Mitten im Wahlkampf verspricht CDU-Ministerpräsident Tobias Hans das Aus fürs achtjährige Gymnasium. Damit wäre G8 im Westen Deutschlands fast am Ende. Aber wer profitiert eigentlich davon?
Gibt es auch hier das Abitur bald wieder nach 13 Jahren? Das Gymnasium Wendalinum
in St. Wendel im Saarland. Foto: Florian Decker, Messdiener Winterbach, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.
ES BLEIBT JA IMMER NOCH G9. Am 27. März ist Landtagswahl im Saarland, die CDU von Ministerpräsident Tobias Hans kämpft gegen den Bundestrend, die SPD liegt in Umfragen um die fünf Prozentpunkte vorne. Doch, erinnerte sich Hans jetzt offenbar, im vorerst letzten CDU-Glücksjahr 2017 gab es zwei Kollegen, die auch dank des Versprechens, die Gymnasialzeit wieder von acht auf neun Jahre zu verlängern, den Sprung ins Amt schafften.
Der eine hieß Armin Laschet und hatte 2016 noch versichert, im Falle eines Wahlsiegs werde es keine komplette Rolle rückwärts an den Schulen geben, keine flächendeckende Umstellung von G8 auf G9. Um sich dann in den Koalitionsverhandlungen mit der FDP zu einigen: Die Schulzeitverkürzung werde zugunsten eines Optionsmodells abgewickelt – mit einer Wahlfreiheit für die Schulen. An dessen Ende ganze drei Gymnasien in NRW bei G8 blieben.
Der andere war Daniel Günther, der immerhin schon als Spitzenkandidat vor der schleswig-holsteinischen Landtagswahl das Ziel verkündet hatte, zu G9 zurückkehren zu wollen. Nachdem die Nord-CDU das achtjährige Gymnasium lange gepusht hatte. Doch, argumentierte Günther 2017, es habe sich viel geändert, seit in den 2000er Jahre ein Bundesland nach dem anderen erstmals auf acht Jahre Gymnasium umgestellt hatte.
Ein West-Bundesland nach dem anderen, wohlgemerkt. Thüringen und Sachsen hatten immer 12 Jahre bis zum Abitur, die übrigen Ost-Bundesländer beließen es bei schnell wieder aufgegebenen G9-Intermezzi. Was sich laut Günther geändert hatte? Dass die Wehrpflicht weggefallen und das Studium auf Bachelor und Master umgestellt worden war. Doch schon letzteres war ein Pseudo-Argument. Denn Schleswig-Holstein hatte erst 2008 auf G8 umgestellt, als die sogenannten "Bologna"-Abschlüsse schon die neue Regel waren.
Hans hätte G8 längst
machen können
Und jetzt also Tobias Hans. Der ist zwar auch schon seit 2018 Regierungschef, hätte die Reform also längst machen können. Aber die Landtagswahl ist eben erst jetzt, und Hans hat als Spitzenkandidat noch nie eine bestreiten müssen. Aber natürlich ist das laut Hans nicht der Grund für seine G8-Offensive zwei Monate vor der Wahl. Er sagt: "Jugendliche brauchen mehr Zeit, um den wirklich immer mehr wachsenden Anforderungen gerecht zu werden". Daher wolle man den Schülern wieder ein Jahr mehr geben, "zum Leben, zum Arbeiten, zum Forschen", zitiert der Saarländische Rundfunk den Ministerpräsidenten, der gern Ministerpräsident bleiben will. Da auch die Saar-SPD zurück zu G9 will, bedeutet Hans' Ansage so oder so faktisch das Ende für G8 im Bundesland.
Nicht geändert hat sich seit 2017, dass Bildungsforscher die vermeintlich so verheißungsvolle Umstellung kritisch sehen. Aufwändige Studien kamen zu der immer gleichen Schlussfolgerung: dass G8 und G9 zu identischen Lernergebnissen führten, aber auch zu ähnlichen Stresslevels bei den Schülern. Eine Rückkehr biete daher keine positiven Folgen, befand 2017 zum Beispiel der Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften, Olaf Köller – schon damals einer der renommiertesten deutschen Bildungsforscher überhaupt. Heute ist Köller einer von zwei Vorsitzenden der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (Stäwiko) der Kultusministerkonferenz und sagt, es gelte immer noch, was er damals in einer viel beachten Stellungnahme zusammengefasst hatte. Aber er sagt auch: "Die Bildungsforschung hat das Interesse am Thema verloren."
Weil die Wissenschaft der Meinung war, dass die Politik bei dem Thema ohnehin nicht auf sie hört? Denn auch wenn der Deutsche Philologenverband, die Vertretung der Gymnasiallehrer, nach Hans' Ankündigung umgehend frohlockte: G8 ist auch im Saarland nicht an sich selbst gescheitert, nicht am Protest der Lehrer-Gewerkschaften oder mehr oder minder repräsentativen Elternumfragen. Sondern an Politikern, die meinen, ein paar Sympathiepunkte einfahren zu können, indem sie dem vermeintlichen "Turbo-Abi" den Garaus machen. Auch weil die Chancen, die G8 bot, von vielen bis heute nicht verstanden und noch seltener genutzt worden sind: die längst überfällige Entrümpelung der Stundenpläne, das Aushandeln eines Bildungskanons fürs 21. Jahrhundert, eine bessere Verzahnung von Theorie und Praxis, welche die in Deutschland so tiefe Kluft zwischen akademischer und beruflicher Bildung ein Stückweit schließten könnte.
Philologenverbands-Bundesvorsitzende Susanne Lin-Klitzing begrüßt das von Hans versprochene Mehr an Lernzeit jedenfalls "außerordentlich, weil das Gymnasium im Saarland damit beispielhaft auch für andere Länder seine Schülerinnen und Schüler effektiv auf die Herausforderungen der Zukunft, die unter anderem mit Globalisierung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit verknüpft sind, vorbereitet."
Die Ostländer schwören
weiter auf G8
Schon bezeichnend, dass all das wieder einmal nur mit mehr Zeit möglich sein soll, als die vorhandene Zeit bestmöglich einzusetzen. Doch hätte dies eben Konflikte zwischen den unterschiedlichen an den Gymnasien vertreten Fächern bedeutet. Konflikte, die Bildungspolitik wie Lehrerverbände immer gescheut haben. Auch Argument, durch Corona seien die Schulen so lange geschlossen gewesen, das könnte eine Verlängerung des Gymnasiums ausgleichen, zählt bei einer schulstrukturellen Grundsatzfrage nicht wirklich. Zumal dann zuerst alle anderen Schulformen mehr Zeit bekommen müssten, weil sich die Schulschließungen dort sozial viel drastischer ausgewirkt haben dürften.
Und was das "beispielhaft" angeht: Das Saarland hat zwar als erstes Westland 2001 G8 eingeführt, in Sachen angekündigter Rückabwicklung aber ist es ein Nachzügler. In Hessen etwa bieten nur noch acht von über 100 Gymnasien das Abitur in acht Jahren an, in Niedersachsen offenbar gar keines. In Bayern soll 2025 der erste Abiturjahrgang zum größten Teil wieder aus G9-Abiturienten bestehen. Von NRW und Schleswig-Holstein war bereits die Rede.
Insofern käme als Nachahmer eigentlich nur noch Baden-Württemberg in Frage, das einzige westdeutsche Flächenland, in dem das achtjährige Gymnasium noch der Regelfall und ist wo sich die grün-schwarze Landesregierung zuletzt nach der Landtagswahl 2021 erstaunlich deutlich für dessen Erhalt und pädagogische Weiterentwicklung positioniert hatte. In Kontrast zum Philologenverband, der im Südwestenseit Jahren darauf drängt, anstatt langjähriger G9-Modellversuche endlich überall G8 zur Regel zu machen – weil die allermeisten Eltern dies wollten und oft keinen G9-Platz für ihre Kinder fänden. Bleibt Rheinland-Pfalz, das seit langem mit 12,5 Jahren bis zum Abitur sehr selbstbewusst sein eigenes Modell fährt.
Die Ost-Bundesländer wiederum schwören auf G8, die Debatte über eine Verlängerung dort: nahe null. Übrigens liegen die Schüler in Thüringen und Sachsen in fast allen nationalen Schulrankings vorn, was natürlich viele Gründe und sicher wenig mit G8 zu tun hat. Aber ein "trotz G8" ist es auch nicht. Und die Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin haben sich mit dem Zwei-Säulen-System mit acht Jahren Abi an Gymnasien und neun Jahren anderswo eingerichtet. Das im Saarland noch ähnlich existiert zurzeit.
Wer mehr Zeit brauchte oder wollte bis zum Abitur, hatte dazu also auch im Bundesland von Tobias Hans die Möglichkeit. Nur eben nicht an den Gymnasien, sondern in den stärker sozial gemischten Gemeinschaftsschulen. Ein Dorn im Auge mancher Bildungsbürger, der jetzt auch im Saarland endlich beseitigt wird?
Derweil soll das gymnasiale G8-Revival Teil einer ganzen "Qualitätsoffensive" werden, die die CDU versprochen hat und die im Kern dazu dienen soll, die Unterscheidbarkeit zwischen Gymnasien, Gemeinschaftsschulen und beruflichen Schulen zu schärfen. Man müsse den Eltern auch klar machen, wo die Unterschiede lägen, sagte Hans laut Saarländischem Rundfunk. Indem man die Schulzeit angleicht? Das gleichzeitig beschriebene Ziel von mehr Wissenschaftsbezug an Gymnasien und vorrangig Ausbildungsvorbereitung an Gemeinschaftsschulen könnte in Wirklichkeit darauf hinauslaufen, dass die Abiturquote unter Kindern aus sozial benachteiligten Familien noch weiter gedrückt wird – und die unter Akademikerkindern weiter steigt. Obwohl genau das Gegenteil nötig wäre.
Woher sollen eigentlich die
zusätzlichen Lehrer kommen?
Schließlich überrascht, dass in der gesamten Debatte um G8 auch im Saarland drei Fragen fast gar nicht gestellt werden. Erstens: Sind sich Hans und seine Unterstützer eigentlich bewusst, dass sie den Schulen mit der Umstellung jahrelange Unsicherheit, Regelwirrwarr und Gerangel um die Ausgestaltung zumuten? Also genau das, was der G8-Reform immer vorgeworfen wurde? Zweitens: Ist den Schülern und Eltern klar, dass sich die Schultage bei G9 nicht wesentlich entzerren/entstressen werden, sondern dass sie mit zusätzlichem Stoff bepackt werden dürften? Mit dem Ergebnis, dass abseits einer echten Priorisierung einfach alle Fächer ein bisschen mehr von dem machen dürften, was sie sich schon lange gewünscht haben?
Und drittens: Wenn es, wie Hans sagte, schon 2023 losgehen soll mit der Reform, woher sollen so schnell eigentlich all die zusätzlichen Lehrkräfte kommen? In Zeiten eines – je nach Fach – auch an Gymnasien beträchtlichen Lehrermangels, den neulich auch erst wieder der Philologenverband als Teil einer fehlenden bildungspolitischen Langfristplanung kritisiert hat? Dass es laut Saar-CDU "nur" 100 zusätzliche Gymnasiallehrer sind, die "langfristig" gebraucht würden, kann man getrost mit gleich mehreren Fragezeichen versehen. Doch schon die 100 könnten die betroffenen Gymnasien lange suchen. Denn genau Mitte der 20er Jahre droht wegen der G9-Umstellung bundesweit eine Riesenlücke bei den gymnasialen Berufseinsteigern. Mitten in einer Zeit, in der die Schulen sich nach Corona ohnehin erst wieder in den Normalbetrieb werden kämpfen müssen.
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Peter K. Lenz (Montag, 17 Januar 2022 11:09)
Man kann nur konstatieren, daß die Mehrzahl der westlichen Bundesländer auch in dieser Frage die in vielerlei Hinsicht positiven Erfahrungen der "neuen"
Bundesländer ignorieren bzw. ablehnen. Aber was kann
man in dieser Frage auch sonst erwarten.
Student (Montag, 17 Januar 2022)
Also ich habe G8 damals in Bayern gemacht und würde im Nachhinein nicht mit G9 tauschen wollen. Lieber ein Freiwilliges Jahr danach machen und etwas Perspektive kriegen die man auch so in der Universität nicht findet anstatt noch ein Jahr länger die Schulbank zu drücken.
Das Umstellungschaos war das größte Problem, Mensen waren zum Teil nicht fertig etc. Aber an sich fand ich G8 nicht schlimm.
bregalnica (Dienstag, 25 Januar 2022 11:45)
Ich war damals im sogenannten Doppeljahrgang, wo wir gemeinsam mit G9 Schülern das Abitur gemacht haben, ich selbst hatte aber nur G8. Das war in der Umstellung schwierig, weil man in gemischten Kursen saß und einfach weniger Vorlauf hatte, insbesondere im Fremdsprachen-Leistungskurs. Zumal ich in Berlin zur Schule ging, das Gymnasium und somit die 2. Fremdsprache also erst ab der 7. Klasse gelehrt wurde. Das war eine eigenartige Zeit, aber letztlich ist, wie es ja auch wissenschaftlich belegt ist, kein Vorteil von G9 zu erkennen. Ich habe jedenfalls überhaupt keine Nachteile im Studium oder auf dem Arbeitsplatz gehabt.
Ich glaube hier geht es um Gefühle und vor allem um Eltern, die den politischen Diskurs treiben. Es ist aber auch dieses Bildunsgbürgertum, was massiven politischen Druck aufbaut um "das beste" für ihre Kinder rauszuholen. Über Gymnasien und somit über Kindern höherer sozialer Herkunft werden solche Diskurse geführt - aber wer redet denn bitte von anderen Schulformen, und inwiefern diejenigen ein Jahr mehr zur persönlichen Entfaltung haben möchten? Hier stellt sich auch ein bisschen die soziale Klassenfrage.
Das ist doch alles eine Scheindebatte, zumal wir die Lehrkräfte eh nicht haben.