Wie verändern sich die Schulen durch die Pandemie? Und was ist mit ihren Hygienekonzepten? Eine Umfrage unter Schulleitern aus Deutschland, Österreich und der Deutschschweiz liefert teilweise überraschende Erkenntnisse – und relativiert manche Kritik an den deutschen Kultusministern.
Tobias Feldhoff ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulforschung an der Universität Mainz. Foto: Jürgen Hartmann.
Herr Feldhoff, wofür steht "S-Clever"?
"S-Clever" steht für "Schulentwicklung vor neuen Herausforderungen" und ist eine Befragung von bis zu 1500 Schulleitungen aus Deutschland, Österreich und der Deutschschweiz, die über ihre Erfahrungen mit der Corona-Pandemie berichtet haben. Zu drei unterschiedlichen Zeitpunkten seit Herbst 2020, so dass sich auch Entwicklungen gut nachvollziehen lassen.
Ein ziemlich ambitioniertes Projekt.
Wir waren aber auch ein großes Konsortium mit Forschenden der Universitäten Mainz, Rostock, Zürich, Heidelberg, Klagenfurt und dem DIPF Leibniz Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Was sich allerdings als besonders schwierig herausstellte: In Zeiten der Pandemie repräsentative Zufallsstichproben hinzubekommen.
Weil die Schulleitungen Anderes zu tun hatten, als Fragebögen zu beantworten?
Am Ende waren wir mit dem Rücklauf ganz zufrieden. In Deutschland haben alle allgemeinbildenden Schulen, über 20.000, angeschrieben und es geschafft, dass alle 14 teilnehmenden Bundesländer und sämtliche Schulformen angemessen vertreten sind. Den Kollegen in Österreich und der Deutschschweiz ist das auch gelungen.
Was wollten Sie herausfinden?
Wir wollten wissen, welche Herausforderungen die Pandemie an die Schulen stellte, wie die Schulen auf die Herausforderungen reagiert haben, inwieweit die Schulen die Gelegenheit nutzen konnten, sich grundsätzlich weiterzuentwickeln und ihre Lehrkräfte zu professionalisieren. Und das Ganze im Vergleich der drei Länder.
"In der Deutschschweiz waren die Schulen schon weiter. Österreich und Deutschland haben aber in den vergangenen zwei Jahren Boden gut gemacht."
Die Herausforderungen lagen doch auf der Hand, zumindest in Deutschland. Als die Schulen im März 2020 von einem Tag auf den anderen schließen musste, fehlten fast überall selbst die basalste Technik und die Konzepte, um auf Digitalunterricht umzuschwenken.
In der Tat war das die Hauptherausforderung, die wir uns angesehen haben. Und zu Beginn war es so ähnlich, wie Sie das gerade geschildert haben. In Deutschland und in Österreich genauso. In der Deutschschweiz allerdings waren die Schulen schon weiter. Dort herrscht kein Lehrermangel, und die Ausstattung der Schüler- und Lehrerschaft mit digitalen Endgeräten war vor Corona bereits deutlich besser. Sie hatten vielfach auch schon mehr Erfahrung mit der Nutzung digitaler Medien, zum Beispiel mit Onlineplattformen. Die Kehrseite ist, dass die Schulen in Österreich und in Deutschland in den vergangenen zwei Jahren gegenüber der Deutschschweiz Boden gut gemacht haben. Es hat, schon notgedrungen, ein echter Digitalisierungsschub stattgefunden.
Wirklich? Wir hören meist nur die Klagen, dass das Geld aus dem Digitalpakt viel zu langsam vor Ort ankomme.
Das ist ein Problem im deutschen Föderalismus, dass bei solchen nationalen Anschaffungsprogrammen immer Bund, Länder und Kommunen mitmischen und koordiniert werden wollen. So dass die Verfügbarkeit mit der nötigen Hardware, mit mobilen Endgeräten, Tablets und Laptops, für alle Schülerinnen und Schüler bis heute ein Problem ist. Umgekehrt gab es enorme Fortschritte beim Einsatz von Lehr- und Lernplattformen und beim Aufbau der digitalen Kompetenzen in den Lehrerkollegien. Mittlerweile haben zwei Drittel der Schulen in Deutschland ein eigenes Konzept für digitales Lernen, doppelt so viel wie vor Corona. Und 80 Prozent nutzen Online-Plattformen für den Austausch von Lernmaterialien.
"Insgesamt sind die Schulen heute viel, viel besser auf Distanzunterricht eingestellt als vor zwei Jahren."
Kritiker sagen aber, die Kultusminister würden die Schulen schon deshalb inmitten der Omikron-Welle aufbauen, weil sie bei deren Digitalisierung versagt hätten.
Die Kritik ist zu einfach und unterschätzt das in den Schulen Erreichte, wozu auch die Unterstützung der Politik beigetragen hat. Richtig ist allerdings, dass wir in Deutschland als Lehre aus der Pandemie die föderalen Strukturen noch einmal überdenken sollten, damit Programme wie der Digitalpakt gerade in Krisenzeiten schneller in die Fläche kommen können. Insgesamt aber sind die Schulen heute viel, viel besser auf Distanzunterricht eingestellt als vor zwei Jahren.
Warum dann also die Zurückhaltung der Kultusminister?
Weil, auch das zeigen unsere Ergebnisse ganz deutlich, die entscheidenden Herausforderungen andere sind. Sie können zum Beispiel den Präsenzunterricht für Erst- und Zweitklässler oder für etliche Schülerinnen und Schüler an Förderschulen schlicht nicht ins Digitale verlegen, weil ihnen dafür die grundsätzliche Lese- und Medienkompetenzen fehlen. Hinzu kommt die Bedeutung der Schule für die Motivation und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen aller Altersstufen. Lernen ist ein Geschehen der persönlichen Begegnung und der Interaktion. Darum halte ich das Festhalten an der Präsenz, wo es nur irgendwie geht, auch im Augenblick für richtig und sinnvoll.
Was treibt die Schulleiter in der Pandemie außer der Digitalisierung besonders um?
Das ist und bleibt die Frage, wie die Schülerinnen und Schüler motivational und emotional unterstützt werden können und wie die Unterstützung gefährdeter Schülerinnen und Schüler sichergestellt werden. Und welche Arbeitsbelastung für die Lehrkräfte das nach sich zieht. Viele Schulleiter beschäftigt auch, wie sie das digitale Lernen nach der Pandemie sinnvoll mit dem bisherigen Unterricht verknüpfen können, so dass ein Mehr an Qualität entsteht. Das ist der nächste wichtige Schritt. Erfreulich ist, dass in der Pandemie viele Lehrkräfte zu ihren digital versierteren Kollegen aufgeschlossen haben. Die von den Schulleitungen angestrengten Fortbildungen haben gefruchtet, wiederum in allen drei Ländern.
Gibt es also gar keine nennenswerten Unterschiede?
Doch! Außer dem Vorsprung bei der Digitalisierung, den die Deutschschweiz hatte und den Deutschland und Österreich seit März 2020 immerhin verkleinern konnten, fällt auf, dass in der Deutschschweiz die Herausforderungen durch Corona insgesamt als geringer wahrgenommen wurden als in Deutschland und Österreich. Die Schulleitungen in der Deutschschweiz empfinden auch ihre Arbeitsbelastung als weniger stark und sind dafür zufriedener, wie es an ihrer Schule in der Pandemie gelaufen ist
"Die Deutschschweizer Schulleitungen räumen
den Hygienemaßnahmen sogar eine leicht geringere Priorität ein als in Deutschland."
Wie erklären Sie sich das?
Außer der grundsätzlich besseren Ausstattung der Schulen in der Deutschschweiz könnte eine Erklärung sein, dass die Schulen dort von der Politik seltener mit Schließungen oder Wechselunterricht konfrontiert wurden. Aber das ist nur eine Hypothese, wir müssen und das noch genauer anschauen.
Haben die Hygienemaßnahmen in der Deutschschweiz dafür eine größere Bedeutung? Deutschland, heißt es oft, würde die Schulen nicht pandemiesicher genug gemacht und stattdessen auf Teufel komm raus offengehalten.
Tatsächlich ist es so, dass die Deutschschweizer Schulleitungen den Hygienemaßnahmen sogar eine leicht geringere Priorität einräumen als in Deutschland. Am meisten Bedeutung hat das Thema in Österreich, aber die Unterschiede zwischen den Ländern sind da insgesamt nicht so groß. Übrigens gibt es die gleiche Kritik, die föderale Schulpolitik würde nicht genug für die Sicherheit tun, auch in der Deutschschweizer Öffentlichkeit. Die Schulen selbst scheinen das aber nicht so zu empfinden.
Und was ist mit der Kritik, die Schulbehörden würden in der Krise zu wenig oder widersprüchlich kommunizieren und handeln? In Deutschland empfinden das viele Lehrer so.
Das kann ich bestätigen. Rund 40 Prozent der Schulleitungen in Deutschland und Österreich gaben an, sie hätten sich nicht gut unterstützt gefühlt in dieser außergewöhnlichen Situation, für mehr als die Hälfte der Schulleitungen hatten dieSchulbehörden die Realität in den Schulen vor Ort nicht genug im Blick. In der Deutschschweiz bewerteten die Schulleitungen die Qualität der Informationen und Vorgaben von Seiten signifikant positiver.
Wie stark hängt das Wohl und Wehe einer Schule in der Pandemie von ihrer Leitung ab?
Sie ist ein Faktor neben Rahmenbedingungen wie der materiellen Ausstattung und ihrer sozialen Lage. Das war schon vor der Pandemie schon so. Allerdings bedeuten Krisenzeiten zwangsläufig, dass mehr vor Ort entschieden werden muss. Und mehr Autonomie bedeutet in der Regel, dass die Unterschiede zwischen den Schulen wachsen – je nachdem, wie gut eine Schulleitung in der Lage ist, den vorhandenen Spielraum zu nutzen. Das wäre alles nicht schlimm, wenn alle Schulen eine ähnlich gute Ausgangsposition hätten. Wir wissen alle, dass das nicht der Fall ist. Und genau da ist Politik gefragt. Schule brauchen unterschiedlich viel und unterschiedliche Formen der Unterstützung und Begleitung, weil sie selbst unterschiedlich sind. Nur wenn die Bildungspolitik hier differenziert, gelingt es allen, die guten Impulse aus der Krise in den Regelbetrieb nach der Pandemie zu überführen.
Die Studie "S-Clever" ist in der Vollfassung hier abrufbar. Finanziell unterstützt wurde sie von der Robert-Bosch-Stiftung und der Jacobs Foundation.
Kommentar schreiben
Lehrerkind (Freitag, 28 Januar 2022 08:31)
Ich möchte ein Ergebnis aus der Studie herausgreifen: "Mittlerweile haben zwei Drittel der Schulen in Deutschland ein eigenes Konzept für digitales Lernen." Leider bringt das schönste Konzept nichts, wenn es an Ressourcen, Kompetenzen, und schlicht auch an dem Willen fehlt, dieses Konzept umzusetzen. Das Konzept wird dann, wie Konzepte so oft, zum Feigenblatt für eine desaströse Situation vor Ort und wird immer dann hervorgekramt, wenn man Qualitätssicherung demonstrieren soll. Studien wie die von Herrn Feldhoff helfen fleißig bei der Propagierung dieser Feigenblätter, damit ist niemandem geholfen.