Deutschlands Politik zitiert skandinavische Bildungsideale, finanziert Schulen & Co aber schlechter als Großbritannien. Wie ein fairer Ausweg aus dem Dilemma aussehen könnte.
Es braucht einen größeren Topf für die Bildungsfinanzierung. Illustration: Mohamed Hassan / Pixabay.
ES GIBT zwei gesellschaftliche Strategien, um Kitas, Schulen und Hochschulen so zu finanzieren, dass dabei insgesamt ein starkes Bildungssystem herauskommt.
Strategie 1: Der Staat investiert selbst genug und sorgt so dafür, dass seine Bildungsangebote hochwertig und gebührenfrei für alle sind. Das ist der skandinavische Weg. Mit dem Ergebnis, dass Norwegen im Jahr 2017 6,6 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in seine Bildungsinstitutionen steckte, Schweden 5,4 Prozent und Dänemark 5,5 Prozent.
Strategie 2: Der Staat investiert selbst zu wenig, schafft aber ein Bildungssystem, in dem private Geldgeber die Lücke füllen. Was zu einem Nebeneinander herausragender und mittelmäßiger bis deutlich unterfinanzierter Bildungsinstitutionen führt. Und zu Bildungsgebühren, die mal besser, mal schlechter sozial abgefedert werden. Das ist der britisch-amerikanische Weg: In Großbritannien etwa gab der Staat laut OECD 4,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, Private weitere 2,1 Prozent. Macht insgesamt 6,2 Prozent der Wirtschaftsleistung (hier der Download-Link zur OECD-Tabelle).
Und dann gibt es den Weg, den Deutschland geht: Der Staat gibt extrem wenig für Bildung aus – 3,6 Prozent der Wirtschaftsleistung. Und die Privaten geben nur wenig dazu: 0,6 Prozent. Das Ergebnis: Ein Bildungssystem, das international kaum konkurrenzfähig ist. Gegenüber Ländern mit inklusiveren, da flächendeckend besser finanzierten Kitas, Schulen und Hochschulen. Und gegenüber Ländern, wo es zwar genauso unterfinanzierte Bildungseinrichtungen gibt, aber eben auch Schulen und Hochschulen, die bei Ausstattung und Leistungsfähigkeit international an der Spitze stehen.
Die schlechteste der
möglichen Bildungswelten?
Klingt nach der schlechtesten der möglichen Bildungswelten für ein wohlhabendes Industrieland, und so lesen sich auch die daraus resultierenden Bildungsstatistiken: Die Lesekompetenzen deutscher Neuntklässler hängen stärker von ihrer sozialen Herkunft ab als in Norwegen, Dänemark oder Schweden. Aber auch stärker als in Großbritannien und den USA, zeigte Pisa 2018. Der Zugang zum Hochschulstudium ist in der Bundesrepublik trotz nicht vorhandener Studiengebühren sozial weiter extrem selektiv: Von 100 Nicht-Akademikerkindern studieren 27. Von 100 Kindern, deren Eltern studiert haben: 79. Das ist auch, ohne dass es dazu direkte internationale Vergleichszahlen gibt, beschämend.
Deutschland steckt zwischen den Systemen, und das seit langem. Schon beim Bildungsgipfel 2008 gelobten Bund und Länder eine nachhaltig bessere Bildungsfinanzierung. Und blieben sie schuldig. Andere Politikbereiche waren beim Geldverteilen immer wichtiger. Auch jetzt, wo den öffentlichen Haushalten die Corona-Zeche droht, werden von Ampel-Politikern massiv höhere Bildungsausgaben ins Schaufenster gestellt, doch selbst wenn es am Ende wirklich fünf, sechs oder acht Milliarden mehr pro Jahr werden sollten: Der Rückstand zu Dänemark beträgt rechnerisch mindestens 49 Milliarden Euro (= 1,3 Prozent der Wirtschaftsleistung) pro Jahr. Zu Großbritannien 76 Milliarden. Und zu Norwegen: Ach, hören wir auf.
Ein möglicher Weg aus dem Dilemma würde viel Mut erfordern. Wie er aussehen könnte: Der Staat investiert wie versprochen mehr Geld in Schulen und Kitas und differenziert dabei. Bildungseinrichtungen in sozial benachteiligten Gegenden bekommen mehr. Und erst wenn es die Betreuungsschlüssel und die Qualität zulassen, werden die verbliebenen Kitagebühren auch für reichere Familien abgeschafft. Wirklich erst dann.
Bei vergangenen Streichrunden profitierten oft die Wohlhabenden, weil gestaffelte Gebühren schon vorher vielerorts dafür sorgten, dass Familien mit niedrigeren Einkommen wenig oder nichts zahlen mussten. Gleichzeitig haben aber gerade Kinder aus benachteiligten Familien das Recht auf die bestmögliche Ausstattung in Kitas und Schulen.
Nicht das skandinavische,
nicht das britische Modell
Noch mehr Chuzpe bräuchte die Politik bei den Hochschulen. Indem sie ihnen wieder erlaubt, Studiengebühren zu erheben. Die aber anders als früher erst nach dem Abschluss fällig werden, ohne dass bis dahin Zinsen gezahlt werden müssen. Und die nur verlangt werden von Absolventen, die ein relativ hohes Einkommen erreicht haben.
Nein, das ist nicht das skandinavische Modell. Aber auch nicht das britische. Am wenigsten Verständnis habe ich jedenfalls dafür, wenn die Politik rhetorisch ständig Anleihen nimmt an skandinavische Bildungsideale, tatsächlich aber weniger staatliches Geld auszugeben bereit ist als Großbritannien. Und dann auch noch jede Debatte über private Bildungsfinanzierung scheut. So dass Deutschland bei den Ausgaben pro Student mittlerweile unter den Schnitt aller OECD-Länder gerutscht ist – unter denen viele deutlich weniger wohlhabend sind.
Am Ende ein Mutmacher: Bei einer repräsentativen Umfrage des ifo-Instituts sagten neulich gut 62 Prozent der Erwachsenen, dass sie nachgelagerte Studiengebühren unterstützen würden.
Der Kommentar erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
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Tom (Montag, 07 Februar 2022 12:56)
nein. nein. und nochmals nein. keine studiengebühren.
aber großen dank für die BIP prozente.
Dieter Timmermann (Montag, 07 Februar 2022 16:09)
Dazu 2 Bemerkungen:
1. M. E. ist es nicht zielführend, den aus Australien bekannten Finanzierungsvorschlag "nachgelagerte Studiengebühren" so zu nennen. Es sind m. E. keine Studiengebühren, sondern es ist ein abverlangter Solidaritätsbeitrag derer, die studieren konnten und dank des Studiums ein überdurchschnittliches Einkommen erzielen, welches ihnen ermöglicht, die Hochschulausgaben zugunsten der ihnen nachfolgenden Studierendengenerationen systematisch und regelmäßig zu stärken.
2. Höhere Hochschulausgaben an sich bewirken noch gar nichts. Entscheidend ist m. E., ob sie dauerhaft und in aller Breite Wirkungen in Hinblick auf eine höhere Qualität von Lehre und Lernen erzeugen. Damit diese wünschenswerten und erforderlichen Wirkungen Realität werden, müssen die möglich werdenden Verbesserungen der Lerngruppengrößen und der Relationen zwischen Lehrenden und Lernenden notwendig unterfüttert werden von veränderten/ neuen Lehr- und Lernformen. Das bedeutet für mich: eine grundsätzliche und radikale Umstellung des heute vorherrschenden Lehr-Lernmodells (vorrangige Wissensvermittlung durch Frontalberieselung) auf das Inverted Classroom Modell, welches die führenden amerikanischen und kanadischen Universitäten schon seit zig Jahren - auch in der analogen Lehr-Lernwelt - praktizieren. Das ist eine ganz andere Nummer des Lehrens und Lernens, von der bei uns in anderen Worten viel geredet wird (future skills, 21.st century skills, Studierendenorientierung etc.), aber nichts geschieht. Erforderlich ist beides gemeinsam: deutlich höhere Hochschulausgaben (Investitionen in Hochschulbildung!) und ein radikaler Systemwechsel von Lehre und Lernen hin zum nun digitalen Inverted Classroom Modell. Wer Näheres dazu erfahren möchte, sei auf die in 2020 erschienene Dissertation von Marion Rink (auch bei linked in) hingewiesen.
Django (Montag, 07 Februar 2022 16:42)
Ich fürchte nur, dass sich nichts ändern wird. Ich bin fast 60 Jahre alt, schaue mir deutsche Politik also mehr oder weniger bewusst seit über 40 Jahren an. Mir ist der Glaube an Wunder abhanden gekommen.
Franka Listersen (Dienstag, 08 Februar 2022 07:20)
Was unterscheidet eigentlich "nachgelagerte Studiengebühren" vom erhöhten Steuersatz für gutausgebildete Gutverdiener? Nicht die Beträge, sondern die Zweckbindung an die Hochschuletats!
Die zitierten BIP-Anteile sind ein weiterer Ausweis der geistigen Unfähigkeit in Deutschlands Politik, sich den Nutzen von Investitionen vorzustellen: hohe Ausgaben jetzt - dauerhafter Nutzen später.
Wobei man fairerweise sagen muss, dass in diesem Fall v.a. die Länder nicht liefern.