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Bildungsaufbruch? Jetzt!

Sind Bildungspolitik und Schulen in der Lage, aus den bitteren Erfahrungen der Pandemie zu lernen? Klar ist: Nach Corona muss Schule neu gedacht werden.

DIE PANDEMIE hat eine Menge der Modernisierungsdefizite von Schulen drastisch vor Augen geführt, die Experten schon lange angemahnt hatten. Vor Corona allerdings meist erfolglos. 

 

Die mangelnde digitale Ausstattung der Schulen. Der vielfach nur sporadische Einsatz digitaler Medien im Unterricht. Die ungleich schlechteren Bildungschancen von Nichtakademikerkindern. Das Nicht-Mitdenken von Inklusion und Integration in weiten Teilen unseres Bildungssystems. Die fehlenden personellen Kapazitäten und Strategien für die individuelle Förderung. Der Stillstand bei der Debatte, was qualitativ hochwertigen Unterricht ausmacht. Und die Unfähigkeit der Bildungspolitik, die Lehrerbildung so zu modernisieren und dann auch die nötigen Studienplätze zur Verfügung zu stellen, dass Schluss ist mit den immer gleichen Zyklen von Lehrermangel und Lehrerüberschuss.

 

Es ist etwas dran an dem Argument, dass sich viele Kultusminister, Bildungsforscher und Pädagogen so an den Präsenz-Unterricht geklammert haben, weil sie wussten: Wenn die Schule schon im Normalbetrieb materiell, personell und ideell so auf Kante genäht ist, muss der Moduswechsel in der Fläche zu noch viel größeren sozialen Verwerfungen führen. 

 

Die große Frage ist: Sind Bildungssystem und Bildungspolitik in der Lage, aus den bitteren Erfahrungen zu lernen? Forderungen, dass der Neuanfang inmitten der Pandemie gelingen sollte, habe ich immer für wirklichkeitsfremd gehalten. Im Krisenmodus denkt man von Schritt zu Schritt und nicht in langfristigen Innovationen. Weshalb man zum Beispiel noch keine nachhaltige digitale Revolution ableiten sollte aus der Tatsache, dass in den Schulen jede Menge Laptops angekommen sind und viele Lehrkräfte jetzt wissen, wie man eine Videokonferenz einrichtet und Online-Plattformen mit Inhalten bestückt.

 

Lasst uns nicht über Schulschließungen,
sondern über die Zukunft reden

 

Doch während die Omikron-Welle übers Land zieht, zeichnet sich am Horizont ein Ende der Pandemie ab, zumindest in dem Sinne einer akuten Bedrohung. Sollten die Gesellschaft und mit ihr die Schulen im Sommer und Herbst den Ausnahmezustand tatsächlich hinter sich lassen können, gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens: Alle schütteln sich und machen weiter wie vor der Pandemie. Zweitens: Wir nutzen das Erlebte, um dafür zu sorgen, dass die Schule von morgen wirklich besser ist als die von heute und gestern.

 

Leider ist Variante eins wahrscheinlicher. Umso stärker muss jetzt Druck aufgebaut werden, dass Variante zwei eine Chance hat. Wie wäre es, wenn einige die Kraft, die sie immer noch in die immer gleichen Forderungen nach Schulschließungen investieren, dafür einsetzten, den Aufbruch nach der Pandemie wahrscheinlicher zu machen?

 

Indem sie von den Bildungsministern jetzt die Einrichtung von Ideenwerkstätten in jedem Bundesland fordern. Ideenwerkstätten zwischen Bildungspolitik und Schulverwaltung, zwischen Bildungsforschern und den für die Lehrerbildung Verantwortlichen, den Vertretern von Lehrern, Eltern und Schülern. 

 

Die Kultusministerkonferenz als Club der Bildungsminister muss bereit sein, die Ergebnisse der Ideenwerkstätten zur Grundlage eines langfristigen Reformprozesses zu machen, den sie, strukturiert durch die Mitglieder ihrer neuen Ständigen Wissenschaftlichen Kommission, zügig durchzieht und mit konkreten inhaltlichen, finanziellen und strategischen Zielmarken versieht. Zur Unterrichtsqualität. Zur Schulorganisation. Zur Lehrerbildung. Bundesweit abgestimmt und trotz der Einbindung so vieler klar und politisch mutig geführt.  

 

Ja, das bedeutet das Drehen des ganz großen Rades. Aber nur das passt zu den Dimensionen dessen, was Schulen, Kinder, Lehrkräfte und Eltern in den vergangenen Jahren erlebt haben. Und könnte an die Stelle von Spaltung, Enttäuschung und Frust den Glauben an einen gemeinsamen Aufbruch setzen. Einen Aufbruch, den Schule schon vor Corona gebraucht hätte.

 

Der Kommentar erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.



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Kommentare: 2
  • #1

    Hans Brügelmann (Mittwoch, 12 Januar 2022 11:14)

    Zur Idee von Ideenwerkstätten s. auch die Aktivitäten und Vorschläge des bundesweiten "Bürgerrats für Bildung und Lernen", der 2022 in seine zweite Runde geht:
    https://www.buergerrat-bildung-lernen.de/

  • #2

    Detlef Müller-Böling (Mittwoch, 12 Januar 2022 12:09)

    Eine sehr klare Analyse der Defizite unserer Schulsysteme, wie sie von J.M. Wiarda üblich ist.
    Wenn wir allerdings an die Zukunft denken, sind Ideenwerkstätten sicherlich hilfreich, sie reichen aber als Grundlage für eine kommende Schulbildungslandschaft nicht aus. Dazu braucht es eine viel stärkere Loslösung von zentraler Steuerung durch die Ministerialbürokratie, die sich in der Pandemie geradezu als hilflos und kontraproduktiv erwiesen hat. Viele Entscheidungen sind besser vor Ort innerhalb der Schule anzusiedeln. Das ist ein dickes Brett und müsste detaillierter erörtert werden, welche Aufgaben im einzelnen auf die Schulen delegierbar ist, welche Qualifikationen die Schulleitungen dann haben müssen usw.