Kinder müssen in dieser Pandemie jede Menge Leid ertragen. Warum muten Erwachsene ihnen das zu? Ein Essay nach zwei Jahren Corona.
Abgesperrter Spielplatz in der ersten Welle der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020.
WAR ES GLEICHGÜLTIGKEIT, Ignoranz oder bewusste Härte? Jedenfalls verfügte Bayerns Gesundheitsministerium im November, dass auch ungeimpfte Kinder ab zwölf nicht mehr ins Kino durften, nicht mehr ins Museum oder in den Zoo. Obwohl sie bis zu ihrem zwölften Geburtstag gar nicht vollständig geimpft sein konnten – denn es gab zu dem Zeitpunkt keinen für Kinder zugelassenen Impfstoff.
Ein Beispiel unter vielen dafür, wie seit Beginn der Corona-Krise mit den Rechten von Kindern und Jugendlichen verfahren wird. Fast nirgendwo waren Schulen 2021 mit Verweis auf die Pandemie so lang geschlossen wie in Deutschland. Die Grundschulen zum Beispiel 32 Tage – gegenüber elf Tagen im Schnitt aller OECD-Länder. In der ersten Welle im März 2020 wurden sogar Spielplätze mit Flatterband abgesperrt.
Wenn Kinder vom Coronavirus besonders hart getroffen würden, hätte man die harschen Maßnahmen ja noch verstehen können. Oder wenn es keine Alternativen gegeben hätte, um die Corona-Dynamik einzudämmen. Doch auch wenn die Inzidenzen bei den unter 15-Jährigen in diesem Frühjahr stark anzogen und seitdem deutlich über denen bei Erwachsenen lagen, stellten sie zuletzt weniger als vier Prozent aller Krankenhaus-Patienten. Trotz anschwellender Omikron-Zahlen. Und während die Kinder monatelang zu Hause hocken mussten, waren die Corona-Regeln für die Erwachsenen lange fast nirgendwo so lax wie in der Bundesrepublik, worauf erst kürzlich wieder das ifo Institut hinwies: keine bundesweiten Ausgangssperren mit engem Radius um den eigenen Wohnort, lange gar keine Homeoffice-Pflicht – und dann längst nicht so streng durchgesetzt wie etwa in Frankreich, das so die sehr viel kürzeren Schulschließungen kompensierte.
Noch in diesem Herbst konnten Hunderttausende Erwachsene dicht gedrängt Karneval feiern, während Kita-Laternenumzüge flachfielen und an Kinder der Appell erging, wegen Corona doch bitte auf die Halloween-Touren durch die Nachbarschaft zu verzichten. Von wem? Unter anderem vom bayerischen Gesundheitsministerium. Dass es dicke Schlagzeilen macht, wenn der Präsident eines Bundesligisten vor den wirtschaftlichen Folgen von Geisterspielen warnt, aber nicht, wenn viele Hochschulen längst wieder in einen faktischen Lockdown gegangen sind, ist ebenso ein Abbild unserer Gesellschaft wie ein Spiegel-Bericht vom Frühjahr: Eine explizite Corona-Testpflicht für alle Arbeitnehmer wolle die Bundesregierung nicht vorschreiben, hieß es da noch, "weil es dabei um Körperverletzung ginge, die beim erzwungenen Abstrich nötig würde". Während sich zu dem Zeitpunkt längst alle Schüler und Schülerinnen mehrmals wöchentlich testen lassen mussten – was übrigens auch einer der Hauptgründe dafür ist, dass ihre Inzidenzen so einseitig in die Höhe schossen.
Die Ältesten verlieren ebenso
"Manchmal frage ich mich, ob wir mit den Schließungen von Schulen und Universitäten nicht den nächsten Schritt gegangen sind zu einem immer größer werdenden Generationenkonflikt", sagte jüngst die Präsidentin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Anja Steinbeck. Ob Klimakrise, Staatsverschuldung oder Rentensystem: Die ganze Zeit wirtschafteten die Älteren auf Kosten der Jüngeren. "Jetzt noch Corona. Wir buchen aufs Schuldenkonto der jungen Generation und verhindern, dass sie sich auf die von uns verursachte Zukunft möglichst gut vorbereiten kann."
Doch nicht nur die ganz Jungen sind die Verlierer der Corona-Krise. Die sehr Alten sind es auch. Die über 80-Jährigen, die am stärksten durch Corona gefährdet sind. Während der ersten und zweiten Welle konnten die Bewohner vieler Senioren- und Pflegeheime kaum noch ihre Zimmer verlassen oder Besuch empfangen. Trotzdem schlich sich das Virus Stück für Stück in ihre Altersgruppe ein und führte zu einem beispiellosen Sterben im vergangenen Winter und Frühjahr. Weil die Politik zwar gerade den Jungen jede Menge Einschränkungen auferlegt, beim Schutz der Alten jedoch versagt hatte.
Lerneffekte aber blieben aus: Das Boostern der früh geimpften Alten wurde im Sommer verschlafen und eine Impfpflicht für Pflegekräfte erst beschlossen, als die vierte Welle längst wieder in die Heime geschwappt war. Zudem erfassen die meisten Gesundheitsministerien bis heute nicht den Impfstatus von Heimbewohnern; viele Angehörige alter Menschen berichten, dass sie wieder vergeblich am Telefon um Hausbesuche für Impfungen betteln. Derweil sind viele 40-Jährige schon drei Monate nach der Zweitimpfung geboostert.
Denn wo es so viele Verlierer gibt, muss es natürlich auch Gewinner geben – soweit man das bei einer Pandemie sagen kann. Zumindest relativ gesehen kann man das: Die Gewinner sind die dazwischen, vor allem die Menschen ab 30, 40 aufwärts und die ohne Schulkinder.
Warum? Weil sie mit jedem zusätzlichen Lebensjahr zwar ein höheres Risiko tragen, schwer an Covid-19 zu erkranken, die meiste Zeit aber von den wirklich schweren Einschränkungen verschont blieben. Sie konnten weiter zur Arbeit gehen, wenn sie dies wollten, sie konnten ihre Freundschaften pflegen, Ausflüge machen. Sie mussten sich nicht darum sorgen, ihre Kinder zu versorgen und parallel den Druck im Büro auszuhalten. Für viele von ihnen war während der Lockdowns der Verzicht auf Restaurantbesuche oder Einkaufsbummel am nervigsten. Bis heute müssen die wenigsten von ihnen bei der Arbeit den ganzen Tag Maske tragen wie Kinder in der Schule.
Immerhin müssen sich auch Erwachsene neuerdings testen lassen, um zur Arbeit gehen zu dürfen – allerdings nur die Ungeimpften. Warum erst jetzt? Weil die Politik lange dachte, es reiche, den entsprechenden Testdruck bei Kindern und Jugendlichen aufzubauen, und den Impfdruck gleich dazu. Was bei der Altersgruppe der Studierenden hervorragend geklappt hat: Obwohl diese selbst kaum von einer ernsthaften Covid-19-Erkrankung bedroht sind, kletterte ihre Impfquote in Rekordzeit auf über 90 Prozent.
Was logisch ist, wenn gerade den Jungen, die besonders viele soziale Kontakte brauchen, besonders viele davon genommen werden. Sie wollten sich durch die Impfung ihren Alltag zurückholen. Ihren altersgemäßen Alltag. Denn für die Jungen tickt die Uhr. Für sie bedeuten ein, zwei Corona-Jahre den Verlust unwiederbringlicher Lebenserfahrungen, die man eben nur in einem bestimmten Alter und zu bestimmten Anlässen wie Klassenfahrten, Abibällen oder Uni-Einführungswochen macht.
Eine Dringlichkeit, die die Mittelalten, geschützt vom Teilhabe-Entzug der Jungen, nicht fühlen. Weshalb sich in ihren Reihen die härtesten Impfskeptiker finden. Und so wundert es auch nicht, dass die 40- bis 70-Jährigen zu denen gehören, die sich am lautesten empören, wenn Karneval oder Fußball dann doch eingeschränkt werden.
Wie diese Schieflage entstanden ist? Ich glaube, die Antwort ist eigentlich so einfach, dass es wehtut. Weil die Mittelalten die Wirtschaft am Laufen halten. Und weil sie es sind, die in diesem Land am meisten zu sagen haben. Sie protestieren am lautesten und mächtigsten, wenn etwas gegen ihre Interessen geht. Die meisten Politiker gehören direkt in diese Altersgruppe. Sie treffen die Corona-Entscheidungen und richten sie an ihrer eigenen Lebenswirklichkeit aus. Trage ich mit diesem Vorwurf nicht weiter zu der gesellschaftlichen Spaltung bei, die viele seit Beginn der Corona-Krise so dramatisch wachsen sehen? Und stimmt das, was ich schreibe, überhaupt noch – wo die Politik inzwischen doch über eine allgemeine Impfpflicht diskutiert und die Schulen sogar bei Inzidenzen von 400 und mehr offen gehalten hat?
Teilhabe ist kein Impfgrund
Ich glaube: Nur wenn wir den doppelten Generationenkonflikt und seine Verursacher klar benennen, werden wir ihn überwinden können. Dass die Schulen noch offen sind, zeigt lediglich, dass ihre monatelangen Schließungen rein fremdnützig intendiert waren – weil da die meisten Erwachsenen noch nicht geimpft waren. Die Schieflage hat sich nicht verringert – während Kinder teilweise in vorgezogenen Weihnachtsferien waren und Lehrerverbände schon wieder über Schulschließungen unkten, waren Clubs noch offen. Mahnungen der Ständigen Impfkommission, das Recht von Kindern auf soziale Teilhabe nicht an ihren Impfstatus zu knüpfen, werden derweil ignoriert. Wenige Bundesländer halten sich dran. Viele scheren sich nicht drum.
Bayern etwa hat, als der Druck zu groß wurde wegen seiner 2G-Regel für Zwölfjährige, die Grenze auf zwölf Jahre und drei Monate hochgesetzt – das nur für eine kurze Gnadenfrist. Im Januar 2022 wird 2G für Zwölfjährige dann auch für Restaurants, beim Sport oder in der Musikschule eingeführt.
Dieser Essay erschien zuerst im Freitag.
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Uli (Freitag, 31 Dezember 2021 18:18)
Die Beschreibung der Mitte der Gesellschaft erscheint mir sehr passend zu sein. Allerdings fehlt ein Aspekt: Die Eltern, die Druck auf die Regierung ausgeübt haben, damit die Kinder wieder mehr entlastet werden, gehören auch hier rein. Und zwar egal ob Impfbefürworter oder -skeptiker.
Katharina (Dienstag, 04 Januar 2022 09:38)
Die Probleme sind leider keineswegs auf die Schule beschränkt. Auch Kleinkinder und ihre Eltern leiden durch die Einschränkungen in der Betreuung und bei den Freizeitmöglichkeiten enorm (z.B. 2G+ im Sport- und Freizeitbereich in NRW ohne klare Ausnahmeregelungen für Kleinkinder).
Die extreme Belastung berufstätiger Eltern und ihrer Kinder wird politisch immer noch weitgehend als Privatproblem der Familien behandelt. Leider fehlt uns auch die Zeit, die eigenen Interessen, z.b. auf Demonstrationen, so deutlich zu vertreten wie andere Gruppen. Ich freue mich, wenn Artikel wie dieser die Schieflage aufgreifen.