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Bislang keine Wand

So hoch die Corona-Zahlen sind: Die Entwicklung verläuft günstiger als befürchtet. Was bedeutet das, wie geht es weiter, und was ist mit den Kindern und Jugendlichen? Meine wöchentliche Analyse.

VOR OMIKRON ließ sich recht gut abschätzen, welche Veränderung der Corona-Inzidenzen welche Veränderung bei der Zahl der Krankenhaus- und Intensivpatienten nach sich zog – und mit welcher Verzögerung. Natürlich ist ein Zusammenhang noch da, auch wenn Omikron pro 1000 Infektionen deutlich weniger schwere Erkrankungen auslöst. Doch was genau das für Deutschland und seine Demographie bedeutet, ist noch unklar. 

 

Fest steht: Irgendwann in der Weihnachtszeit hat sich die Corona-Dynamik gedreht, während Omikron Stück um Stück Delta verdrängte. Seitdem nehmen die Corona-Fälle wieder zu. Seit wann genau, wissen wir wegen der lückenhaften RKI-Statistiken nicht. Und wir kennen deshalb auch nicht die echten, um Meldeverzerrungen bereinigten Wachstumsraten.

 

Was an der immer vorhandenen Dunkelziffer liegt, deren Größe unklar ist. Dazu am Aussetzen der schulischen Pflichttests in den Ferien, die jetzt wieder aufgenommen worden sind. An der verzögerten Meldekette über die Feiertage. Und an den Kapazitätsreserven der Labore. Alles Dinge, die schon lange bekannt sind und eben so lange nach einem repräsentativen Corona-Panel schreien. Bei dem eine große Bevölkerungsstichprobe regelmäßig auf eine Infektion getestet wird, um Klarheit abseits aller Verzerrungen zu schaffen. Doch daran hatten Politik und Teile der Wissenschaft in Deutschland aus unverständlichen Gründen, Stichwort deutsche Datenerhebungskatastrophe, bislang kein ausreichendes (soll heißen: zum Handeln führendes) Interesse.

 

Trotzdem lässt sich aus den vom RKI gemeldeten Inzidenzen einiges ablesen, was für die politischen Entscheidungen der nächsten Wochen von Interesse ist.

 

1. Der Anstieg ist im Vergleich zu anderen Ländern geringer

Die Einschätzung mag angesichts einer RKI-Rekordinzidenz von bundesweit 553,2 heute Morgen zunächst überraschen: Die Zahlen sind positiv zu werten. Warum? Weil ihr Anstieg in der Omikron-Welle bislang deutlich langsamer ausfällt als angesichts der Erfahrungen in Dänemark, Großbritannien oder anderswo befürchtet. Das Wand-Klischee passt bislang für Deutschland insgesamt nicht wirklich (für einzelne Bundesländer aber schon). Tatsächlich verlangsamt sich die Dynamik schon wieder. Vergangenen Dienstag lag die wöchentliche Wachstumsrate noch bei 61,7 Prozent. Heute Morgen waren es 42,6 Prozent. Und auch das dürfte die tatsächliche Dynamik eher überschätzen. Weil zwar einerseits die begrenzten Laborkapazitäten regional bereits wieder zu einer stärkeren Unterschätzung der Infektionszahlen führen dürfen, andererseits in der vergangenen Kalenderwoche die Wiederaufnahme der Pflichttests in den Schulen die Dunkelziffer bei Kindern und Jugendlichen wieder stärker ausleuchtete. Und dieser Sondereffekt allein dürfte sieben, acht Prozentpunkte des gesellschaftlichen Wachstums ausmachen. Der in der nächsten Woche kaum noch wirkt. Dazu gleich mehr. 

 

2. Die Dynamik dürfte weiter nachlassen

Es sieht nicht so aus, als ob die Steilwand jetzt noch kommt. Das hat neben dem fast erledigten statistischen Sondereffekt der Schultests weitere Gründe, die im Verlauf der Corona-Welle in den einzelnen Bundesländern liegen.

 

Erstens: In den Ländern, in denen Omikron besonders früh und heftig das Regiment übernahm, scheint die rasante Entwicklung größtenteils vorbei zu sein. So ist das wöchentliche Wachstum in Bremen (Rekord-Inzidenz 1.297,4) innerhalb von sieben Tagen eingebrochen: von +130 auf unter zehn (+9,5) Prozent. Ähnlich in Berlin, heute Morgen mit der zweithöchsten Inzidenz (962,8) bundesweit: +29 Prozent im Vergleich zur Vorwoche, nach +157 Prozent sieben Tage zuvor. Auch in Schleswig-Holstein, in dem die Corona-Welle mit als erstes und sehr kräftig einsetzte, sank das Wachstum von +99 auf +22 Prozent. Hamburg ist etwas hinterher, dort nahm die Inzidenz um 55 Prozent auf 900,1 zu, letzte Woche betrug die Wachstumsrate dort +49 Prozent.  

 

Zweitens: Die Ankunft von Omikron in mehreren ostdeutschen Bundesländern verzögert sich weiter. In Sachsen (-16,9 Prozent auf 232,0) und Thüringen (-36,9 Prozent auf 204,2) geht es sogar wieder stärker runter als in der Vorwoche (-2,9 bzw. -19,8 Prozent). Sachsen-Anhalt meldet eine Seitwärtsbewegung (-2,0 Prozent auf 268,6). Im stärker von Omikron betroffenen Mecklenburg-Vorpommern geht die Wachstumskurve bereits wieder nach unten (+12,4 Prozent auf 471,6; Plus in der Vorwoche noch +47,5 Prozent). Das den Corona-Hotspot Berlin umschließende Brandenburg steigt um 29,2 Prozent auf 635,3, auch das ein leichter Rückgang der Wachstumsrate von 36,2 Prozent in der Vorwoche. 

 

Drittens: Währenddessen läuft Omikron im Westen der Republik mit ebenfalls schon wieder nachlassenden Wachstumsraten durchNRW (+42,4 auf 543,7), Rheinland-Pfalz (+23,6 auf 405,2), Saarland (+29,9 auf 490,2). Das norddeutsche Bundesland Niedersachsen, zu Teilen ebenfalls heftig von Omikron getroffen, meldet noch +43 Prozent (auf 461,0) nach +76,2 Prozent in der Vorwoche. Am höchsten und steigend ist das Plus derzeit im Süden: Baden-Württemberg (+69,6 Prozent auf 549,8) und Bayern (+69,7 auf 576,3) und Hessen (+75,3 Prozent auf 676,7). 

 

Deutlich ist übrigens auch, dass die Omikron-Welle als erste Corona-Welle überhaupt vorrangig eine der Städte zu sein scheint. Nicht nur die Stadtstaaten liegen bei den Melde-Inzidenzen vorn, in den Flächenländern erreichen Städte wie Köln (744), München (860) oder Frankfurt (1.060) auch besonders hohe Werte.

 

In der Zusammenfassung bedeutet dies: In neun Bundesländern, die mit teilweise sehr hohen Omikron-Anstiegen zu tun hatten, geht das Wachstum zurück, und das in mehreren Fällen deutlich. Ein höheres Wachstum als in der Vorwoche haben nur vier Bundesländer. Und in drei ostdeutschen Bundesländern wird Omikron vermutlich erst noch so richtig ankommen. Aus all dem lässt sich ableiten, dass die bundesweite Corona-Wachstumsrate (mit großen regionalen Unterschieden!) weiter abflachen wird. 

 

3. Die Inzidenz-Anstiege waren nicht so stark, dass sie den Omikron-Vorteil schon aufgefressen haben dürften

Schon beim Nachlassen der Delta-Welle dauerte es auffällig lange, bis die niedrigeren Inzidenzen auf die Zahl der Intensivpatienten durchschlugen. Mit einer eben solchen Verzögerung gingen letztere dafür jetzt noch zurück, obwohl die realen Corona-Inzidenzen in Wirklichkeit schon seit etwa drei Wochen wieder gestiegen sein dürften (wie lange genau, wissen wir ja leider, siehe oben, nicht). Gegenüber ihrem Höchststand Mitte Dezember (4.937) sank die Zahl der auf deutschen Intensivstationen behandelten Corona-Infizierten um 44,5 Prozent auf nur noch 2.741 am Sonntag. Am Montag bewegte sie sich mit +3 seitwärts. Beginnt jetzt der allmähliche Wiederaufstieg? Schwer zu sagen.

 

Was halbwegs klar scheint: Gegenüber dem realen Inzidenz-Tiefstand Ende Dezember dürften sich die Inzidenzen bis heute etwa verdoppelt haben, und Omikron führte in anderen Ländern zu etwa einem Viertel der schweren Verläufe von Delta. Wie gut sich das auf Deutschland übertragen lässt? Unklar. Also: Ein Anstieg wird auf den Intensivstationen bald kommen, aber selbst im ungünstigen Falle müsste die bundesweite Melde-Inzidenz noch deutlich höher steigen, um wieder auf 5000 Intensivpatienten und mehr zu kommen. Zumal jeden Tag immer noch hunderttausende Menschen zusätzlich geboostert werden (die 50-Prozent-Quote ist hier bis Ende der Woche erreicht). Die entscheidenden Fragen: Nähert sich das nachlassende bundesweite Corona-Wachstum in den nächsten Wochen schnell genug der Null-Linie, und welche Altersgruppen sind besonders betroffen?

 

4. Die Melde-Inzidenzen werden von den Jungen getrieben

Noch eine Nachricht, die unter den schlechten die relativ gesehen beste ist: In der vergangenen Kalenderwoche 2 nahm die Zahl der registrierten Corona-Infizierten über 80 nur um 3,5 Prozent auf 6.872 zu. Auch hier ist die RKI-Statistik noch vorläufig, es gibt zurzeit immer sehr viele Nachmeldungen. Doch der Trend ist klar: Die Älteren sind bei der Omikron-Welle größtenteils noch außen vor. Bei den 60- bis 79-Jährigen berichtet das RKI sogar einen Rückgang um 2,4 Prozent auf 6.637.

 

Der Gegenschnitt sieht dafür zunächst dramatisch aus. 0- bis 4-Jährige: +95,8 Prozent im Wochenvergleich auf 17.837; 5- bis 14-Jährige: +107,3 Prozent auf 81.991. 15- bis 19-Jährige: +48,2 Prozent auf 44.813. 20- bis 39-Jährige: +21,0 Prozent auf 167.638. Und die 40- bis 59-Jährigen: +33,2 Prozent.

 

Allerdings muss man nun bei den Melde-Inzidenzen genau hinschauen. Dabei zeigt sich zweierlei: Bei den noch vollständig ungeimpften Kitakindern bis 4 scheint die Corona-Dynamik relativ zu anderen Altersgruppen tatsächlich besonders hoch zu sein derzeit. Dafür sprechen nicht nur die Berichte aus den Einrichtungen. Sondern auch der Umstand, dass es hier in vielen Bundesländern bislang nicht die flächendeckenden Pflichttests gab wie in den Schulen. Deren Aufnahme nach den Weihnachtsferien dort nämlich erneut dafür gesorgt haben, dass die Meldezahlen bei den 5- bis 14-Jährigen so außerordentlich explodiert sind.

 

Dass es in Wirklichkeit mal wieder KEINE Sonderkonjunktur in dieser Altersgruppe gibt, zeigt der Blick auf den relativen Anteil der Kinder und Jugendlichen an allen Meldefällen. Er lag für die 5- bis 14-Jährigen vergangene Kalenderwoche zwar bei 17,7 Prozent – nach 11,7 Prozent in der Woche zuvor. Doch die 17,7 Prozent sind immer noch weniger als die 20,6 Prozent vor den Weihnachtsferien. 

 

In der laufenden Kalenderwoche wird sich erfahrungsgemäß der Rest des Testeffekts auswirken, so dass die relativen Anteile wahrscheinlich wieder beim Vor-Ferien-Wert liegen werden. Höher als bei den Erwachsenen, aber die Kinder werden eben auch viel häufiger getestet. Und erst ab nächster Woche kann man dann ihre wöchentliche Dynamik wieder mit anderen (weniger getesteten) Altersgruppen vergleichen. 

 

Übrigens zeigt der Blick in die drei Stadtstaaten mit ihren besonders hohen Inzidenzen, dass dort in der vergangenen Kalenderwoche Kinder und Jugendliche relativ gesehen weniger betroffen waren als im Bundesschnitt, ihr Anteil an allen Meldefällen lag bei 16,7 Prozent. Aber auch hier gelten die gleichen statistischen Limitationen, die ich gerade beschrieben habe. 

 

Am wichtigsten ist indes: Die allermeisten Infektionen bei Kindern und Jugendlichen verlaufen unproblematisch, auch Langzeitfolgen wie PIMS oder Long Covid sind Kinder- und Jugendmedizinern zufolge nach wie vor sehr selten. Der Anteil der im Krankenhaus behandelten Patienten zwischen 5 und 14 an allen Altersgruppen liegt bei weiter niedrigen 2,1 Prozent. Zum Vergleich: Die über 60-Jährigen kamen in Kalenderwoche 1 laut RKI auf 62 Prozent.

 

Weiter hoch geht der Anteil der 0- bis 4-Jährigen an allen Krankenhauseinweisungen: auf 3,9 Prozent in Kalenderwoche 1, was nicht gut ist. Neuere Wochenzahlen gibt es noch nicht. Außerdem sind die vorhandenen extrem unzuverlässig: Ein unbekannter Teil der Kinder kam gar nicht wegen einer Corona-Infektion ins Krankenhaus, sondern diese wurde nebenbei festgestellt. Und: Vergangene Woche meldete das RKI noch 2,4 Prozent für die Kleinkinder in Kalenderwoche 52, inzwischen liegt der Wert für Kalenderwoche 52 noch bei 2,2 Prozent. 

 

5. Bitte nicht die Jungen vergessen!

Aktuell macht sich unter Politikern Hoffnung breit. Könnte die Ampel richtig gepokert haben, könnten die ergriffenen Maßnahmen reichen – eventuell sogar schrittweise gelockert werden? Auch wenn ein gewisser Optimismus angezeigt scheint: Es sind Fragen, die sich eigentlich erst in etwa 14 Tagen seriös beantworten lassen – wenn klar ist, ob die Corona-Wachstumskurve weiter nach unten zeigt und was das für die schweren Fälle bedeutet. Klar sollte aber schon jetzt sein: Bevor wieder Fans die Fußballstadien und Erwachsene die Bars und Clubs bevölkern, muss über die teilweise sehr empfindlichen Einschränkungen für Kinder und Jugendliche geredet werden. Sei es bei Freizeitangeboten und Vereinssport oder bei ausgesetzten schulischen Angeboten. Das hat, das muss Priorität haben. 



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