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Kein Interesse an mehr Daten

Das Bundesgesundheitsministerium sieht auch unter Karl Lauterbach keine Notwendigkeit für ein bevölkerungsrepräsentatives Corona-Sample. Dabei hat der Mangel an verlässlichen Zahlen weitreichende Folgen.

Foto: Pxhere

DAS BUNDESGESUNDHEITSMINISTERIUM ist auch unter neuer Leitung nicht der Auffassung, dass es in Deutschland einen grundsätzlichen Mangel an verlässlichen Daten zur Corona-Pandemie gibt. "Ein gesichertes Bild des Infektionsgeschehens und der in der Bevölkerung vorhandenen Immunität wird in Deutschland über ein Bündel an Surveillance-Tools und Erhebungen erreicht", teilte das Ressort von Karl Lauterbach (SPD) in einer aktuellen Fragestunde des Bundestags mit. Weshalb die Bundesregierung auch aktuell keine repräsentativen Stichprobentestungen nach britischem Vorbild plane. 

 

Das "COVID-19 Infection Survey", gestartet im April 2020 von der britischen  Statistikbehörde ONS und unter anderem der Universität Oxford, testet Tausende Menschen jeden Alters (über zwei) und sozialer Herkunft, die über ganz Großbritannien verteilt leben, mindestens einmal im Monat per PCR. Zusätzlich wird bei über 16-Jährigen das Blut auf Antikörper als Zeichen einer durchgemachten Infektion untersucht. Insgesamt sollen sich immer um die 150.000 Menschen in dem Langzeit-Sample befinden.

 

Neue landesweit repräsentative Zahlen gibt es so alle zwei Wochen, und die Qualität der Studienergebnisse ist so gut, dass deutsche Wissenschaftler und Gesundheitspolitiker laufend auf britische Daten Bezug nehmen und in die deutsche Corona-Debatte einspeisen. Immer wieder tat das in der Vergangenheit auch Karl Lauterbach persönlich.

 

Unzuverlässige Prognosen und 
hochkochende Debatten

 

Umso mehr erstaunt, dass der neue Gesundheitsminister keinen Bedarf für eine grundsätzlich besseren Datengrundlage für das deutsche Pandemie-Monitoring zu sehen scheint. Denn obwohl viele Experten und Statistiker seit Beginn der Pandemie ein ähnliches Sample auch für Deutschland gefordert hatten, wird hierzulande bis heute nicht regelmäßig alle paar Wochen ein zufällig ausgewählter Ausschnitt der Bevölkerung auf eine aktuelle oder durchgemachte Corona-Infektion hin untersucht. 

 

Mit weitreichenden Folgen: Das Fehlen eines regelmäßigen Corona-Panels in der Bundesrepublik führt nicht nur dazu, dass sich die künftige Dynamik der Pandemie schlechter vorhersagen lässt, weil alle quantitativen Trendprognosen und Modelle so zwangsläufig auf den vorhandenen – lückenhaften, von Testhäufigkeiten und -kapazitäten verzerrten – Meldedaten aufsetzen müssen. Auch besteht ein unvollständiger, je nach Fragestellung an Unwissenheit grenzender Kenntnisstand über die tatsächlichen Infektionsraten abhängig etwa vom Alter, dem beruflichen Umfeld, bestimmten Vorerkrankungen, dem Impfstatus oder dem Wohnort. 

 

Wenn man sich die Debatten der vergangenen Monate anschaut, sieht man, wozu das führt: zu Streit und hochkochenden Debatten in den sozialen Medien. Zum Beispiel über die Frage, ob tatsächlich Kinder und Jugendliche stärker von Infektionen betroffen sind als Erwachsene. Vielleicht infizieren sich Kinder und Jugendliche gar nicht stärker, sondern die höheren Inzidenzen erklären sich dadurch, dass sie häufiger, da verbindlich, getestet werden?

 

Gäbe es ein repräsentatives Sample, ließen sich solche Fragen statistisch sauber beantworten. Dann wäre auch klar, welche Rolle Präsenzunterricht im Infektionsgeschehen spielt im Vergleich zu Ferien, aber auch zu Büros, Restaurants und anderen Orten. Zudem ließe sich mit Sicherheit sagen, wieviel seltener Geimpfte sich anstecken als Ungeimpfte, abhängig wiederum vom Alter, und wie viele schwere Erkrankungen und Todesfälle daraus folgen. Und wie sich das altersbezogene Risiko durch Corona (und dessen Folgeerscheinungen) zum Risiko anderer schwerer Erkrankungen verhält – aber auch zu den Auswirkungen von Corona-Maßnahmen.

 

All das lässt sich anhand der deutschen Melde-Daten zurzeit höchsten schätzen, nicht aber verlässlich einschätzen. Weshalb, siehe oben, als Ersatz immer wieder britische Daten herangezogen werden. Oder dänische, da der Nachbar im Norden ebenfalls über ein ausgezeichnetes Pandemie-Monitoring verfügt und in der Vergangenheit pro Woche teilweise fast so viele PCR-Tests durchführte wie Deutschland (bei gut 7 Prozent der Bevölkerung) – und diese auch noch viel häufiger auf Virusvarianten sequenziert. 

 

Forscher fordern seit zwei
Jahren ein Corona-Panel

 

Der ständige Rückgriff auf dänische oder britische Daten macht die deutsche Hilflosigkeit nur noch offensichtlicher: Denn was helfen die hochwertigen Daten anderer europäischer Staaten, wenn sie auf gesellschaftlichen, sozialen und medizinischen Strukturen sowie auf einer Corona-Eindämmungspolitik (oder deren Abbau) beruhen, die ganz andere sind als hierzulande?

 

Weshalb Forscher wie Gabriel Felbermayr, der frühere Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), schon im März 2020 "repräsentative Corona-Tests zur Eindämmung der Unsicherheit" gefordert hatten. Alle fünf Tage müsse eine für die Gesamtbevölkerung repräsentative Stichprobe auf eine Corona-Infektion getestet werden, erläuterte Felbermayr damals. Denn: "Je weniger sicher man den Anteil der infizierten Menschen in der Bevölkerung kennt, desto umfangreicher müssen vorbeugende Maßnahmen ausfallen, um das Risiko eines überlasteten Gesundheitswesens einzudämmen." Ein Jahr später hieß es immer noch aus dem IfW,  die mangelnde systematische Datenerhebung und -auswertung sei ein Problem für die (wirtschafts)politischen Entscheidungen in dieser Pandemie. Warum die Gelegenheiten zum Aufbau eines solchen Panels ausgelassen worden seien, "ist auch für uns nur schwer nachvollziehbar".

 

Doch das Bundesgesundheitsministerium beharrt auch in seiner der jüngsten Antwort auf eine Anfrage aus der Linkfraktion darauf, dass es keinen systematischen Datenmangel gebe. So analysiere das Robert-Koch-Institut (RKI) "fortlaufend verschiedene Datenquellen, um die Lage in Deutschland so genau wie möglich erfassen und einschätzen zu können". Als Beispiel nennt das Ministerium, vertreten durch seine parlamentarische Staatssekretärin Sabine Dittmar, dann aber als erstes die offiziellen Meldedaten – und "Informationen aus dem bestehenden Surveillance-Systemen (zu akuten Atemwegserkrankungen und zu Laborergebnissen)".

 

Dabei handelt sich jedoch entweder um relativ kleine Stichproben, die keine repräsentativen Aussagen zu Alter, Berufsumfeld & Co zulassen – oder nur um Erkenntnisse über Menschen, die ärztlich behandelt werden oder sich, warum auch immer, von sich aus testen lassen. 

 

Repräsentative Daten
aus dem November 2021

 

Außerdem verweist das Gesundheitsministerium auf Projekte und Studien, die das RKI zu Corona durchführt, auch in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftseinrichtungen. Solche ergänzenden Studien, die das RKI mache erlaubten "verlässliche Aussagen" über die aktuelle Infektionslage und über den Anteil der Bevölkerung, die bereits eine Infektion durchgemacht hätten. 

 

Ein Blick auf die RKI-Website, auf der das Institut laufende Antikörperstudien aufführt, zeigt indes: Die einzige Studie, die bislang wirklich repräsentative und vergleichende Aussagen über die Gesamtbevölkerung (ohne Kinder) treffen kann, "Leben in Deutschland – Corona-Monitoring", findet nur einmal im Jahr statt und erreicht mit 28.000 Teilnehmern nur knapp ein Fünftel der Größe, die das "COVID-19 Infection Survey" jeden Monat schafft. Zumal diese 28.000 Teilnehmer nur auf eine durchgemachte Infektion getestet werden – nicht auf eine aktuelle. Die Ergebnisse der zweiten Runde sollen "im ersten Halbjahr 2022" vorliegen. Sie werden dann Daten enthalten, die teilweise noch aus dem November 2021 stammen. 

 

Und während die Ergebnisse des "COVID-19 Infection Survey" ständig aktuell auf leicht auffindbaren Websites präsentiert werden, muss man nach den Erkenntnissen aus der ersten Runde des Corona-Monitorings in Deutschland (Datenstand Ende 2020) lange suchen. Es gibt ein im Juni 2021 veröffentlichtes dreiseitiges Faktenblatt und einen nochmal viel später erschienen Aufsatz in einer Fachzeitschrift. 

 

Doch schon dessen wichtigste Aussage, dass es bis November 2020 nur 1,8-mal so viele Corona-Infizierte in Deutschland gab, wie sie den Gesundheitsämter offiziell gemeldet wurden, erscheint aktuell von keinerlei Nutzen mehr zu sein.

 

Eine enorme
deutsche Dunkelziffer?

 

Das demonstriert ein einfacher Vergleich mit dänischen Melde-Zahlen, die aufgrund der hohen Testdichte das Infektionsgeschehen sehr viel realistischer abbilden dürften. Bisher gemeldete Infektionen seit Pandemiebeginn in Dänemark: 2,58 Millionen. Registrierte Todesfälle: gut 4.300 (0,17 Prozent). In Deutschland: 13,64 Millionen gemeldete Indektionen und 121.300 Todesfälle – was einer Letalitätsrate entspricht, die mit 0,89 Prozent offiziell fünfmal so hoch ausfällt wie in Dänemark.

 

Dass dort die Impfquote mit 81,6 Prozent gut sechs Prozentpunkte höher liegt als in Deutschland (wobei deren Höhe dem RKI, noch so ein Datenproblem, nur ungefähr bekannt ist), mag dabei eine Rolle spielen. Vor allem aber dürfte der hohe Unterschied bei der Letalitätsrate eines bedeuten: eine enorme Dunkelziffer in Deutschland bei den Neuinfektionen. Deren derzeitiges Ausmaß aber wegen fehlender repräsentativer Studien komplett unbekannt ist.

 

Weshalb einen die aktuelle Einschätzung der Datenlage und -qualität aus dem Haus von Karl Lauterbach umso ratloser zurücklässt.

 

Immerhin scheint die Bundesregierung in der Frage nicht so geschlossen zu sein, wie es das jüngste Statement aus dem Bundesgesundheitsministerium zunächst suggeriert. Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) kommentiert auf Anfrage, Deutschland habe ein "fragmentiertes Gesundheitssystem, was es komplizierter als in manch anderem Land macht, für die Corona-Analyse umfassende Daten zu erheben". Deshalb sei sie überzeugt davon, dass zusätzlich zu den Meldungen von Krankenhäusern, Arztpraxen und Gesundheitsämtern Daten repräsentative Bevölkerungsstudien zu Corona nötig seien. "An der wissenschaftlichen Begleitung solcher Studien könnte sich auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung beteiligen. Deshalb möchte ich darüber mit Wissenschaftlern ins Gespräch kommen."




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Kommentare: 2
  • #1

    Lutz Stückrath (Dienstag, 22 Februar 2022 11:50)

    Diese Tatsache erschüttert mich. Heute morgen wurde der
    Herr Lauterbach im Fernsehen vom Moderator ziemlich
    scharf befragt zu Fragen der Impfpflicht. Ich fand seine
    Antworten unglaublich unsouverän. Man fragt sich, ob der. Mann eine Fehlbesetzung ist. Schade!

  • #2

    Sarah Z. (Mittwoch, 23 Februar 2022 11:37)

    Ich finde höchst bedenklich, dass hier nicht längst gegengesteuert wurde, zumal Versäumnisse bei der Datentransparenz nicht nur epidemiologisch fahrlässig sind, sondern auch immer wieder Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Schutzmaßnahmen schüren. Sicher nicht der richtige Weg, um einen Großteil der Bevölkerung dauerhaft zur Akzeptanz der Maßnahmen zu motivieren. Statt dessen Wasser auf die Mühlen derjenigen, die ohnehin seitens der Regierung Mauschelei bis hin zu Verschwörung wittern. Gefährlich verschenktes Vertrauen!