich schwereren Verläufen bei Kindern, sei aber erheblich ansteckender. Zu befürchten seien deshalb mehr Infektionen auch unter Kindern, aber keine Überlastung der Kinderkrankenhäuser. "In einer Millionenstadt wie Köln haben wir in der Woche im Durchschnitt fünf Kinder in den Kliniken", sagte Dötsch, der die Kölner Uniklinik leitet.

 

Sollte Omikron sich aber als weitaus bedrohlicher erweisen, als derzeit abzusehen, dann könne es natürlich auch zu Schulschließungen kommen, zitierte ihn die SZ, allerdings nur, wenn gleichzeitig auch das gesamte übrige gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben heruntergefahren werde.




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Kommentare: 5
  • #1

    Schönes Beispiel (Freitag, 17 Dezember 2021 08:28)

    Ein trauriges Beispiel dafür, was passiert, wenn ein*e Politiker*in sich mal traut, das zu tun, was immer von ihnen gefordert wird: klare Ansagen machen. Mein voller Respekt gilt Dr. Julia Heesen, die ohne Zweifel in Kürze eine andere Anstellung finden wir, in der ihre klaren Worte die Wertschätzung erfahren, die sie verdienen.

  • #2

    Holter-die-Polter (Freitag, 17 Dezember 2021 10:32)

    Man wundert sich, über welche personellen Reserven die
    Thüringer Regierung zu verfügen glaubt. Gab es nicht vor
    vielen Jahren schon in der damaligen Regierung von MV ein gewisses Problem mit einem Minister Holter (und seinem Staatssekretär) ? Er müßte doch langsam in Rente
    gehen können.
    Frau Hessen wird gewiß ihren Weg weitergehen.

  • #3

    Working Mum (Freitag, 17 Dezember 2021 12:48)

    Man ist immer wieder erstaunt, in welche kommunikativen Schwierigkeiten Institutionen mit doch eigentlich professionell aufgestellter Außenkommunikation schlittern. Und wie unprofessionell sie dann damit umgehen. Es ist wirklich zu hoffen, dass es andere und bessere als die öffentlich genannten Gründe für die Entlassung gab. Ansonsten wäre es einfach nur ein unwürdiges Schauspiel.

  • #4

    Geh Deinen Weg gerad' (Freitag, 17 Dezember 2021 14:53)

    @2: In der Tat hatte Herr Holter schon Übung in der Entlassung von Staatssekretären. In Mecklenburg-Vorpommern verlor er 2001 seinen Staatssekretär (und
    Duz-Freund) Dr. Joachim Wegrad nach der sogenannten Hausfrauen-Affäre.
    Frau Dr. Heesen verdient das Schicksal m.E: nicht.

  • #5

    René Krempkow (Freitag, 17 Dezember 2021 18:24)

    Was auch immer ausschlaggebend war, Dr. Julia Heesen als Staatssekretärin zu entlassen: Ich denke auch, sie wird ihren Weg machen. Sie hat letztlich nur getan, was auch die Aufgabe anderer sein sollte; nämlich die Interessen der Schulkinder vertreten, die dies nicht selbst können und ein Recht auf gute schulische Bildung haben.
    Andere Politiker werden dafür gelobt, dass sie auch auf Twitter unterwegs sind und dort prägnant formulieren, daher vermute ich hier auch eine Art Bauernopfer bzw. vielleicht noch besser passend: Damenopfer, um bei der Schachmetapher zu bleiben. ;-)