· 

"Die meisten Katastrophenfilme beginnen mit Wissenschaftlern, deren Warnungen von der Politik ignoriert werden"

Waren die Regierungen in der Coronakrise nicht in der Lage, die Botschaft der Wissenschaft aufzunehmen? Und wenn ja, woran lag das? Ein internationaler Aufruf junger Wissenschaftler fordert Konsequenzen – für die Politik, für die Wissenschaft und für die Karriereförderung.

Website der Young Scientists im World Economic Forum (Screenshot).

DAS WELTWIRTSCHAFTSFORUM (WEF) gilt allgemein nicht gerade als Ansammlung von Nachwuchstalenten und seine Jahreskonferenz in Davos als Schaulaufen meist älterer und vorwiegend männlicher Spitzenpolitiker und Wirtschaftslenker. Oder solcher, die sich dafür halten. Die sich dann gern von den hunderten anwesenden Lobbyisten hypen lassen. 

 

Umso mehr mag überraschen, dass das WEF schon seit 2008 jedes Jahr etwa zwei Dutzend Wissenschaftler unter 40 in seine wachsende Community sogenannter "Young Scientists" beruft. Aus unterschiedlichen Disziplinen und Weltregionen stammend, bilden sie ein globales Netzwerk, das als Gegenstück zum Club der Arrivierten wirken soll, inklusive einer eigenen Jahreskonferenz, dem "Annual Meeting of the New Champions" in China. 

 

Gut 50 dieser Young Scientists hatten sich für das Treffen der Alten in Davos eine besondere Botschaft vorgenommen, formuliert in einem dreiseitigen Offenen Brief, den sie bei der WEF-Jahreskonferenz Ende Januar vorstellen wollten. Doch dann wurde die zum zweiten Mal in Folge abgesagt – wegen der Omikronvariante. 

 

Dabei hätte die Botschaft der Young Scientists gerade zu Omikron und dem gesellschaftlichen und politischen Umgang mit der Pandemie hervorragend gepasst: Nur wissenschaftsbasierte Politik wird in der Lage sein, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern. 

 

Was die jungen
Wissenschaftler vorschlagen

 

Und wissenschaftsbasierte Politik, so die Young Scientists, erfordert dreierlei: Erstens Politiker, die ein Grundverständnis von und für Wissenschaft haben. Zweitens genug Wissenschaftler, die bereit sind, sich zu diesem Zweck dauerhaft in den Austausch mit der Politik und der Öffentlichkeit zu begeben. Und drittens ein Wissenschaftssystem, das den Einsatz für Wissenschaftskommunikation und Politikberatung als karriereförderlich belohnt. 

 

"Damit die Wissenschaft in die Politikgestaltung einbezogen werden kann, brauchen wir eine Kultur des Engagements. Forschende müssen für die Entwicklung und den Einsatz dieses Engagements anerkannt und belohnt werden", heißt es wörtlich in dem Aufruf, der anstatt in Davos nun erstmals im Open-Access-Blog der Frontiers Policy Labs vorgestellt wird. 

 

Ja, aber ist die Pandemie nicht ein Beispiel dafür, dass die Wissenschaft längst mit am Tisch sitzt, wenn weitreichende politische Entscheidungen getroffen werden? 

 

Ruth Morgan ist Professorin für Kriminologie und Forensik am University College in London, sie gehört zu den Young Scientists des WEF und hat den Aufruf mit formuliert. Sie sagt, zum Beispiel in Großbritannien habe es tatsächlich zunächst eine "unglaublich positive Entwicklung" gegeben. "Die Regierung hat gesagt, wir folgen der Wissenschaft beim Umgang mit der Pandemie, der Premierminister ist Seite an Seite mit den führenden wissenschaftlichen Beratern aufgetreten. Der Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE). Aber das, was die Regierung dann getan hat, zeigte, dass sie nur begrenzt dazu in der Lage war, die Botschaft der Wissenschaft aufzunehmen."

 

Die Wissenschaft sitze allzu oft eben nicht schon am Tisch, bevor ein Problem entstehe, sondern werde erst dazu gerufen, wenn die Lage schon ernst sei. "Doch das nötige Grundverständnis für eine wissenschaftsbasierte Politik entwickelt sich nur in einem andauernden, langfristigen Austausch der Wissenschaft mit der Politik."

 

Dabei sehen die Young Scientists gar nicht die Bereitschaft der Politiker zu lernen als Kernhindernis auf dem Weg zu dem nötigen Daueraustausch zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft – sondern die Verfasstheit der Wissenschaft selbst. Die Metriken, mit denen wissenschaftliche Leistungen gemessen und infolgedessen belohnt würden, seien in keiner Weise in der Lage, das Engagement für Politik und Gesellschaft abzubilden. "Die derzeitigen Maßstäbe für die Bewertung von WissenschaftlerInnen sind nicht in der Lage, die Bedeutung ihrer Wissenschaft für die laufende politische Diskussion zu erfassen", schreiben die Young Scientists. "Daher werden WissenschaftlerInnen von ihren Institutionen in der Regel nicht dafür anerkannt oder belohnt, dass sie Fähigkeiten und herausragende Leistungen im Bereich des wissenschaftspolitischen Engagements entwickeln oder Zeit für diese Aktivitäten aufwenden."

 

Keine neue Debatte – aber "bisher ist aus der
Problembeschreibung wenig Konkretes erwachsen"

 

Auf den ersten Blick nicht gerade eine neue Erkenntnis – zumindest auf Deutschland und die hiesigen Debatten über Wissenschaftskommunikation bezogen, die zum Beispiel in der von der ehemaligen Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) einberufenen "#FactoryWisskomm" stattgefunden haben. 

 

Und europaweit nimmt gerade, vorangetrieben von EU-Kommission, französischer EU-Präsidentschaft und führenden Forschungseinrichtungen, eine Initiative Fahrt auf, die neue Maßstäbe wissenschaftlicher Leistungsbewertung etablieren will – abseits der bekannten Publikationsmetriken.

 

Die Probleme seien in der Tat altbekannt, sagt Chemieprofessor und Young-Scientists-Beiratsmitglied Michael Janus Bojdys, der am King’s College in London und an der Berliner Humboldt-Universität lehrt und forscht.  "Aber bisher ist aus der Problembeschreibung auch in Deutschland wenig Konkretes erwachsen, um die Karriereanreize zu verändern." Hinzu komme, dass sich der Aufruf der Young Scientists speziell auf die Wissenschaftskommunikation beziehe. Gerade da unterschieden sich die Diskussionen stark von Land zu Land. "Was wir fordern und was in Europa gerade versucht wird, passt also gut zusammen", sagt er. 

 

Ob in Großbritannien, Deutschland oder anderswo, sagt Ruth Morgan: "Überall sind es gerade die jungen Wissenschaftler, die eine große Motivation haben, sich in den Austausch mit Politik und Gesellschaft zu begeben. Doch die jungen Wissenschaftler sind es, die unter Druck stehen, eine Dauerstelle zu erhalten – für die sie möglichst viel publizieren, daneben lehren und das Einwerben von Drittmitteln für die Forschung nachweisen müssen." 

 

Absurd sei das, sagt Morgan. "Später in der Karriere kann man sich das Engagement mehr leisten." Zum Beispiel als Young Scientists, die als zentrale Aufnahmevoraussetzung wissenschaftlich bereits unabhängig arbeiten müssen. "Solange unser Karrieresystem so funktioniert, ist Wissenschaftskommunikation ein Luxus. Und so lange bekommen wir auch nicht die Diversität von Wissenschaftlerstimmen in die Öffentlichkeit, die wir so dringend brauchen."

 

Zwei Stunden pro Woche ergeben 100 Millionen
Stunden pro Jahr, rechnen die Young Scientists vor

 

Die Vision, die die Young Scientists in ihrem Aufruf beschreiben, klingt so: "Wenn eine Million Forschende (etwa zehn Prozent des weltweit aktiven wissenschaftlichen Personals im öffentlichen Dienst) zwei Stunden pro Woche für das Engagement der Wissenschaft mit und für die Gesellschaft aufwenden würden (etwa fünf Prozent ihrer Arbeitszeit), ergäbe dies rund 100 Millionen Stunden pro Jahr, die der Wissenschaft gewidmet wären, um eine sinnvolle Zusammenarbeit mit PolitikerInnen und globalen Entscheidungstragenden zu erreichen." Und weiter: "Diese aufgewendeten Stunden könnten einen Schmetterlingseffekt auslösen, weltweit und auf Dauer."

 

Auch bei dieser Zielvorstellung stellen sich indes Fragen: Sind in Wirklichkeit nicht längst weit mehr als eine Million Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit in Wissenschaftskommunikation und Politikberatung aktiv und das vermutlich mit weit mehr als zwei Stunden pro Woche? 

 

Aber vermutlich geht es den Young Scientists gar nicht um die genauen Zahlen und die Berechnung eines Zusatzeffektes. Es geht ihnen um die plakative Feststellung, dass viel mehr möglich wäre, dass viel mehr Wissenschaftler viel mehr tun könnten und wollten – wenn das System sie denn ließe und entsprechend belohnte. Und wenn es genügend Lerngelegenheiten dafür gäbe. 

 

Der ebenfalls in Großbritannien wissenschaftlich sozialisierte heutige Direktor des Berliner Museums für Naturkunde, Johannes Vogel, sagte schon 2018 im Interview: "Wir brauchen Schools of Public Engagement, um den jungen Wissenschaftler, die ja kommunizieren wollen, die Professionalität dafür an die Hand zu geben." 

 

Und, fügte Vogel hinzu, weil nicht nur Washington Post-Journalisten die Maxime "follow the money" hätten, müsse die Politik der Wissenschaft am Ende klar sagen: "Ab jetzt werden zehn Prozent der Mittel für Wissenschaftskommunikation ausgegeben." Erst werde sich die Wissenschaft dagegen sträuben, "und in fünf Jahren freuen sich alle, als sei es immer so gewesen."

 

Vogels Vorschlag stammt aus der Zeit vor der Pandemie, und er bezog sich auf den Austausch mit der Gesellschaft, nicht explizit auf den mit der Politik. An der Frage, ob die Politik die Vergabe an Fördermittel grundsätzliche an die Verpflichtung zur Wissenschaftskommunikation knüpfen sollte, haben sich seither in Deutschland viele Diskussionen entzündet, auch in der "#FactoryWisskomm". 

 

Der schwächste
Teil im Aufruf

 

Fordern die Young Scientists ähnlich Plakativ-Provokantes, um den von ihnen verlangten Systemwechsel zu erreichen? Leider ist es der schwächste Teil in ihrem Aufruf. Es sei klar, dass es keine "One-Size-Fits-All"-Metrik geben könne, weil auch die Formen und Fertigkeiten von Wissenschaftskommunikation und Public Engagement so vielfältig seien, schreiben sie. Stimmt. 

 

Aber genau weil das so ist, stockte die öffentliche Debatte gefühlt seit Jahren genau an der Stelle. Weil kaum einer sich traute, sich mit konkreten Vorschlägen aus dem Fenster zu hängen. 

 

Immerhin spannend in dem Zusammenhang ist das "Project TARA –Tools to Advance Research Assessment", das die gängigen Metriken verändern will als Weiterführdung der vor neun Jahren in San Francisco verabschiedeten "Declaration on Research Assessment (DORA)" – auf die auch die Young Scientists in ihrem Offenen Brief hinweisen. Doch beziehen sich TARA und DORA genau wie die dazu passende EU-Initiative eben nicht speziell auf den Bereich Wissenschaftskommunikation & Co. 

 

Der aktive Austausch von Interessenvertretern aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft finde auch in Deutschland nur sporadisch statt, zum Beispiel im sogenannten Genshagener Kreis, sagt Michael Bojdys. "Wir müssen solche Foren verstetigen. Wie wäre es, wenn zum Beispiel das Humboldt-Forum ein Ort dafür würde?"

 

Am Ende gehe es doch um eines, sagt Ruth Morgan. "Die meisten Katastrophenfilme beginnen mit Wissenschaftlern, deren Warnungen von der Politik ignoriert werden. Es wäre schön, wenn wir in der Wirklichkeit zumindest über dieses Stadium sehr bald hinauskommen würden."



></body></html>

Kommentar schreiben

Kommentare: 0