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Vor dem Höchststand

Die bundesweiten Corona-Zahlen könnten ihren Anstieg in den nächsten sieben bis zehn Tagen tatsächlich beenden. Was für eine solche Prognose spricht, warum wir wieder verstärkt auf die Älteren schauen sollten – und alle noch ein paar Wochen Geduld brauchen. Meine wöchentliche Analyse.

HEUTE MORGEN lag die bundesweite Corona-Inzidenz laut Robert-Koch-Institut (RKI) bei 1.441,0. Natürlich mal wieder ein Rekord. Dass zugleich die Dunkelziffer angesichts ausgeschöpfter Test- und Meldekapazitäten groß sein dürfte, ist inzwischen fast ein Allgemeinplatz. Das macht den absoluten Vergleich der Zahlen zum Beispiel zur Delta-Welle schwierig. Trotzdem ist die Inzidenz-Entwicklung nicht ganz ohne Aussagekraft, weil sich ein Trend ablesen lässt. Im Wochenvergleich stiegen die gemeldeten Neuinfektionen bundesweit um 19,5 Prozent. Das bedeutet fast eine Halbierung des Wachstums zur Vorwoche (34,9 Prozent). Vor zwei Wochen lag das Plus im 7-Tages-Vergleich sogar noch bei 61,7 Prozent. Geht es so weiter, könnte der Scheitelpunkt der Omikron-Welle tatsächlich wie von Virologen vorhergesagt in etwa einer Woche erreicht sein. 

 

Die Frage ist: Gilt das dann für die tatsächliche Corona-Dynamik auch oder nur für die gemeldeten Zahlen? Die vom größten deutschen Laborverband ALM erfasste Positivrate bei den PCR-Tests stieg noch vorvergangene Woche um enorme neun Prozentpunkte auf 41,1 Prozent. Neue Werte (für die vergangene Woche) gibt es erst heute im Laufe des Tages. Immerhin: Es gibt schon jetzt Hinweise, dass die Omikron-Welle tatsächlich an Kraft verliert und ein echter Rückgang bevorstehen könnte. Meine wöchentliche Analyse in drei Punkten und einer Schlussfolgerung.

 

 

1. Der Scheitelpunkt kommt näher, aber es dauert

Was für ein echtes Nachlassen der Dynamik spricht, ist der Blick in die Bundesländer. In Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Berlin hat Omikron früher und besonders heftig zugeschlagen. Jetzt sind es die vier Bundesländer, die von einer Seitwärtsbewegung langsam ins Minus gedreht sind. Bremen (-4,2 Prozent auf 1.362,1) und Schleswig-Holstein (-5,5 Prozent auf 869,2) schon die zweite Woche in Folge, Hamburg erstmals diese Woche (-12,1 Prozent auf 1.405,4), ebenso Berlin (-6,9 Prozent auf 1.640,4). Die Werte zeigen allerdings auch, dass es wohl kein rascher Abstieg wird. 

 

Die übrigen Bundesländer befinden sich in einer verzögerten Entwicklung und insofern noch im Anstieg der Kurve. Eine Gruppe (alle westlichen Bundesländer, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg) ist dabei schon weiter, ihre Wachstumsraten sind in den meisten Fällen bereits gesunken gegenüber der Vorwoche, und das teilweise deutlich. Sie liegen jetzt in einem engen Band zwischen 28,0 Prozent (Bayern, heutige 7-Tages-Inzidenz: 1.819,1) und 12,6 Prozent (Hessen, 1.664,0). Eine zweite Gruppe ostdeutscher Länder hatte besonders spät mit Omikron zu tun bekommen, hier sind dafür jetzt die Plus-Werte noch besonders hoch. Thüringen: +63,8 Prozent auf 774,5. Sachsen: +48,3 Prozent auf 962,5. Sachsen-Anhalt: +47,2 Prozent auf 1.229,4.

 

Ausblick: Geht man davon aus, dass die vier Länder mit Minus-Entwicklung diesen Weg, wenn auch langsam, fortsetzen in der nächsten Woche und gleichzeitig die zweite Gruppe im Trend allmählich gegen null geht beim Wachstum, so ist realistisch anzunehmen, dass die vom RKI gemeldete bundesweite 7-Tages-Inzidenz demnächst (zunächst nur leichte) Rückgänge gegenüber der Vorwoche zeigen könnte. Die absoluten Werte sollte man dabei aber wie gesagt nicht ernst nehmen. 

 

 

2. Die Omikron-Infizierten werden im Schnitt wieder älter

Es ist ein sattsam bekanntes Phänomen. Weil die absoluten Inzidenzen bei den Kindern und Jugendlichen deutlich höher liegen, wird in der Öffentlichkeit überproportional über sie diskutiert. Obwohl ihre Werte wegen der Pflichttests in den Schulen (und nun auch in vielen Kitas) nicht wirklich vergleichbar sind mit denen der Erwachsenen. Obwohl bei ihnen die gemeldeten Neuinfektionen, was viele bei genauerem Hinschauen immer wieder überrascht, keineswegs dynamischer zunehmen als bei den Älteren – kurzfristig ja, aber nicht im langfristigen Trend. So lag der Anteil der  5- bis 14-Jährigen an allen neuen Corona-Fällen im Spätsommer bei 22 Prozent. Vor den Weihnachtsferien bei gut 20 Prozent. Er stieg nach den Weihnachtsferien, als die Pflichttests wieder begannen, auf 23,4 Prozent – und ging in der vergangenen Kalenderwoche nach vorläufigen Zahlen auf 22,4 Prozent zurück. 

 

Die für die Beurteilung der Lage viel wichtigere Entwicklung bei den über 60-Jährigen wird dabei seltsamerweise oft ausgeblendet. Dabei sind sie es, die auch zuletzt noch fast 50 Prozent aller Krankenhaus-Einweisungen stellten. Im Verlauf der Pandemie waren es oft zwei Drittel und mehr. Und bei den gemeldeten Neuinfektionen zeigt sich bei den Älteren aktuell ein unguter Trend. Der Anteil der 60- bis 79-Jährigen an allen neuen Corona-Fällen stieg in der vergangenen Kalenderwoche stark überproportional von 6,0 auf 6,6 Prozent. Der Anteil der über 80-Jährigen von 1,5 auf 1,8 Prozent. Das ist viel. Die Frage ist, was das für die Situation in den Krankenhäusern in den nächsten Wochen bedeutet.

 

Ausblick: Dass Corona-Wellen bei den jüngeren Jahrgängen beginnen und die älteren tendenziell etwas später erreichen, ist nicht neu. Insofern dürfte sich dieser Trend zunächst fortsetzen. Falls die Zahl der Neuinfektionen gesamtgesellschaftlich stagnieren oder in etwa einer Woche sogar fallen sollte, könnte dies einen wachsenden Anteil Älterer an den Neuinfektionen kompensieren, so dass ihre Zahl absolut nicht mehr so stark steigt. Das wäre gut. 

 

 

3. Gemischte Bilanz in den Krankenhäusern

Oft hört man, Omikron sorge für weniger Belastung in den Krankenhäusern, und das stimmt auf jeden Fall, wenn man sich das Risiko einer einzelnen Person anschaut, wegen einer Corona-Infektion stationär behandelt werden zu müssen. Es liegt um etwa das 3,5-Fache niedriger als bei Delta. Die gemeldeten absoluten Infektionszahlen liegen aber inzwischen auch fast fünfmal so hoch wie auf dem Höhepunkt der Delta-Welle. Und die gemeldeten Krankenhaus-Einweisungen je nach Bundesland über dem Höchststand von Delta.

 

Trotzdem: Bei den sehr schweren Fällen, die auf Intensivstationen behandelt werden müssen, ist die Entwicklung (angesichts der Rekord-Inzidenzen) immer noch erstaunlich positiv. Gestern betrug die bundesweite Zahl der Corona-Intensivpatienten 2.375. Das waren 3,3 Prozent mehr als vor einer Woche und gut fünf Prozent mehr als der einige Tage davor erreichte vorläufige Tiefpunkt in diesem Winter. Zum Vergleich: Gestern vor einem Jahr lag die bundesweite Inzidenz bei den Neuinfektionen bei 76. Die Zahl der Intensivpatienten aber bei 3.933 (damals allerdings Tendenz fallend). 

 

Zum geringeren individuellen Risiko durch Omikron kommt im Vergleich zum Vorjahr die Wirkung der Impfungen und vor allem der Booster. Und das, obwohl die Gesellschaft trotz aller geltenden Corona-Maßnahmen viel offener ist als vor einem Jahr. Ein beeindruckender Erfolg der Forschung. 

 

Stärker im Anstieg befanden sich allerdings wie gesagt die Zahlen auf den Normalstationen. Was nur zum Teil daran liegt, dass die Statistik hier nicht richtig unterscheidet zwischen Patienten mit einer schweren Covid-19-Erkrankung und solchen, die zwar Corona-positiv, aber mit einer anderen Hauptdiagnose im Krankenhaus sind. So registrierte das RKI für Kalenderwoche 3 zum Beispiel 272 corona-positive 5- bis 14-Jährige auf Station. Bei einer Altersgruppen-Inzidenz von gut 2300 in der Woche müssten aber schon ohne Blick auf die Symptome statistisch 350 bis 400 eingewiesene Kinder und Jugendliche positiv gewesen sein. Was zumindest für ihre Altersgruppe sehr in Frage stellt, was die Krankenhaus-Statistik derzeit tatsächlich aussagt.

 

Fest steht: Der Anteil der 0- bis 14-Jährigen an allen gemeldeten Hospitalisierten lag zuletzt bei rekordverdächtigen 10,9 Prozent – mehr als doppelt so viel wie im langfristigen Trend. Allerdings stieg der Anteil zuletzt kaum noch. Was leider umso stärker für die 60- bis 79-Jährigen (von 23,7 auf 24,3 Prozent) und die über 80-Jährigen (22,2 auf 23,1 Prozent) galt. 

 

Ausblick: Die Anteile der Älteren an allen Krankenhaus-Einweisungen liegen zum Glück noch deutlich unter ihren Höchstwerten in der Delta-Welle. Doch dürften sie allein wegen ihrer Inzidenz-Entwicklung in den kommenden Wochen weiter steigen. Ob das bedeutet, dass demnächst auch entsprechend mehr schwer kranke über 60-Jährige im Krankenhaus sind, ist offen – aber leider durchaus wahrscheinlich. 

 

 

4. Jetzt mal langsam

Erste Bundesländer rücken von 2G im Einzelhandel ab, Bayern will die Stadien füllen. Während die Ministerpräsidenten auf Lockerungen drängen, bremst der Bund noch. Gut so. Es ist noch zu früh, um die gesamtgesellschaftlichen Folgen der Omikron-Welle voll abschätzen zu können. Deshalb sollten wir alle noch ein wenig Geduld haben. Allerdings nicht mehr allzu lange. Sollte Mitte Februar tatsächlich der Scheitelpunkt bei der Inzidenz erreicht sein, werden wir Ende Februar wissen, wo wir stehen. Und dann ist eine ernsthafte Inventur der geltenden Corona-Regeln angesagt. Aber erst dann. 



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