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Revolution nach EU-Art

"Klasse statt Masse" will Brüssel als neuen Grundsatz wissenschaftlicher Leistungsbewertung etablieren. Bringt Europa endlich die Lösung für ein Problem, was die Scientific Community seit langem umtreibt?

Ausschnitt aus dem "Pariser Aufruf". Screenshot der Online-Version.

EINES DER GÄNGIGSTEN VORURTEILE gegenüber der EU lautet, dass in Brüssel ein Haufen Technokraten viel Papier und immer neue Regeln produzieren, die das Leben selten besser, aber stets komplizierter machen. 

 

Die Wahrheit ist: Das mit dem Papier und der Komplexität mag stimmen, aber als Ergebnis entstehen, auch bezogen auf Bildung und Wissenschaft, manchmal echte Revolutionen. Erasmus zum Beispiel als weltweit bekanntestes Austauschprogramm mit Legendenstatus. Oder der European Research Council (ERC), der innerhalb weniger Jahre zu einem weltweit begehrten Flaggschiff internationaler Exzellenz-Förderung geworden ist. 

 

Was derzeit von EU-Kommission, französischer EU-Präsidentschaft und führenden Forschungseinrichtungen vorangetrieben und von weiteren 200 unterstützt wird, passt gut in dieses Schema. Ein Prozess, den man in der Verschachtelung seiner Beteiligungsformate und Stufen kaum in wenigen Sätzen erklären kann. Aber die Ambitionen dahinter sind gewaltig. Am Ende könnte tatsächlich eine Reform wissenschaftlicher Leistungsbewertung stehen, die viele seit Jahren für überfällig halten, die es aber dennoch nie über den Stand wohlklingender Sympathiebekundungen hinaus geschafft hat.   

 

Wissenschaftlerkarrieren werden immer noch zu einem großen Teil über die Höhe der eingeworbenen Forschungsfördergelder (=Drittmittel) und die Zahl der Publikationen und Zitationen in möglichst hoch gerankten wissenschaftlichen Journals gemacht. Wobei beides eng miteinander verknüpft ist: Wer viel zitiert wird und viel publiziert, hat bessere Chancen, Drittmittel-Anträge bewilligt zu bekommen. Womit er oder sie wieder mehr Stoff zum Publizieren hat. 

 

Eine demographische
und inhaltliche Verengung

 

In solch ein System hinein kommt nur, wer sich von morgens bis abends und, wann immer nötig, nachts auf seinen Job konzentrieren kann und nebenher möglichst keine Kinder oder Angehörige versorgen muss. Und wer noch dazu möglichst wenig Zeit auf Hochschullehre, Wissenschaftskommunikation oder andere Formen des Engagements an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft verwendet. 

 

Dass das zu einer demographischen wie auch inhaltlichen Verengung führt, liegt auf der Hand. Nur hat das lange in der Wissenschaft kaum jemanden gestört, weil es ja dem verengten Blickwinkel derjenigen entsprach, die es oft genau auf diese Weise in Führungspositionen geschafft hatten. 

 

In den vergangenen Jahren gab es immerhin einen rhetorischen Umschwung, Tenor: Wir brauchen mehr Diversität in der Wissenschaft, denn nur dann ist sie in der Lage, kreative Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit zu finden. Deshalb müssen wir die Leistungsbewertung ändern. 

 

Passiert ist aber wenig. Weil das Nutzen von Metriken so schön einfach ist. Und weil keiner die Initiative zum Verändern übernahm. Bis jetzt. 

 

Auf den tatsächlichen Impact der

Forschungsergebnisse schauen

 

Erstmals im März 2021 haben Wissenschaftler und Wissenschaftsorganisationen, organisiert von der EU-Kommission, darüber beraten, wie sich die angestrebte Reform so bewerkstelligen lässt, dass sie am Ende nicht nur auf dem Papier steht. Auf der Grundlage des dabei entstandenen Kommissions-Reports geht es jetzt weiter. Schritt 1: Alle Forschungs- und Fördereinrichtungen, die mitmachen wollen bei der Umsetzung der Reform, wurden aufgefordert, sich zu melden. Über 200 sind dem bereits gefolgt.

 

Schritt 2: Um den öffentlichen Erwartungsdruck zu erhöhen, veröffentlichte die "Paris Open Science Conference", unterstützt von der französischen EU-Präsidentschaft, Anfang Februar den "Paris Call on Research Assessment", Hauptforderung: Forschende nicht mehr über die Zahl ihrer vielzitierten Paper zu bewerten, sondern neue qualitative Maßstäbe zu finden, die auf den tatsächlichen Impact der Forschungsergebnisse schauen und auf die Art und Weise, wie sie zustande gekommen sind. 

 

Ein Team aus EU-Kommission, European University Association und Science Europe geht, Schritt 3, jetzt an die Arbeit und formuliert die konkreten künftigen Kriterien und Grundsätze – und die nächsten Schritte für die Umsetzung. Eng begleitet wird der Textentwurf von einer Kerngruppe europäischer Wissenschaftsorganisationen, zu denen für Deutschland die DFG und Helmholtz gehören. Noch im Frühling sollen dann möglichst viele Organisationen die fertige Vereinbarung als eine "Koalition der Willigen" unterzeichnen. Um anschließend mit der Implementierung zu beginnen.

 

DFG und Helmholtz:
"Wesentliche Fragen unklar"

 

Ob DFG und Helmholtz in der Kerngruppe nur mitmachten, um die Sache auszubremsen, ist in Medien spekuliert worden, weil sie nicht gleichzeitig auf der Liste der Unterstützer stehen. Die DFG erklärt auf Anfrage, man habe sich bisher nicht bei den Unterzeichnern des Aufrufs eingereiht, da "wesentliche Fragen unklar" seien, vor allem die Unabhängigkeit der Wissenschaft von der Politik und Konsequenzen einer Mitgliedschaft "hinsichtlich Reporting und Selbstverpflichtung".

 

Was zeigt, wie komplex der Prozess tatsächlich ist. Da muss die EU sich wohl treu bleiben. Vielleicht braucht es am Ende aber gerade die Brüsseler Methode, damit aus all den schönen Reden endlich eine Revolution werden kann.

 

Der Kommentar erschien heute zuerst in leicht kürzerer Fassung in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.



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Kommentare: 4
  • #1

    kaum (Montag, 21 Februar 2022 14:18)

    Ohne viel tiefer einzusteigen. Ich habe da so meine Zweifel, ob sich das Problem "wiss. Qualität zu erkennen ohne zu viel Aufwand zu betreiben" so einfach lösen lässt.
    Die schiere Masse an Forschung, Artikel und der notwendige Vergleich mit Anderen macht die Quantifizierbarkeit und Standardisierung der Forschungsaktivitäten ja erst so wichtig und attraktiv.
    Zumal es weiterhin gute Gründe gibt, warum Drittmittel und Publikationen so im Vordergrund stehen. Diese guten Gründe kann man nicht einfach abschaffen oder ignorieren.
    Ich bin auf jeden Fall gespannt, aber skeptisch, ob diese Art der Revolution gelingen kann.
    Ich wäre ja eher für bessere Grundaustattung für alle und nicht nur Max-Plancks... - was das Problem der Selektion natürlich nicht ändert...

  • #2

    Michael Zacherle (Montag, 21 Februar 2022 14:31)

    Bereits am 25. März 2020 hat die Europäische Kommission in ihrer Ausschreibung für Ergänzungsprojekte im Bereich Forschung für die "Europäischen Universitäten" folgendes Modul zur Bearbeitung vorgeschlagen: "The support will focus on the following indicative list of modules in the field of research and innovation: [...] (2) strengthening human capital, enabling balanced brain circulation and gender balance".
    Mehrere Europäische Universitäten haben unabhängig voneinander den Weg gewählt, hier zu einer neuen Bewertung von Forschenden und ihrer Ergebnisse und Karrieren kommen zu wollen. Das ist wohl auch einer der Gründe, warum die Kommission hier schon auf diese Vorarbeiten aufbauen kann.

  • #3

    Na ja (Dienstag, 22 Februar 2022 00:24)

    Die o.g. "Hauptforderung: Forschende nicht mehr über die Zahl ihrer vielzitierten Paper zu bewerten, sondern neue qualitative Maßstäbe zu finden, die auf den tatsächlichen Impact der Forschungsergebnisse schauen und auf die Art und Weise, wie sie zustande gekommen sind."

    ist doch eine seltsame Angelegenheit. Wie soll denn der "tatsächliche Impact" festgestellt werden, und inwiefern bedeutet mehr "Impact" auch bessere wissenschaftliche Leistung. Am positiven Zusammenhang von "Impact" und wiss. Leistung darf man zweifeln.

    Ebenso darf bezweifelt werden, dass die Art und Weise, wie Forschungsergebnisse zustande kommen etwas aussagt über die wissenschaftliche(!) Qualität der Ergebnisse.

    Schliesslich heisst es oben: "Wir brauchen mehr Diversität in der Wissenschaft, denn nur dann ist sie in der Lage, kreative Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit zu finden." Diversitaet von was oder wem? Was auch immer gemeint ist, in dieser Pauschalieret taugt die Aussage nicht viel. Einen kausalen Zusammenhang von Diversitaet und wiss. Qualität gibt es nicht.

    Insgesamt scheint das Ganze Vorhaben weniger mit Forschungsqualität als vielmehr mit "richtiger Gesinnung" zu tun zu haben.

  • #4

    Gerhard Duda (Mittwoch, 23 Februar 2022 16:37)

    Die Brüsseler Methode hatte eigentlich schon Jean-Claude Juncker, der ehemalige Präsident der EU-Kommission, abschließend definiert: "We decide on something, throw the results into the room, wait and see what happens. If we hear no outcries of protest – and we won’t because people outside of Brussels have no idea what was decided – then we go on, step by step, until there is no turning back."
    Im Übrigen weise ich darauf hin, dass die EUA und Science Europe lediglich die "Koalitionserklärung" verfassen sollen, die die Gemeinschaft der an dem Reformprozess interessierten Organisationen vereinigt. Erst danach beginnt die eigentliche Arbeit an neuen Indikatoren für die Forschungsleistungsmessung, die dann den Praxistest bestehen müssen - also: "step by step"!