· 

Katastrophe des Westens

Afghanistan stand Ende August am Abgrund, heute ist es dem Abgrund noch näher: unterdrückte Mädchen und Frauen, versagte Bildungschancen, Gewalt und hungernde Kinder. Aber unsere Aufmerksamkeit ist weg, Corona hat uns abgelenkt. Vielleicht sind wir ja ganz froh darüber?

Hinschauen: In Kabul herrschen seit fast fünf Monaten wieder die Taliban. Foto: Weaveravel, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.

ZU DEN EIGENSCHAFTEN unserer Mediengesellschaft gehört, dass sie schnell von einem Thema zu anderen hüpft. In diesen Tagen geht das noch schneller, weil die vorderen Nachrichtenplätze meist mit Corona-Meldungen besetzt und damit viel knapper als gewöhnlich sind. Angesichts der anrollenden Omikron-Welle könnte sich der Fokus der Berichterstattung in den nächsten Wochen weiter verengen, ich spüre das ja bei mir selbst und bei meinem Blog. Internationale Ereignisse abseits der Pandemie verkommen da (wenn nicht gerade Jahrestag der Kapitol-Erstürmung ist) erst recht zu Randnotizen. 

 

Ob wir es uns eingestehen oder nicht: Vielleicht sind wir als Gesellschaft sogar ganz froh, einen gute Ausrede zu haben, wenn uns bestimmte Umwälzungen und ihre Folgen, so tiefgreifend diese auch sein mögen, gerade wahrnehmungsmäßig durchrutschen. Ich rede von Afghanistan. Ende August, als die Corona-Zahlen hierzulande noch verhältnismäßig niedrig waren, waren die meisten von uns bewegt, betroffen, entgeistert, als die westlichen Truppen abrückten und innerhalb von wenigen Tagen die Taliban wieder die Macht übernahmen, als seien sie nie weggewesen.

 

Eine ungeheure politische Blamage, ein moralischer Offenbarungseid für die USA, für Deutschland und ihre Verbündeten, der durch die zehntausenden zurückgelassenen Ortskräfte ein menschliches Antlitz bekam. Schwer zu ertragen auch die anschließenden Berichte von den Schließungen weiterführender Schulen für Mädchen, von Frauen, die von ihren Arbeitsplätzen vertrieben wurden, von Geschlechtertrennung an den Hochschulen, der Gleichschaltung von Kultur und Wissenschaft und, auch wenn die Taliban das Gegenteil behaupteten, von Exzessen der Gewalt.

 

In den vergangenen Monaten haben die Taliban ihre Herrschaft gefestigt, ihre Führungsstrukturen und Methoden weiterentwickelt, doch wir hören kaum noch darüber. Klar, wenn man danach sucht, findet man sie, die dramatischen Meldungen über die Mutter, die sich mit ihren Kindern auf die Flucht begibt und im Schneesturm an der iranischen Grenze erfriert. Über den Vater, der seine zehnjährige Tochter als Braut verkauft, weil die Familie hungert. Man stößt auf absurd erscheinende Nachrichten, dass das neue geschaffene Ministerium zur Erhaltung der Tugend angeordnet hat, im Westen des Landes alle Schaufensterpuppen zu köpfen und später ganz zu beseitigen, weil sie Götzenbilder seien.

 

Und es gibt auch die kleinen Hoffnungszeichen, wenn ein junger Hildesheimer im Auftrag von Caritas International zum Hilfseinsatz nach Afghanistan aufbricht. Wenn Exil-Afghanen in Deutschland eine Online-Universität lancieren. Oder wenn Humboldt-Stiftung und Deutsche Akademischer Austauschdienst (DAAD) zusätzliche Stipendien für afghanische Studierende und Forschende bereitstellen, finanziert vom Auswärtigen Amt. Aber es bleiben Meldungen am Rande, abseits der Titelseiten und Aufmacher-Storys der Nachrichtenportale. 

 

Nicht Gleichgültigkeit, sondern Ratlosigkeit

 

Womöglich zucken Sie beim Lesen dieser Zeilen gerade innerlich mit den Schultern. Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Ratlosigkeit: Was soll man denn auch machen? Mehr als das Eingeständnis des oben zitierten moralischen Offenbarungseids geht doch nicht. Klar, soll Deutschland endlich wenigstens die 17.500 Menschen ins Land holen, die laut Bundesinnenministerium Anfang Dezember eine Aufnahmegenehmigung hatten und trotzdem seit Monaten in Afghanistan ausharren. Vielleicht funktioniert ja der diesbezügliche 7-Punkte-Plan (vor allem eine endlich erleichterte Visa-Vergabe), den Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) kurz vor Weihnachten vorgestellt hat.

 

Vielleicht wäre es aber auch mal wieder Zeit für den einen oder anderen Leitartikel, warum wir als Gesellschaft vier Monate brauchen, um einen Plan zu vereinfachten Visa-Vergabeverfahren für Menschen in höchster Not zu fassen. Für Menschen, die auf Deutschland vertraut haben. Können Wahlkampf und Regierungswechsel dafür Gründe sein? Und taugen Corona und Omikron als Ausrede, dass die Nachrichtenkanäle und sozialen Medien heiß laufen über Quarantäneregeln, Corona-Fälle auf Kreuzfahrtschiffen und die Impfpflicht-Debatte – aber nicht über den Hungerwinter in Kabul und anderswo, der Millionen trifft und Millionen Kinder? Über verlorene Hoffnungen und Lebenschancen, über Leben in Angst und Terror?

 

Außenministerin Baerbock sagte neulich, Afghanistan steuere "in die größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit". Es ist auch eine Katastrophe des Westens. 

></body></html>

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Christiane (Mittwoch, 12 Januar 2022)

    Vielen Dank, dass Sie dieser menschengemachten und menschlichen Katastrophe hier Raum geben. Ich muss Ihnen zustimmen: Wir sind viel zu leise, jetzt, wo es um Unterstützung und auch Eingeständnisse unseres Beitrags dazu geht, obwohl wir in einem vergleichsweise sehr privilegierten Land leben und durchaus etwas tun können. Eine Lösung habe ich dafür nicht, ich versuche jedoch, zumindest die Initiativen zu unterstützen, die sich voller Engagement einsetzen und tatsächlich etwas verändern wollen.