Die Bologna-Studienreform ist an der Rechtswissenschaft weitgehend vorübergegangen. Jetzt zeigt die Leuphana Universität, wie es geht.
Bild: Piqsels.
ES GAB MAL EINE ZEIT, da habe ich regelmäßig über die deutsche Juristenausbildung geschrieben. In den Nullerjahren war das, als ein Fach nach dem anderen seine Abschlüsse auf Bachelor und Master umstellte. Doch zwei Disziplinen stemmten sich stärker als alle anderen gegen den Trend: die Medizin und die Rechtswissenschaft. Keiner brauche halbe Ärzte oder halbe Richter, so lautete damals eines der Standardargumente gegen die Einführung des Bachelors. Nur das Staatsexamen qualifiziere für den Arbeitsmarkt. Wirklich stichhaltig fand ich das freilich nicht.
Nicht nur landete ein großer Teil der Jura-Absolventen gar nicht in den reglementierten juristischen Berufen. Auch schaffte es ein Viertel und mehr überhaupt nicht bis zum erfolgreichen Examen. Und von denen, die eine erfolgreiche Staatsprüfung hinter sich brachten, war die Mehrheit vorher (teilweise mehrere Semester) im Repetitorium. Denn das war in den Nullerjahren noch so eine tradierte Besonderheit, die viel über die didaktischen Qualitäten des damaligen rechtswissenschaftlichen Studiums aussagte: Es setzte auf dem Weg zum Abschluss die meist privat zu bezahlende Nachhilfe voraus.
In den vergangenen zehn Jahren habe ich mich gedanklich weniger mit der Struktur der Juristenausbildung befasst. Bis mir eine Pressemitteilung auf den Tisch flatterte: Die Leuphana Universität Lüneburg gründet mit Beginn des Sommersemesters eine neue Fakultät für Staatswissenschaften. Beteiligt sind die Politikwissenschaft, die Volkswirtschaftslehre und die Rechtswissenschaft, gemeinsam sollen sie mit ihrer Forschung "die großen Transformationen unserer Zeit thematisieren", inklusive der Vorbereitung evidenzbasierter politischer Entscheidungen.
Und dann kam es: Erstmals werde ein Masterprogramm Studierenden in Deutschland die Möglichkeit geben, "sowohl einen rechtswissenschaftlichen Masterabschluss (LL.M) als auch das juristische Staatsexamen zu erwerben". Echt jetzt? Der erste deutsche Staatsexamens-Studiengang, der zugleich den Maßstäben europäischer Hochschulbildung genügt? Im Jahr 2022?
Die Abbrecherquote bleibt hoch,
private Repetitoren verdienen gut
Ob die Einzigartigkeits-Behauptung der Leuphana nun stimmt oder nicht: Auf der Seite des Juristischen Fakultätentages lässt sich nachlesen, dass 2020 knapp 92 000 Studierende in Staatsexamens-Studiengänge eingeschrieben waren und 16 300 auf Bachelor oder Master studierten. Das deutsche Staatsexamen lebt und gedeiht nach mehr als 20 Jahren Bologna immer noch. Im Gegensatz zum Studienerfolg vieler Studierenden. Die Abbrecherquote liegt weiter bei über einem Viertel, und die privaten Repetitoren verdienen gut, auch wenn mittlerweile viele Universitäten selbst Auffrischungs-Lehrveranstaltungen etabliert haben.
Denn natürlich hat sich etwas getan. Es gibt Staatsexamens-Studiengänge wie den der FU Berlin, die, auch wenn sie keinen Master verleihen, nach Bologna-Vorbild modularisiert sind. Die Studierenden machen dort einen Bachelor als Zwischenstation und haben ihn dann sicher, selbst wenn sie das Staatsexamen nicht schaffen. Und ja, es gibt auch eigenständige Jura-Bachelorprogramme, auf die man einen wissenschaftlichen Jura-Master draufsatteln kann. Aber der geregelte Übergang ohne Umwege von einem dieser Bachelorprogramme ins heilige Staatsexamen fehlt.
Die Sonderrolle lässt sich nur über den hohen Anteil von Juristen in Politik und Verwaltung erklären. Sie haben das Jura-Studium geschafft, darum halten sie es für einen Ausweis von Qualität und wehren sich auf einflussreichen Positionen gegen grundlegende Veränderungen.
Das hat nicht nur Folgen für die Struktur des Jurastudiums. Meine – zugegebenermaßen spitze – These: Die Orientierung der Studieninhalte an staatlichen Bedarfen, Verfahrensweisen und Denklogiken, verbunden mit der hohen Zahl von Jura-Absolventen, hat zu einer Formalisierung, Bürokratisierung und Risikoaversität staatlicher wie unternehmerischer Entscheidungsprozesse beigetragen, die selbst viele Juristen beklagen.
Wer das Jurastudium reformiert, reformiert insofern auch unsere Gesellschaft.
Der Kommentar erschien heute zuerst in leicht kürzerer Fassung in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
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Noch 'ne Hanna (Montag, 21 März 2022 09:02)
"Meine – zugegebenermaßen spitze – These: Die Orientierung der Studieninhalte an staatlichen Bedarfen, Verfahrensweisen und Denklogiken, verbunden mit der hohen Zahl von Jura-Absolventen, hat zu einer Formalisierung, Bürokratisierung und Risikoaversität staatlicher wie unternehmerischer Entscheidungsprozesse beigetragen, die selbst viele Juristen beklagen."
Gegenthese von einer Nicht-Juristin: Au contraire. Wir brauchen nicht weniger Volljurist*innen in den staatlichen Entscheidungsprozessen, sondern mehr. Die spezifische Stärke von Volljurist*innen besteht darin, dass sie im Rahmen ihrer Ausbildung lernen, Gesetze so zu akzeptieren und hinzunehmen, wie sie eben sind, statt eigenmächtige Korrekturen vorzunehmen, weil sie subjektiv der Auffassung sind, dass z.B. das Steuerrecht ganz anders ausgestaltet sein sollte. Und das ist ein Garant dafür, dass die staatlichen Entscheidungsprozesse demokratisch bleiben: Der demokratisch gewählte Gesetzgeber macht die Gesetze und organisationsinterne Volljurist*innen tragen Sorge dafür, dass sie so umgesetzt werden, wie der Gesetzgeber das gewollt hat. So werden exekutiven Entscheidungsträger*innen, wie Rektor*innen und Minister*innen, die meistens aus anderen Disziplinen kommen, die notwendigen Grenzen gesetzt. Beispiel Kapazitätsberechnung, die laut BVerfG als "wesentliche" Weichenstellung nicht in das alleinige Ermessen der Hochschulen fallen darf, um die Berufswahlfreiheit der Studierenden nicht unnötig zu beschränken: Wenn sie könnten, würden die Rektor*innen gerne teure Medizinstudienplätze abbauen und stattdessen mehr billige Studienplätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften und dafür drittmittelstarke biomedizinische Forschung vorhalten. Das würde aber die Noch-nicht-Medizinstudierenden benachteiligen, deren Interessen von den Rektor*innen in ihrem Kalkül naheliegenderweise nicht berücksichtigt werden. Dafür gibt es interne Volljurist*innen, die sicherstellen, dass die Rektor*innen nicht jede Zielvorstellung ohne Berücksichtigung gesetzlich geschützter externer Dritter auch umsetzen können. Das können nur Volljurist*innen, nicht wegen des Staatsexamens, sondern wegen des Referendariats: Es ist das praktische Einübung der juristischen Methode in der Rechtsanwendung, das den Unterschied macht, nicht die Ausgestaltung der Prüfung, die das Studium abschließt.
WB (Montag, 21 März 2022 10:57)
Man sollte die Funktion des Staatsexamen als Ermöglichen für Diversität nicht unterschätzen: Doppelprädikat und man ist drin. Ohne bekommen wir ganz schnell ENArchen und Classics-belesene Sir Humphreys. Davon ab, ist das Erste Examen im Vergleich zum Zweiten Kindergarten. Wenn man was ändern wollte, wären das Dinge wie Prozessrecht und Relation schon in der Uni zu unterrichten, damit das Dauergenerve mit X Mindermeinungen aufhört und die Last besser zwischrn beiden verteilt.
McFischer (Montag, 21 März 2022 16:44)
@Noch 'ne Hanna
Es gibt sicherlich gute Gründe, "Volljurist/innen" beizubehalten. Ihr Argument
Die spezifische Stärke von Volljurist*innen besteht darin, dass sie im Rahmen ihrer Ausbildung lernen, Gesetze so zu akzeptieren und hinzunehmen, wie sie eben sind, statt eigenmächtige Korrekturen vorzunehmen..."
trägt hier aber nicht sehr weit. Es reduziert (Voll)Juristen zu willenlosen Bürokratie-Maschinen - das sind sie natürlich (und glücklicherweise) nicht. Kein Familienrichter, keine Verfassungsrichterin kommt weit damit, "Gesetze hinzunehmen". Wie Sie ja selbst am - irgendwie wenig passenden - Beispiel Kapazitätsberechnung zeigen: dass die Verfassungsjurist*innen so entschieden haben, war ja nicht vorgegeben.
Noch 'ne Hanna (Dienstag, 22 März 2022 09:25)
"Es reduziert (Voll)Juristen zu willenlosen Bürokratie-Maschinen - das sind sie natürlich (und glücklicherweise) nicht."
Wenn der Eindruck entstanden ist, dann liegt das daran, dass es in einem Forum natürlich Verkürzungen gibt. Ich habe eher gemeint, dass Jurist*innen in der Tendenz durch die ständige Beschäftigung mit dem Wortlaut von Gesetzestexten eher dazu befähigt sind, den Wunsch des Gesetzgebers zu respektieren, indem sie ihn auslegen, aber eben auch die methodische Kompetenz haben, zu erkennen, wann sie mit der Auslegung zu weit gehen. Das ist die Fähigkeit, die Nicht-Jurist*innen fehlt, die eher dazu neigen, die kleinen Formulierungsunterschiede, die in Gesetzestexten eine so große Rolle spielen, zu übersehen.
JW (Dienstag, 22 März 2022 12:15)
Als Person, die beide Examen hat, kann ich die pauschalen Thesen nicht so recht nachvollziehen. Ich denke es bedarf einer sehr differenzierten Sichtweise:
1. BSc/MSc und Staatsexamen sind - wenn man es richtig konzipiert - zwei Paar Schuhe, die völlig unterschiedliche Bedarfe abdecken können und müssen.
2. Eine fundierte, auf die reglementierten Berufe ausgerichtete Juristenausbildung ist zur Gewährleistung einer funktionierenden Exekutive und Judikative unerlässlich.
3. Die Juristenausbildung sollte nicht die gleichen Fehler machen, wie andere staatlich reglementierte Berufe und nur um der Umstellung auf Bologna Willen auch tatsächlich umstellen. Das führt nicht zu mehr Qualität bei den Abschlüssen, sondern allein zu mehr Bürokratie.
4. Diskussionen über die Struktur der Juristenausbildung sind natürlich fortlaufend notwendig. Die Kritik ist ja (teilweise) berechtigt, wenngleich die Bedeutung der Repetitorien allein wegen der Bedeutung der Examensnoten fortbestehen wird.
5. Auch Absolvent*innen der klassischen Juristenausbildung sind zur Initiierung von und zur Mitwirkung an großen gesellschaftlichen Reformen Willens und fähig, wenn man sie denn lässt...
Michael Kroeher (Mittwoch, 23 März 2022 11:14)
Ich bin kein Experte für juristische Ausbildungsgänge. Doch sollte hier, so denke ich, die Alternative der (privaten) Bucerius Law School nicht unerwähnt bleiben: Die Studierenden schließen mit einem juristischen Bachelor (LLB) und dem ersten juristischen Staatsexamen ab. Eine, wie mir scheint, attraktive Kombination, von der sich das Leuphana-Konzept offenbar einiges abgeschaut hat.
DA (Mittwoch, 23 März 2022 13:47)
Aus meiner Sicht ist es eine positive Entwicklung, dass es (auch) in Niedersachsen offenbar gelungen ist, einen alternativen Weg in die erste juristische (Staats-)Prüfung zu ebnen.
Mit Blick auf die Organisation des Studiums ist es auch erst einmal relativ egal, ob man an einem generalistischen Curriculum festhalten mag, das fast ausschließlich die Bedürfnisse von Richter- und Staatsanwaltschaft bedient (das könnten auch Bachelor und Master leisten), und in dem sowohl andere berufliche Einmündungen als auch tatsächlich rechts*wissenschaftliche* Kompetenz regelmäßig (zu) kurz kommen. Diese Diskussion ist und bleibt festgefahren; im Unterschied zur Medizin dürfte es hier dennoch vergleichsweise leicht sein, LL.B.-Studiengänge zu konzipieren, deren Absolvent*innen auch ohne anschließende Studien "employable" wären.
(Das hat durchaus auch damit zu tun, dass die meisten Jura-Studiengänge aktuell nichts anderes als das Äquivalent eines maximal 8-semestrigen Bachelors mit angeflanschtem Klausuren-/Examensvorbereitungskurs sind. Bucerius kaschiert das in seiner Übersetzung ein wenig durch das Trimester-Modell, in Lüneburg muss man berücksichtigen, dass der Rechtswissenschaften-Major im Bachelor nur 90 von 180 ECTS ausmacht.)
Den etablierten Juristischen Fakultäten fällt es natürlich auch schwer, aus eigenem Antrieb und ohne Not andere Wege zu gehen. Die in Berlin/Brandenburg etablierten Modelle der "integrierten" Bachelor (die unverständlicherweise teils ausschließlich als Exit-Strategie für gescheiterte Jura-Studierende verkauft werden) wären ein guter Weg, die Strukturen auch andernorts zu lockern und für Studieninteressierte attraktiver zu werden; leider scheitert das mitunter schon daran, dass die Ministerien anderer Länder nur "parallele" Lösungen zulassen mögen.
HX (Mittwoch, 23 März 2022 22:25)
@DA
Am Ende könne die Unis ihre Studiengänge nennen wie sie wollen, praktisch von Bedeutung sind ausschließlich die Ausbildungsvorgaben des DRiG. Das Erste Staatsexamen ist letztlich nicht mehr als eine staatliche Eingangsprüfung für das Referendariat und damit zentraler Meilenstein auf dem Weg zum beruflich relevanten Assessorexamen.