Fachhochschule war gestern, Hochschule für Angewandte Wissenschaften ist heute: Warum die Namensänderung so wichtig ist und warum sie gerade nicht bedeutet, dass HAWs den Universitäten nacheifern. Ein Gastbeitrag von Karim Khakzar.
Karim Khakzar ist Präsident der Hochschule Fulda, Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz und Sprecher der HAWs in der HRK. Foto: Hochschule Fulda.
"WOLLT IHR DENN alle kleine Universitäten werden?" Diese fast schon reflexartige Frage müssen sich Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAWs) – oder Fachhochschulen (FHs), wie sie in einigen Bundesländern noch heißen – häufig anhören. Vor allem dann, wenn sie mehr Geld für die Forschung oder gar ein eigenständiges Promotionsrecht fordern.
Die 118 in der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) organisierten HAWs und FHs haben jetzt eine unmissverständliche Antwort gegeben: Nein, wollen wir nicht. Was wir sind und sein wollen, drückt die Entscheidung aus, die wir auf unserer jüngsten Mitgliederversammlung im November 2021 gefasst haben. Und zwar einstimmig: Unser Hochschultyp soll in Zukunft einheitlich "Hochschule für Angewandte Wissenschaften" (kurz HAW) heißen. Auch diejenigen Institutionen stimmten dafür, die sich selbst noch als Fachhochschule bezeichnen.
Unsere Mitgliedergruppe in der HRK verfolgt damit gleich mehrere Ziele. Zum einen geht es um eine bundesweite Vereinheitlichung, denn in den 16 Landeshochschulgesetzen werden derzeit unterschiedliche Hochschultypenbezeichnungen verwendet. Der Trend geht allerdings eindeutig in Richtung "HAW", und es wird erwartet, dass im Zuge anstehender Novellierungen sukzessive alle Landeshochschulgesetze angepasst werden. Als Hochschulen sind wir diesem Trend um einiges voraus, denn nur noch 10 der 118 tragen die Bezeichnung "Fachhochschule" im eigenen Namen.
Die neue Bezeichnung dokumentiert
eine bemerkenswerte Wandlung
Hinter dem einstimmigen Beschluss der Mitgliedergruppe steckt aber mehr als der Wunsch nach Vereinheitlichung. Die neue Bezeichnung soll in erster Linie die bemerkenswerte Wandlung dokumentieren, die unser Hochschultyp insbesondere nach der Bologna-Reform vollzogen hat. Mit dem etwas angestaubten Begriff der "Fachhochschule" verbinden viele noch immer eine auf die Lehre begrenzte Bildungseinrichtung, die im Rahmen eines verkürzten Studiums auf einen praktischen Beruf vorbereitet.
Das stimmte anfangs ja auch: Die ersten Fachhochschulen gingen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre aus höheren Fachschulen oder technischen Akademien hervor, die auf einige wenige Fächer beschränkt waren. Demgegenüber sind moderne HAWs fachlich viel breiter aufgestellt, durchaus vergleichbar mit Universitäten. Und während die Gründung der ersten Fachhochschulen vor gut 50 Jahren darauf abzielte, einen erheblichen Fachkräftemangel schnell, effektiv und kostengünstig zu beheben, gehen die Erwartungen an heutige HAWs weit darüber hinaus.
Heute stehen die HAWs für angewandte Lehre und Forschung und gleichzeitig für hohe Anforderungen an die Wissenschaftlichkeit. Unter dem Oberbegriff der sogenannten dritten Mission sind weitere Aufgaben hinzugekommen: Transfer, Weiterbildung, gesellschaftliches Engagement. Moderne HAWs sind daher mit den Fachhochschulen der frühen Jahre nicht mehr zu vergleichen.
Über eine Million Menschen
studieren an einer HAW
Die Geschichte der HAWs ist eine Erfolgsgeschichte. Sie erfreuen sich bei Studierenden großer Beliebtheit. Heute absolvieren in Deutschland über eine Million Menschen ihr Studium an einer HAW. Während die Gesamtzahl der Studierenden an Universitäten im Wintersemester 2021/22 laut Statistischem Bundesamt gegenüber dem Vorjahr um zwei Prozent gesunken ist, konnten HAWs einen Zuwachs von drei Prozent verzeichnen, so dass sich mittlerweile 40 Prozent aller Studienanfängerinnen und -anfänger für eine HAW entscheiden.
Mit Blick auf die demographische Entwicklung in Deutschland dürfte der Wettbewerb um die Studierenden im deutschen Hochschulsystem in Zukunft noch zunehmen.
Insofern ist nachvollziehbar, dass Universitäten um ihre besondere und privilegierte Stellung im Wissenschaftssystem bangen. Erst recht, wenn die HAWs nach einer angemessenen Beteiligung an der Forschungsförderung rufen oder gar das eigenständige Promotionsrecht für forschungsstarke Fachrichtungen für sich beanspruchen. Nicht selten bekommen Vertreterinnen und Vertreter von HAWs dann zu hören: "Schuster bleib bei Deinen Leisten!" Es folgt in der Regel der Hinweis, dass in unserem zweigeteilten Hochschulsystem seit über 50 Jahren jeder seine Rolle und Aufgaben habe (und dies auch bitte so bleiben möge).
Dabei ist offensichtlich, dass sich unser Hochschulsystem aus guten Gründen seit Jahrhunderten in einem ständigen Wandel befindet und an die gesellschaftlichen Anforderungen anpassen muss. Darauf wies der Wissenschaftsrat schon in einer Empfehlung zur Differenzierung der Hochschulen aus dem Jahr 2011 hin. Er resümierte: "Ein restriktives Verständnis der Typenzuordnung ist nicht mehr zeitgemäß und verhindert die Weiterentwicklung einzelner Hochschulen, ganzer Hochschultypen sowie des Hochschulsystems insgesamt."
Tatsächlich hat sich nicht nur der Hochschultyp HAW enorm weiterentwickelt, sondern die gesamte deutsche Hochschullandschaft ist diverser und komplexer geworden. Weshalb dem Wissenschaftsrat zuzustimmen ist: Die binäre Typendifferenzierung mit einer klaren Trennung und Aufgabenteilung zwischen Universitäten und HAWs ist nicht mehr zeitgemäß.
Hessen machte den Anfang beim Promotionsrecht,
Sachsen-Anhalt folgte, weitere Länder ziehen bald nach
Seit der Umstellung auf Bachelor und Master-Studiengänge im Zuge der Bologna-Reform sind die Abschlüsse von HAWs denen an Universitäten gleichgestellt. Der Master-Abschluss einer HAW berechtigt zur Promotion, auch im öffentlichen Dienst wird bei den Abschlüssen nicht mehr nach dem Hochschultyp unterschieden.
Zu den Errungenschaften der Bologna-Reform zählt zweifelsfrei, dass diese Gleichstellung der Abschlüsse zu einer deutlich höheren Durchlässigkeit im deutschen Hochschulsystem geführt hat. Darüber hinaus haben seit vielen Jahren alle 16 Landeshochschulgesetze den HAWs den gesetzlichen Auftrag erteilt, angewandte Forschung zu betreiben. Konsequenterweise hat Hessen seinen HAWs bereits vor gut fünf Jahren die Möglichkeit eingeräumt, das eigenständige Promotionsrecht für forschungsstarke Fachrichtungen zu erwerben. Sachsen-Anhalt folgte dem hessischen Vorbild 2021, und in mehreren weiteren Bundesländern steht die Einführung des eigenständigen Promotionsrechts für HAWs kurz bevor.
Ähnlich wie vor gut 120 Jahren, als die technischen Hochschulen gegen den heftigen Widerstand der traditionellen Universitäten das eigenständige Promotionsrecht für die Ingenieurwissenschaften erkämpften, wird sich auch das Promotionsrecht an forschungsstarken HAWs etablieren. Diese Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten.
Steuern wir deshalb im deutschen Hochschulsystem auf die Einheitshochschule zu, wie Kritiker immer wieder provokant fragen? Mitnichten! Wir beobachten in den vergangenen Jahren sogar eine weitere Ausdifferenzierung, sowohl innerhalb der Gruppe der Universitäten als auch der HAWs – politisch gefördert und verstärkt durch die eigenen Profilierungsbestrebungen der Hochschulen. So soll beispielsweise die Exzellenz-Strategie von Bund und Ländern gezielt den Wettbewerb innerhalb der Gruppe der Universitäten forcieren und unterschiedliche Forschungsstärken transparent und sichtbar machen.
Praxisnähe in der Lehre,
Anwendungsbezug bei Forschung und Transfer
Zurück zur Ausgangsfrage: Wenn es nicht das Ziel der HAWs ist, kleine Universitäten zu werden, wofür stehen sie dann, was macht sie besonders?
Das besondere Profil der HAWs ist nach wie vor geprägt durch ihre große Praxisnähe in der Lehre und einen ausgeprägten Anwendungsbezug bei Forschung und Transfer. Folgerichtig bringen die Professorinnen und Professoren an HAWs in der Regel eine Doppelqualifikation mit und müssen sowohl in Forschung und Wissenschaft als auch in der beruflichen Praxis ausgewiesen sein. Im Vergleich zu Universitäten findet man zudem HAWs viel häufiger in mittelgroßen Städten und in eher ländlich geprägten Regionen. Angewandte Forschung und Transfer finden meistens in Kooperation mit kleinen und mittleren Unternehmen und regionalen Einrichtungen aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich statt. Damit unterstützen HAWs Innovationen und Transfer in der Breite, komplementär zur Grundlagen- und Spitzenforschung an Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen.
Zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit und des Wohlstandes in unserem Land brauchen wir auch zweifelsfrei beides. Allerdings ist die Umsetzung von neuen Erkenntnissen in konkrete Anwendungen und Produkte immer wieder als Schwachpunkt im deutschen Wissenschaftssystem identifiziert worden. Eine häufig genannte Ursache hierfür ist eine Lücke in unserem Forschungsfördersystem: Während die überwiegend erkenntnisgetriebene Forschung an Universitäten und außeruniversitären Einrichtungen mit Milliardenbeträgen gefördert wird, mangelt es an entsprechend ausgestatteten Programmen für die angewandte Forschung und den Transfer, die insbesondere den HAWs zugutekämen. Darauf hat die Mitgliedergruppe der HAWs in der HRK immer wieder hingewiesen. Bereits seit 2016 fordert sie regelmäßig die Gründung einer Deutschen Transfergemeinschaft (DTG), in Anlehnung an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG).
Mit der Gründung einer Deutschen Agentur für Transfer und Innovation, kurz DATI, verfolgt die neue Bundesregierung genau diesen Weg. Die DATI soll insbesondere HAWs sowie kleine und mittlere Universitäten unterstützen. Doch auch wenn sie richtigerweise für alle Hochschultypen offen sein sollte: Es muss unter allen Umständen sichergestellt sein, dass die HAWs einen fairen und ihre besonderen Rahmenbedingungen berücksichtigenden Zugang zu den Fördermitteln erhalten. Und nicht nur das. In den ersten Jahren sollte garantiert werden, dass ein Großteil der Fördermittel auch tatsächlich bei den HAWs landet.
Streit um die
neue Agentur
Konflikte sind schon jetzt vorprogrammiert: Große forschungsstarke Universitäten haben mit Hinweis auf ihre mitunter ebenfalls anwendungsorientierte Forschung bereits Ansprüche angemeldet und sehen, nicht ganz überraschend, eine Priorisierung von HAWs sowie kleinen und mittleren Universitäten kritisch. Entscheidend ist jedoch jetzt, dass das Innovationspotenzial der HAWs mit ihren inzwischen über 20.000 Professuren zum Tragen kommen kann.
Erfreulich und wichtig ist dafür in jedem Fall, dass die neue Agentur sowohl technische als auch soziale Innovationen in den Blick nimmt. Alles in allem bleibt sehr zu hoffen, dass auf Basis des verabschiedeten Koalitionsvertrags eine sehr viel ausgewogenere Verteilung von Fördergeldern auf die Hochschultypen erfolgt und damit Innovationen in der Breite einen deutlichen Schub erfahren.
Noch eine letzte Anmerkung zu der Frage: "Wollt Ihr denn alle kleine Universitäten werden?" Man könnte meinen, es handele sich hier um eine typisch deutsche Problematik. Tatsächlich stellt sich diese Frage im englischsprachigen Raum in der Regel nicht. Die offizielle englische Übersetzung des Begriffs HAW lautet "University of Applied Sciences". Auch genießen die deutschen HAWs auf europäischer Ebene große Anerkennung.
Schon seit 2008 können sie Vollmitglieder in der Europäischen Universitätsvereinigung, der European University Association, werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich Großbritannien genau mit der Frage der Typenbezeichnung befasst hat – allerdings bereits vor 30 (!) Jahren. Seinerzeit wurde entschieden, dass die polytechnischen Hochschulen ("polytechnics"), die in ihrer damaligen Ausrichtung mit den alten Fachhochschulen hierzulande vergleichbar waren, ab 1992 in "universities" umbenannt werden. Durchaus denkbar, dass wir in Deutschland in ferner Zukunft von "Universitäten für Angewandte Wissenschaften" sprechen?!
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Armin Birk (Mittwoch, 23 Februar 2022 15:02)
Beim Lesen des letzten Satzes des Gast-Beitrags dachte ich mir umgehend: Da möchte der Autor sein Blatt wohl bewusst überreizen. Auch die Einschränkung "in ferner Zukunft" macht diese Ansage nicht besser und eine Trotzreaktion ist nicht nur erwartbar, sondern - meinem Gefühl nach - soll gerade zu provoziert werden. Betrachtet man den Artikel in seiner Gesamtheit, schadet der Autor manch wohlformuliertem Argument damit letztlich nur. Schade, eigentlich.
na ja (Mittwoch, 23 Februar 2022 15:12)
Mich würde einmal interessieren, ob diese permanent in der Öffentlichkeit vorgetragene Profilneurose der HAWs eine Sache des wissenschaftlichen Personals ist oder nur ein Problem der Hochschulleitungen.
Otfried Darbrock (Mittwoch, 23 Februar 2022 15:19)
Die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen an den HAWK
schätze ich schon sehr, zumal einige meiner Absolventen und Absolventinnen dort gelandet sind und sehr gute Arbeit leisten. Die Vision von "Universitäten für angewandte Wissenschaften" erfüllt mich aber mit Grausen. Das möge bitte niemals so werden.
Ruth Himmelreich (Donnerstag, 24 Februar 2022 09:57)
Leider ist es so, dass durch vielerlei Wiederholungen falscher Tatsachen sich in der Öffentlichkeit der Eindruck verfestigt, es wäre so. Das gilt vor allem für die Behauptung, die HAW würden so ausgiebig und viel mehr als die Unis angewandt forschen. Schon wenn man sich die Aufschlüsselung der Drittmittel aus der Wirtschaft nach Hochschulart anschaut (bei denen man das beliebte Argument nicht ziehen kann, die HAW würden schon von der missgünstigen universitären Gutachterriege bei den Anträgen ausgebootet), stellt man fest, dass die Unis bereits summenmäßig deutlich mehr Projekte mit der Wirtschaft durchführen als die HAW-Seite.
Der Autor hat zwar recht, dass es in diesem Land an Mitteln für den Transfer fehlt, aber es fehlt vor allem an Mitteln für den Transfer von Erkenntnissen der Spitzenforschung in die Wirtschaft. Und daher ergibt es keinen Sinn, wenn man Institutionen der Spitzenforschung von der Beantragung solcher Mittel ausschließt. Persönlich finde ich, wir sollten zusehen, viele weitere "Biontechs" zu fördern, als sich auf Gründungsaktivitäten wie diese hier zu konzentrieren, die selbstverständlich ihren Sinn haben, aber Deutschland im internationalen Wettbewerb nicht erheblich weiterbringen:
"Ein Team der HAW X hat einen rundum nachhaltigen Weihnachtsstern entwickelt und auf den Namen Frieda Freude getauft."